Kapitel 23

Pippa wartete in aller Frühe auf der Terrasse vor dem Wintergarten auf Régine-Deux und genoss die Aussicht auf den Lac Chantilly. Über dem See lag milchiger Dunst und verstärkte die friedvolle Stille der Landschaft. In ein paar Stunden würde es dort unten von Wochenendausflüglern wimmeln, aber jetzt gab es nur ein paar Angler, die auf frühen Fang hofften. Sie sog tief die frische Luft ein und freute sich auf den Ausflug, den Besuch in der Galerie, auf das Treffen mit Pia – und darauf, das Böse der vergangenen Tage in Toulouse einmal ganz zu vergessen.

Pardon, Régine, ich meine natürlich Tolosa, korrigierte sie sich innerlich.

Sie drehte sich um, als sie hinter sich Régine hörte, die ihre kleine Vespa aus der riesigen Garage hinter dem Haus nach draußen schob.

»Vielleicht sollten Sie besser vorsichtig sein – wenn ich mit Oldtimern in Berührung komme, ist das für die gar nicht gesund«, sagte Pippa und deutete auf den Roller.

Régine schnaubte. »Pah – Pascals HY ist zwar ein Oldtimer, aber meine Vespa ist ein echter Klassiker und hält mich schon seit fünfundzwanzig Jahren aus. Und die bringt Sie jetzt auch sicher die zwanzig Kilometer zum Bahnhof von Castelnaudary. Dort werden weder die Kiemenkerle noch Ihr Mann Sie vermuten.«

Pippa blickte misstrauisch auf das klapprig wirkende Zweirad und schaffte es gerade noch, den Halbschalenhelm aufzufangen, den Régine ihr zuwarf.

»Haben Sie Ihre Freundin noch erreicht?«, fragte Régine.

Pippa nickte. »Gestern Abend. Sie kommt direkt ins Café Le Wallace auf dem Place Saint-Georges.«

»Plaça de Sant-Jòrdi«, korrigierte Régine.

»Dahin auch«, gab Pippa grinsend zurück. Den Namen vergesse ich bestimmt nicht, dachte sie, schließlich stand er auch in der Nachricht auf Geralds Smartphone.

Sie zog sich die Baskenmütze vom Kopf und verstaute sie in ihrer Umhängetasche. Dann setzte sie sich den Helm auf und nestelte ungeschickt am Verschlussmechanismus unter ihrem Kinn. »Verdammt! Régine …?« Pippa hob hilflos die Hände.

Régine bockte den Roller auf und kam ihr zu Hilfe. »Nicht vergessen«, sagte sie, »Tisch 3 draußen in der geschützten Ecke unter der Markise ist für euch reserviert. Einfach hinsetzen, und der beste Kaffee der Welt kommt pronto. Und bitte grüßen Sie die Bedienung von mir.«

»Welche?«

»Ganz gleich – die kennen mich alle.« Lachend schwang Régine sich auf die Vespa. »Aufsitzen, meine Liebe. Es kann losgehen.« Sie deutete mit dem Daumen hinter sich auf das winzige Stück Rückbank, das noch freigeblieben war.

Pippa merkte schnell, dass Régine weder ihre Vespa noch ihre Sozia schonte. In halsbrecherischem Tempo knatterte sie durch Kurven, Steigungen hinauf und Gefälle hinunter, wobei sie die Mitte der Straße bevorzugte. Pippa hatte die Arme um Régines Leibesmitte geschlungen und war damit beschäftigt, nicht vom Sitz zu fallen.

Während der Fahrt redete Régine wie ein Wasserfall und sah sich immer wieder gestikulierend nach Pippa um, die ihre Antworten auf die Fragen ihrer Chauffeuse über das Röhren des Motors hinweg nach vorne brüllte.

»Schauen Sie, wir haben gleich Castelnaudary erreicht! Ich hoffe, Sie kriegen den Zug noch!«, schrie Régine und ließ zu Pippas Entsetzen den Lenker los, um den Ärmel zurückzuschieben und auf ihre Armbanduhr zu sehen. Der Roller machte einen kleinen Schlenker, der Pippas Magen sekundenlang revoltieren ließ.

