Kapitel 24

Abel Hornbusch strahlte, als er Pippa sah. »Hallo, das ist ja eine schöne Überraschung! Nimmst du dir auch eine Auszeit vom Angeln?«

Pippa nickte und sah sich vorsichtig um. »Sind die Kiemenkerle auch hier?«

»Keine Angst.« Er lachte. »Du weißt doch: Sie versammeln sich lieber um einen See als um Gemälde.«

Pippa entspannte sich. »Dann wünsche ich dir viel Spaß beim Rundgang.«

»Wir werden uns bestimmt über den Weg laufen.« Abel tippte mit zwei Fingern grüßend an seine Mütze. Er nieste heftig, als er das Gebäude betrat.

Pippa blieb noch einige Minuten an der frischen Luft, bevor sie den Laubengang wieder verließ. Sie wollte sich den Teil der Ausstellung ansehen, den sie vorher gemieden hatte, um Leo aus dem Weg zu gehen. Während sie durch die Räume schlenderte, hielt sie nach Abel Ausschau, aber der schien sich Zeit zu lassen.

Wie angenehm, dass er sich mir nicht sofort aufgedrängt hat, dachte sie. Jeder andere Kiemenkerl würde jetzt vermutlich an meinen Hacken kleben.

Erst in Saal IV, dem Kaminzimmer, traf sie Abel wieder. Der Raum war einem eleganten Boudoir des 18. Jahrhunderts nachgestaltet. Abel stand vor einem Gemälde und betrachtete es versunken.

Pippa stellte sich neben ihn. »Und – wie gefällt dir dein Ausflug in die Kultur?«

»Wunderbar. So viele Bilder: Blumen, Pferde, Schiffe, Hunde, Hühner, Kühe und nicht ein einziger Fisch – die reine Erholung.« Er verdrehte die Augen. »Ich dachte schon, das Universum besteht nur noch aus Anglern, Ködern und Fischen.«

»Du warst noch nicht bei den Gemälden im oberen Stockwerk – da wirst du fündig.«

Er zog gespielt sorgenvoll die Stirn kraus. »Danke für die Warnung.«

Spontan fragte Pippa: »Wollen wir anschließend zusammen essen gehen?«

»Gern! Was hältst du von einem Picknick an der Garonne? In der Garderobe wartet mein gut gefüllter Rucksack. Ich habe Wein, Käse und Baguette anzubieten.«

»Perfekt«, sagte Pippa begeistert. »Ich bin dabei – falls du genug eingepackt hast. Sonst können wir noch etwas einkaufen.«

Abel schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, wir werden beide satt, das verspreche ich dir.«

»Abgemacht. In einer Stunde im Foyer.«

Gutgelaunt schlenderte Pippa weiter durch die Säle und ließ sich Zeit bei der Betrachtung der Ausstellungsstücke.

Ist die geschönt, oder hat er wirklich so gut ausgesehen?, fragte sie sich amüsiert, als sie vor einer Büste des Sonnenkönigs stand.

Begeistert sah sie sich um, als sie den Raum betrat, der Venedigs Kunstschätzen gewidmet war. Ausgesucht schöne Möbelstücke bildeten den eleganten Rahmen für die Veduten von Canaletto, Guardi und Longhi.

Auf einem besonders hübschen Tischchen entdeckte Pippa einen Ständer, der mit einem Tuch aus Samt bedeckt war, um das darunter verborgene Bild vor Sonnenlicht zu schützen. Eine Erklärung in drei Sprachen forderte die Besucher auf, das Tuch zu lüften, um sich eine Zeichnung von Tiepolo anzuschauen, die die Karikatur eines Gentlemans im Profil darstellte.

Pippa hob das Tuch an und erstarrte. Über der Zeichnung lag ein bedruckter Zettel: Ist Venedig nicht wunderbar? Ich würde gerne mit dir hinfahren, Pippa.

Sie fuhr herum, aber außer ihr war niemand im Raum. Leo, dachte sie zähneknirschend, wo versteckst du dich? Kann ich dir denn nirgends entkommen? Eines muss ich dir lassen: Die Idee mit dieser Nachricht ist einfallsreich – du arbeitest wirklich mit allen Mitteln. Ich muss ernsthaft darauf achten, dass in mir keine Schneeschmelze einsetzt und du mich herumkriegst. Offensichtlich bin ich durch unkonventionelle Ideen gefährlich leicht zu beeindrucken.

Sie steckte den Zettel in die Tasche und betrachtete die wenig schmeichelhafte Karikatur des Malers. Das Bild passte zu Leo – sollte er tatsächlich zu etwas Ähnlichem wie Selbstironie fähig sein? Sie schüttelte den Kopf. Nicht Leo, nie im Leben. Wieder sah sie sich um. Wann hatte er die Nachricht hier deponiert? Saß er jetzt im Le Florida und wartete siegessicher auf sie? Falls ja, würde er vergeblich warten, denn sie würde keinesfalls zur gewünschten Uhrzeit erscheinen, um es herauszufinden.