Régine brachte die Vespa wieder unter Kontrolle und fuhr ungerührt fort: »Castelnaudary ist die Hauptstadt des Cassoulet. Dort gibt es den berühmten Eintopf an jeder Ecke. Ganz gleich, ob Sie ihn mit Schweinefleisch bevorzugen oder lieber Lamm, Gans oder Ente mögen – hier schmeckt er immer.«

»Klingt verlockend«, keuchte Pippa, der das Herz noch immer bis zum Hals schlug.

»Dann sollen Sie ihn haben. Ein gutes Cassoulet braucht mindestens sieben Stunden, das schaffe ich noch. Heute Abend bekommen Sie eines – mit den traditionellen sieben Krusten. Das wird auch meine neuen Gäste freuen. Die Damen sind ganz wild auf meinen Bohneneintopf!«

Viele der entgegenkommenden Autos hupten. Zuerst hielt Pippa das für lautstarken Protest gegen Régines unkonventionellen Fahrstil, aber sie merkte schnell, dass es sich um freundliche Begrüßung handelte.

»Kennt Sie hier jeder?«, brüllte Pippa.

»Allerdings! Ich setze mich ehrenamtlich für die Erhaltung der okzitanischen Sprache ein und erzähle im Winter in den Kindergärten und Grundschulen Geschichten und Märchen auf Okzitanisch«, erzählte Régine stolz. »Ich habe einen Verein gegründet: Visca Occitània.«

»Es lebe Okzitanien?«

»Stimmt. Mitglied können alle werden, die Sprache und Kultur unserer Region unterstützen wollen.«

»Hat der Verein viele Mitglieder?«

»Auf jeden Fall mich! Das zählt doppelt.« Régine lachte laut. »Ich rede für zwei.«

Der Stadtverkehr zwang Régine, das Tempo zu drosseln, und so konnte sie Pippa in fast normaler Lautstärke einen offenbar häufig referierten Vortrag über das Okzitanische und seine Verbreitung in Frankreich, Italien, Spanien bis hin nach North Carolina und Argentinien halten.

Pippa hörte interessiert zu, wartete aber darauf, selbst eine Frage zu stellen. Als Régine den Gruß eines entgegenkommenden Rollerfahrers erwiderte, nutzte sie die Gelegenheit.

»Kochen Sie eigentlich auch für andere Gäste? Die nicht bei Ihnen logieren? Ich könnte mir vorstellen, dass die Kiemenkerle über ein richtiges Cassoulet als Abschiedsessen begeistert wären.«

»Das ist leider nicht erlaubt – ich darf nur verköstigen, wer auch bei mir übernachtet. Aber ich gebe oft einiges an das Bonace weiter. Und früher habe ich bei Feiern auch für das Vent Fou gekocht. Aber seit Pascal da ist, ist das nicht mehr nötig. Fragen Sie doch ihn. Ich bin sicher, er fabriziert eine köstliche Variante.«

Unvermittelt beschleunigte Régine, um einen Lastwagen zu überholen, und Pippa konnte sich gerade noch festklammern. Der Motor der Vespa röhrte protestierend, und Pippa war gezwungen, ihre nächste Frage in höchster Lautstärke zu brüllen.

»Wie ist Pascal eigentlich ins Vent Fou gekommen? So eine attraktive Lebensstellung steht doch bestimmt nicht einfach in der Hotel- und Gaststättenzeitung?«

Sie zogen am Lastwagen vorbei, und Régine scherte mit kühnem Schwung vor ihm ein und verlangsamte das Tempo wieder.

»Lisette und Ferdinand suchten einen Nachfolger, der gut kochen kann, den Chantilly akzeptiert und der möglichst aus ihrer Heimat stammt«, antwortete sie. »Das alles trifft auf Pascal zu. Deshalb habe ich ihn empfohlen.«

Pippa dachte, sie hätte sich verhört, und fragte verblüfft: »Sie haben ihn empfohlen? Ja, kennen Sie Pascal denn schon länger?«

»Er hat öfter bei mir Urlaub gemacht. Immer, wenn er gemeinsam mit einem Freund die Weingüter der Cabardès bereiste. Bei diesen Gelegenheiten haben wir häufig zusammen gekocht. Er ist ein Meister.« Sie lachte herzlich. »Wenn er tut, was ich sage!«

Régine konzentrierte sich auf den Verkehr an einer Kreuzung und gab Pippa so Gelegenheit, das Gehörte zu verdauen. Als sie weiterfuhren, sagte Pippa vorsichtig: »Sie sind doch mit Cateline befreundet. War es da kein Problem, dass ausgerechnet Sie den Legrands einen Konkurrenten um das Vent Fou vorgeschlagen haben?«

Régine zögerte einen Moment mit ihrer Antwort. Dann sagte sie: »Ich habe einen Koch vorgeschlagen – keinen Konkurrenten. Früher oder später wird sie das begreifen.«

»Also wissen Sie nichts über sein Vorleben? Cateline hat Ihnen nichts gesagt?«

Sie hatten den Bahnhof erreicht. Régine bog schwungvoll auf den Vorplatz ein, bremste und nahm ihren Helm ab. Sie drehte sich zu Pippa um und sah sie ernst an.

»Sein Vorleben? Die Vergangenheit interessiert mich nicht. Viel zu viele Leute leben immer im Rückblick statt in Rücksicht anderen gegenüber. Ich nicht. Ich will nicht wissen, welche Suppe er sich früher einmal eingebrockt hat. Ich will essen, was er heute kocht.«

Pippa nickte nachdenklich. Das war eine der nettesten Zurechtweisungen, die sie je bekommen hatte. Und sie war fest entschlossen, sie sich zu merken und danach zu handeln.

Als sie auf den Bahnsteig traten, wurde die Einfahrt des Zuges über die Lautsprecher bereits angekündigt. Sie sahen sich um, konnten aber unter den wenigen wartenden Reisenden kein bekanntes Gesicht entdecken.

»Haben Sie alle Unterlagen, die ich Ihnen gegeben habe?«, fragte Régine fürsorglich.

Pippa klopfte auf ihre Umhängetasche und zählte auf: »Stadtplan, Eintrittskarte, Kleingeld, frisches Taschentuch und ein Regenschirm.«

»Den werden Sie auch brauchen«, sagte Régine nach einem prüfenden Blick zum Himmel. Dann sah sie auf die Bahnhofsuhr. »Aber erst ab 17 Uhr, vorher nicht. Den Tag über werden Sie wunderbares Wetter haben.«

Pippa sah nichts als wolkenlosen, strahlend blauen Himmel und wunderte sich einmal mehr über die Fähigkeiten der einheimischen Bevölkerung, unsichtbare Vorboten für Regen zu erkennen.

Der Zug fuhr ein und hielt mit kreischenden Bremsen. Régine schrie gegen den Lärm an: »Nicht vergessen: um 18 Uhr am Flughafen! Mit der Maschine aus Frankfurt kommen Gäste von mir an, und Sie benutzen mit ihnen den Transfer zurück zum Paradies.«

»Wie erkenne ich den Fahrer?«

»Keine Angst – das werden Sie. Oder besser: Er wird Sie erkennen und Sie alle sicher zu mir bringen.«

Herrlich, dachte Pippa, ich muss mich um rein gar nichts kümmern – alles ist perfekt organisiert. Sogar die Rückfahrt nach Chantilly!

»Kein Wunder, dass Ihre Gäste immer zu Ihnen zurückkommen – so wie Sie für uns sorgen«, sagte sie dankbar.

Ein Signal ertönte, gefolgt von der Aufforderung, einzusteigen und die Türen zu schließen.

Régine, die vor Freude über das Kompliment tief errötet war, schob Pippa in den Zug. »Und jetzt ab mit Ihnen – genießen Sie unsere Hauptstadt.«

Während der Bahnfahrt starrte Pippa aus dem Fenster, ohne viel von der Landschaft wahrzunehmen. Das Gespräch mit Régine vom Vorabend ließ sie nicht los. Hatte Wolfgang tatsächlich etwas zu verbergen?

Warum bin ich nicht auf die Idee gekommen, ihn zu fragen, wieso er sich von der französischen Polizei so leicht hat abspeisen lassen?, dachte sie verwirrt. Was soll nicht herauskommen? Hat seine Zuneigung zu Tatjana damit zu tun? Interessiert ihn alles nur noch im direkten Zusammenhang mit ihr?

Pippa schüttelte den Kopf. Sie mochte nicht glauben, dass das der Grund sein sollte. Und wenn doch? Tatjana hatte sich nicht für Teschke interessiert – also interessierte Wolfgang sich auch nicht für ihn? Oder war das Gegenteil der Fall?