Ich lasse mich nicht manipulieren, mein Lieber, dachte sie entschlossen und verließ eilig den venezianischen Raum. Nicht, dass Leo doch hinter einem der bodenlangen Vorhänge lauerte.

Pippa ging hinauf in den ersten Stock, um sich die Gemälde von Bonnard noch einmal anzusehen – diesmal ohne die Schüler. Sie traf auf Abel, der eine Mittelmeerlandschaft betrachtete. Ohne viel Umstände zog Pippa ihn am Ärmel zu einem anderen Gemälde.

»Schau mal – Die Fischer. Danach hast du doch bestimmt gesucht.«

»Fischer?«, antwortete Abel todernst. »Das Bild interessiert mich nicht – ich bin Angler.«

Sie stießen sich kichernd an und gingen gemeinsam weiter.

Rasch fiel Abel auf, dass Pippa nicht ganz bei der Sache war. »Du siehst dich ständig um – erwartest du jemanden?«

»Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, mein Noch-Gatte schleicht hier herum.«

»Im gleichen Bus wie ich war er jedenfalls nicht«, sagte Abel, »außer mir sind nur Einheimische mitgefahren.«

Pippa winkte ab. »Er ist mit dem Auto nach Frankreich gekommen. Für öffentliche Verkehrsmittel ist er viel zu ungeduldig.«

»Sollen wir lieber gehen? Wenn du dich so unwohl fühlst … Mein Magen knurrt ohnehin mittlerweile.«

Pippa war erleichtert, dass Abel diskret genug war, nicht weiter nachzufragen.

»Du musst mir keinen Gefallen tun, Abel«, sagte sie. »Bist du sicher, dass du nicht lieber allein sein möchtest?«

»Ganz sicher. Ich leugne nicht, dass ich einen ausgewachsenen Lagerkoller habe, aber erfreulicherweise bist du ja kein fischfanatischer Kiemenkerl, der nur ein Gesprächsthema kennt, sondern ein charmantes Blinkerbaby.«

»Genau wie du.«

»So ist es.« Abel nickte lächelnd. »Und wir Blinkerbabys wissen Gott sei Dank, dass es auf der Welt noch andere schöne Dinge gibt, als den größten Fisch zu fangen.«

Sie holten ihre Sachen aus der Garderobe und schlenderten ein paar Meter bis zur Pont Neuf, die über die Garonne führte. Auf der alten Brücke blieben sie stehen und genossen schweigend den weiten Blick über das Wasser.

»So schön habe ich es mir nicht vorgestellt«, sagte Pippa schließlich und dachte: Und damit meine ich nicht nur diesen Ausblick.

Abel nickte. »Ich liebe die französische Architektur. Diese prachtvollen Fassaden, die schmiedeeisernen Balkone, die hohen Fenster: ein wundervolles Stadtbild.«

Sie stiegen zur Uferpromenade hinunter und suchten sich einen Platz auf einer Liegewiese. Abel holte ein kariertes Tischtuch aus seinem Rucksack und breitete es aus. Dann packte er Baguette und Käse aus, zog zwei Gläser hervor und öffnete den Wein. Während die beiden das einfache Essen und den leckeren Wein genossen, plauderten sie über die Galerie. Als sie ihren Hunger gestillt hatten, schenkte Abel noch einmal nach.

Mit dem Glas in der Hand blickte Pippa über das Wasser und fragte: »Wisst ihr schon, wie es weitergeht? Mit Teschke, meine ich.«

Abel seufzte. »Übermorgen ist der Termin für die Überführung. Wir begleiten ihn. Wir werden wohl die ganze Nacht durchfahren.«

Dann haben wir nur noch bis Montag Zeit, um dem Mörder auf die Schliche zu kommen, dachte Pippa, aber vielleicht findet Wolfgang das sogar gut, weil er glaubt, auf heimischem Territorium besser ermitteln zu können.

»Es beeindruckt mich, dass alle Kiemenkerle solidarisch sind und nach Hause fahren«, sagte Pippa. »Schließlich müsst ihr euren lang ersehnten Jahresurlaub vorzeitig abbrechen.«

»Das stimmt wohl. Aber es geht um mehr als unsere persönliche Befindlichkeit. Vielleicht bin ich auch deshalb spontan nach Toulouse gefahren. Wenn es schon übermorgen wieder nach Berlin geht, möchte ich wenigstens einen Tag lang etwas anderes sehen als das Camp und den See.« Er zuckte lächelnd mit den Achseln. »Du siehst, aus mir wird nie ein echter Fischer.«

»Angler«, korrigierte Pippa automatisch, »vorhin in der Galerie wusstest du das noch!«

Sie sahen sich lachend an, prosteten sich zu und tranken.