Und seine Freunde anlügen konnte er auch, so viel stand fest. Immerhin behauptete er seit einem Jahr, mit Pippa eine Affäre zu haben, um von seiner wahren Liebe abzulenken.

Wieder schüttelte sie den Kopf. Heute soll mir das alles egal sein, dachte sie, heute will ich mich nur amüsieren und Kultur genießen: Tolosa, ich komme!

Sie zog den Stadtplan aus der Tasche, fuhr mit dem Finger die gelb eingezeichnete Route nach und vertiefte sich in die Erklärungen und Empfehlungen, die Régine ihr dazu aufgeschrieben hatte.

Nach weniger als einer Stunde trat Pippa in Toulouse auf den Bahnhofsvorplatz und sah sich nach der automatischen Fahrradverleihstation um, die Régine ihr ans Herz gelegt hatte. In einer langen Reihe standen silberne Fahrräder mit leuchtend roter Abdeckung über den Hinterrädern, die für ein paar Euro benutzt werden konnten. Sie schnappte sich eines davon, schwang sich in den Sattel und gondelte los. Beinahe kam sie sich vor wie zu Hause in Berlin, während sie durch die Straßen kreuzte und weiteren Radlern begegnete, von denen viele ebenfalls mit einem Leihfahrrad aus einer der zahlreichen Stationen in der Innenstadt unterwegs waren. Endlich fühlte sie sich einmal völlig frei und unkontrolliert.

Mühelos fand sie den ruhigen Place Saint-Georges. Er war gepflastert und von Häusern umgeben, wo im Erdgeschoss gastronomische Betriebe mit Tischen im Freien lockten. Pia saß auf einer Bank in der Mitte des Platzes und winkte ihr schon von weitem zu. Pippa stellte das Rad ab und umarmte die Freundin.

»Für uns ist im Le Wallace ein Tisch reserviert«, sagte Pippa und zog Pia mit sich zur großen Kaffeebar. Sie suchten auf der Außenterrasse nach Tisch 3 und setzten sich.

Ein Kellner servierte unaufgefordert den von Régine versprochenen Kaffee, der sich tatsächlich als vorzüglich herausstellte.

»Wie läuft es auf der Baustelle?«, wollte Pia wissen.

Pippa lachte. »Seit unserem Gespräch gestern Abend sind meines Wissens keine Katastrophen passiert. Alles bestens.«

»Und du denkst wirklich, dass es Leo ist, der sich heute mit dir treffen will?« Pia wiegte den Kopf. »Ich habe da meine Bedenken. Vielleicht ist es auch jemand, der dich einfach mal einen Tag aus Chantilly weglocken will, um dich vom Hals zu haben. Genug Staub hast du ja aufgewirbelt.«

»Wohl eher Schlamm als Staub«, sagte Pippa, »und das gleich in zwei Fällen.«

»Bist du sicher, dass die beiden Fälle nicht zusammengehören?«, fragte Pia mit Spannung in der Stimme.

Die Frage überraschte Pippa für einen Moment, aber dann nickte sie. »Ziemlich sicher. Warum sollte der Mord an einem Berliner Rentner etwas mit dem Verschwinden von Jean Didier zu tun haben? Außerdem: Franz Teschke hat sich nicht einmal an den Nachforschungen über Didier beteiligt!«

»Vielleicht hat er es ja doch getan, und du weißt es nur nicht«, gab Pia zu bedenken. »Was, wenn er sein neu erworbenes Wissen versilbern wollte und damit an den Falschen geraten ist?«

Pippa starrte die Freundin entgeistert an. »Erpressung?«

»Warum denn nicht?« Pia zuckte mit den Schultern. »Wer anderen eine Grube gräbt …«

»Das wäre natürlich möglich«, sagte Pippa nachdenklich, »aber dann müsste ich auch die Legrands und die Didiers als Verdächtige in Betracht ziehen. O nein, daran will ich nicht einmal denken.«

»In was habe ich dich da nur hineinmanövriert! Ich mache mir wirklich Vorwürfe.« Pia ergriff Pippas Arm. »Bitte hör auf zu ermitteln. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir etwas passiert. Und Karin mir erst recht nicht.«

Pippa runzelte die Stirn. »Du hast sie informiert? Wunderbar – alles, was ich aus gutem Grund verschweige, wird zuverlässig von anderen nach Berlin gemeldet.«

»Was denkst du denn? Dass ich seelenruhig zusehe, wenn ein zu allem entschlossener Mörder dich durch eine wassergefüllte Bobbahn schickt?« Pia war sichtlich in Sorge. »Ich musste mich einfach mit Karin beraten: über Teschkes Tod, die Anschläge auf dich, einfach alles.«

»Dann habt ihr sicher die ganze Nacht telefoniert. Ein Wunder, dass du jetzt schon hier sitzt.«

»Musste ich. Auftrag von Karin.« Pia holte tief Luft. »Wir sind der Meinung, dass du Schmidt alle weiteren Ermittlungen zu Teschke überlassen sollst. Halte dich ganz aus dem Fall heraus. Kümmere dich einfach nur noch um die Baustelle und um deine Übersetzungen.«

»Und wie soll das noch gehen?« Pippa schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich eine solche Entscheidung in die Zeitung setzen lassen würde – der Mörder sieht mich bereits als Bedrohung an. Ich muss weitermachen. Die Flucht nach vorn ist die einzige Lösung.«

»Das haben wir nicht bedacht.« Pia rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Du bist bereits in sein Visier geraten. Es bleibt also nichts anderes übrig, als weiterzubohren: bei den Legrands und den Didiers.«

»Genau. Immerhin kenne ich Catelines Alibi – sie war mit Tatjana und mir schwimmen und danach den Rest der Nacht in meiner Wohnung.«

»Und davor? Woher kam sie, als ihr euch begegnet seid? Direkt von zu Hause?«

Pippa versuchte vergeblich, Pias durchdringenden Blick zu ignorieren, und seufzte. »Du meinst, sie hat Cedric nur bei mir entdeckt, weil sie sowieso unterwegs war? Ach, Pia, ich werde noch wahnsinnig. Darf man denn nichts glauben, was man hört, sieht oder gesagt bekommt? Kann alles Lüge sein?«

»Weißt du, seit den Todesfällen auf Schreberwerder habe ich mir angewöhnt, erst einmal alles infrage zu stellen.« Pia lachte leise. »Aber ich vertraue darauf, dass du immer den Weg zu den richtigen Antworten findest.«

»Die Blumen nehme ich dankend an, befürchte aber, dass sie diesmal welken werden.«

»Dann lass dir doch helfen.«

Pippa schüttelte den Kopf. »Das habe ich ja leider versucht – und alles wurde nur noch schlimmer.«

»Dann lies doch mal wieder. Beim Lesen kommst du doch immer auf gute Gedanken. Auf Schreberwerder hat dir Kästner geholfen, in Hideaway war es Shakespeare – diesmal solltest du auf Hemingway hören.«

»Du meinst, meine Kiemenkerle und Der alte Mann und das Meer

»So ungefähr.« Pia sah sie eindringlich an. »Auf jeden Fall versprich mir, dass du vorsichtig bist. Ruf Karin oder mich ab jetzt jeden Tag an und erstatte Bericht. Und wenn du mich brauchst: Ich lasse alles stehen und liegen und komme sofort. Vergiss das nicht.«

Pippa drückte Pias Hand und genoss das Gefühl echter Freundschaft.

Sie schlürften ihren Kaffee und beobachteten müßig das bunte Treiben auf dem Platz, als Pippa plötzlich den Hals in Richtung Straße reckte.

»Das glaube ich jetzt nicht! Das ist doch Tatjana! Was macht die denn hier?« Pippa sprang auf und rief: »Hallo, Tatjana! Hier!«

Sie wedelte mit der Hand, um Tatjanas Aufmerksamkeit zu erringen. Diese nickte und kam rasch zum Tisch herüber.

Sie wirkte angespannt und in sich gekehrt, sagte aber freundlich: »Hier steckst du also – in Toulouse. Ich habe dich schon vermisst. Du hast dich rargemacht.« Sie nickte Pia grüßend zu. »Beneidenswert, eine Freundin hier zu haben, die du mal für ein paar Tage besuchen kannst.«

Eigentlich bist du diejenige, die sich rargemacht hat, dachte Pippa, du warst nicht einmal beim Picknick auf dem Berg.

»Bist du mit dem Bus hergekommen?«, fragte Pippa.

Tatjana schüttelte den Kopf. »Mit dem Auto, ich hatte eine Mitfahrgelegenheit. Ich muss hier etwas erledigen.«

»Ich habe heute Abend einen Transfer zurück nach Chantilly – willst du mit? Ich bin sicher, das geht. Anruf genügt.«

Wieder schüttelte Tatjana den Kopf. »Danke, nicht nötig. Mein Bekannter nimmt mich wieder mit zurück.«

Dabei dürfte es sich nicht um Gerald handeln, dachte Pippa und fragte: »Hast du deinem Mann schon mein Malheur mit seinem Smartphone gebeichtet?«

»Noch nicht. Ich besorge ihm gerade Ersatz. Den wird er nicht wieder vergessen. Nirgendwo.« Sie blickte hektisch auf ihre Armbanduhr. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich muss los. Eine Verabredung.«

Sie ging quer über den Platz auf ein gegenüberliegendes Gebäude zu und verschwand in einem Torbogen.

Pia sah ihr mit zusammengekniffenen Augen nach. »Nervöse junge Dame.« Sie seufzte. »Trotzdem ist Verabredung auch mein Stichwort. Du hast in Toulouse noch einiges zu entdecken, und ich habe Bonnie versprochen, dass wir heute zusammen durch die Kaufhäuser streifen und sie neu einkleiden.«

»Verstehe: Der Besuch von Sven und Lisa steht an.«

Pia verdrehte die Augen. »Als ob es bei uns zu Hause noch irgendein anderes Thema gäbe.«

Pippa lachte amüsiert. »Angebot: Du kannst einzelne Exemplare oder das ganze Geschwader ruhig ein paar Tage zu mir schicken, dann sehe ich wenigstens meine Patenkinder mal wieder. Bis sie kommen, sollte ich mit meiner Übersetzung so gut wie fertig sein.«

Pia nickte anerkennend. »Kiemenkerle, Blinkerbabys – und dann noch vier Teenager außer Rand und Band. Du schreckst wirklich vor nichts zurück. Dafür zahle ich unseren Kaffee.« Pia legte Geld auf den Tisch. Dann zog sie einen Umschlag aus der Handtasche und gab ihn Pippa. »Der ist für Tibor. Ich … schulde ihm noch etwas …«

»Sag nicht, dass du mit ihm gewettet hast!«, rief Pippa entgeistert.

Pias schuldbewusster Blick war Antwort genug.

»O nein«, sagte Pippa kichernd. »Spuck es aus: Worum ging es?«

»Um die Verlässlichkeit hiesiger Lieferanten im Bereich Sanitärbedarf«, gab Pia zerknirscht Auskunft. »Ich habe Tibors Insiderwissen dramatisch unterschätzt. Für ihn waren die blauen Fliesen fürs Bad in Matt keine Überraschung.«

Nachdem Pia sich verabschiedet hatte, schob Pippa ihr Leihfahrrad auf das gegenüberliegende Gebäude zu. Sie spielte mit dem Gedanken, auf Tatjana zu warten, um sie zu fragen, ob sie Lust auf einen Galeriebesuch hätte. Im Inneren des Torbogens entdeckte Pippa ein Hinweisschild und ging neugierig darauf zu. »Privatklinik Saint-Georges«, las sie murmelnd die Aufschrift und sog dann scharf die Luft ein. Es handelte sich um eine Klinik für Menschen, die sich ein Kind wünschten und ohne ärztliche Hilfe keines bekommen konnten.

Oha, dachte Pippa betroffen, daher weht der Wind. Das wird länger dauern, und ganz sicher ist Tatjana nach diesem Termin auch nicht unbedingt nach Gesellschaft zumute.

Sie fuhr das kurze Stück hinunter bis zur Rue Metz und dann direkt vor das L’Hôtel d’Assézat, das die Fondation Bemberg beherbergte. An der Leihstation gegenüber gab sie ihr Fahrrad zurück, ging dann in den Innenhof des prächtigen Gebäudes und blickte sich staunend um. Auf zweisprachigen Tafeln erfuhr sie alles Wissenswerte über die Geschichte des Bauwerks und stellte erfreut fest, dass sie durch ihre Italienisch- und Französischkenntnisse viel mehr Okzitanisch verstand als gedacht.

Meine Güte, diese Pracht ist schon 1555 entstanden, dachte Pippa beeindruckt. Die Kaufleute müssen mit Pastel wirklich ein Vermögen verdient haben, wenn sie sich derart prunkvolle Paläste bauen konnten.

Sie stieg eine Steintreppe zu zwei steinernen Löwen hinauf und schaute sich noch einmal im Innenhof um. Rechts von ihr, auf Höhe des ersten Stockwerkes, führte ein Laubengang an einer Backsteinwand entlang, die sie spontan an ähnliche Gänge in Italien erinnerte. Leo …

Energisch schüttelte sie die Gedanken an ihn ab und betrat das Gebäude.

»Der Rundgang beginnt eine Treppe über uns im venezianischen Zimmer, Madame«, sagte der Museumsangestellte freundlich.

Denkste, Leo, dachte Pippa, nicht Venedig. Ich mache es anders. Ich beginne ganz oben und schaue mir Bonnard und seine Mitstreiter an, und dann gehe ich die Säle in umgekehrter Reihenfolge zurück. Solltest du tatsächlich im venezianischen Zimmer auf mich warten, hast du bis dahin längst die Geduld verloren.

Sie begab sich direkt in den Saal, der ausschließlich Pierre Bonnard gewidmet war. Auf der Schwelle zögerte sie: Eine Schulklasse saß am Boden und lauschte den Ausführungen ihres Lehrers. Eigentlich hatte Pippa sich auf stille Momente vor farbenprächtigen Bildern gefreut, statt einer Meute Jugendlicher zu begegnen. Sie erkannte aber rasch, dass sie entgegen ihres ersten Eindrucks das große Los gezogen hatte, denn der Pädagoge erzählte spannend und lehrreich von Bonnards geschickter Verwendung des Lichts, seiner Liebe zur Malerei des Gefühls statt der Theorie und seiner grenzenlosen Farbausgelassenheit.

Neugierig folgte Pippa der Gruppe von Raum zu Raum. Dabei lernte sie auch einiges über die Maler um Bonnard, und als der Lehrer seine Schüler aufforderte, sich ein Bild zur näheren Betrachtung auszusuchen, sagte er etwas, was sie hellhörig und nachdenklich zugleich werden ließ: »Seht euch das Bild genau an und fühlt die Wirkung auf euch selbst. Es ist im Bild nicht immer das vorhanden, was wir darin zu sehen glauben. Wir selbst bringen unsere Geschichte mit, und unser Blick interpretiert aufgrund unserer eigenen Welt. Eure Gedanken und Gefühle sind immer echt und wahrhaftig, denn sie gehören ganz euch – das heißt aber nicht, dass der Maler oder der Künstler mit seinem Werk sagen wollte, was ihr in das Bild hineininterpretiert. Macht euch also klar, dass es immer zwei Bilder gibt: das eine, das ihr seht, und das andere, das der Künstler gemalt hat.«

Uff, dachte Pippa, das trifft nicht nur auf die Interpretation von Bildern zu. Auch ich schleppe die ganze Zeit meine Gefühle und meine innere Welt mit mir herum, während ich versuche, die Geheimnisse in Chantilly aufzudecken. Wenn ich mich morgen mit Régine-Une und Monsieur Dupont treffe, lasse ich nur die beiden erzählen und verkneife mir meinen Pippa-gefärbten Senf.

Plötzlich konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, auf der Suche nach Jean Didier oder dem Mörder von Franz Teschke irgendetwas übersehen oder ganz falsch angefasst zu haben. Sie brauchte unbedingt frische Luft und trat aus dem Museum in den schönen Laubengang, der die einzelnen Gebäude miteinander verband.

Gedankenverloren stand sie im schattigen Gang und grübelte. Nur aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass schräg gegenüber ein Mann die Steintreppe zum Eingang des Museums emporstieg und sich dann – genau wie sie zuvor – noch einmal umdrehte, um die Pracht des Innenhofes zu genießen. Er holte krampfhaft Luft und nieste lautstark.

Unwillkürlich sah Pippa genauer hin – und traute ihren Augen nicht. »Abel! Was machst du denn hier?«

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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