»Und du?«, fragte Abel. »Wie lange wirst du noch hier bleiben?«

»Mindestens bis Mitte Juli«, erwiderte sie, »früher ist die Renovierung in der Rue Cassoulet nicht abgeschlossen.«

Abel schwieg einen Moment. »Ist das der einzige Grund?«

»Ich verstehe nicht …« Pippa sah ihn erstaunt an, dann ging ihr ein Licht auf. »Du meinst Pascal.«

»Und das Vent Fou.«

»Das Hotel wäre tatsächlich eine interessante Mitgift, besonders weil es Pascal nicht wirklich um mich, sondern um eine zupackende Mitarbeiterin geht. Ich mache mir da nichts vor. Trotzdem – es könnte Spaß machen.«

»Du denkst ernsthaft darüber nach.« Er nickte, als wollte er seine eigenen Worte bestätigen. »Aber du zögerst noch.«

Pippa merkte plötzlich, dass sie über alles reden wollte. Sie erzählte ihm von Leos unangekündigtem Auftauchen und seinem schier unwiderstehlichen Angebot, es noch einmal miteinander zu versuchen und gemeinsam in Venedig zu leben und zu arbeiten.

»Ich liebe Venedig. Ich habe mir immer gewünscht, dort zu leben.«

»Und das geht nur mit Leo? Du hast dich doch bestimmt nicht grundlos von ihm getrennt. Hast du keine anderen Möglichkeiten?«

»Leo hat wirklich seine guten Seiten.« Dazu sagte Abel nichts, sondern hob nur die Brauen. »Und er bietet mir wirtschaftliche Sicherheit«, fügte Pippa hinzu und seufzte.

Abel sammelte einige flache Steinchen auf und versuchte, sie über das Wasser hüpfen zu lassen. Nach einigen vergeblichen Versuchen gab er auf und wandte sich wieder Pippa zu.

»Wir kennen uns nicht gut, aber vielleicht darf ich dir trotzdem einen Rat geben: Mach nicht den gleichen Fehler wie Tatti. Wolfgang sagt, sie hat in der Ehe mit Gerald emotionale und wirtschaftliche Sicherheit gesucht. Und ein warmes Nest für gemeinsame Kinder. Wie man sieht, ist dieser Plan nicht aufgegangen. Materielle Gründe eignen sich schlecht als Grundlage für eine Beziehung.«

Pippa wollte protestieren, hielt aber inne. Abel hatte recht – es gab eine Parallele. »Ich muss Leo dringend loswerden, damit ich mich nicht aus den falschen Gründen wieder auf ihn einlasse.«

»Sei selbstbewusst und mach ihm klar, dass du ein Leben ohne ihn planst. Nutze deine Qualitäten und Talente. Was kannst du am besten?«

Pippa lachte auf. »Übersetzen – aber das hat im letzten Jahr nicht gereicht, um davon zu leben.«

Abel schüttelte den Kopf. »Das meine ich auch nicht: Hüte Häuser. Professionell. Die Menschen vertrauen dir und lassen dich in ihre Welt einziehen, also gründe deine eigene kleine Agentur. Du bist ungebunden, und wo der Schreibtisch steht, an dem du deine Übersetzungen machst, ist völlig egal. So kannst du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: weiterhin als Übersetzerin arbeiten und gleichzeitig als Haushüterin Geld verdienen.«

Pippa sah ihn überrascht an. »Du meinst, so etwas wird gesucht?«

»Und ob!« Er nieste mehrmals und fuhr dann fort: »Ich sehe die Webseite schon vor mir: Pippas Haushüter-Service! Die ideale Lösung für Ihr unbewohntes Haus. Überlassen Sie alles mir: Hunde, Katzen, Post, Garten, nervige Nachbarn, lästigen Verwandtenbesuch …«

Wieder schüttelte ihn ein heftiger Niesanfall.

Pippa kramte eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Tasche und gab sie ihm kopfschüttelnd. »Wo hast du dir bloß diese mörderische Erkältung geholt?«

»Nach dem Picknick auf dem Berg, vermute ich«, antwortete er mit belegter Stimme, nachdem er sich die Nase geschnäuzt hatte. »Der Rückweg im Regen … ist aber nicht so schlimm, wirklich.«

»Und jetzt sitzen wir auch noch auf dem kühlen Boden.« Pippa stand auf und begann zusammenzupacken. Schließlich sind wir laut Régine-Deux noch mitten im Winter, dachte sie.

Sie schlenderten auf der Uferpromenade der Garonne entlang bis zur nächsten Brücke.

Abel entfaltete einen Stadtplan und studierte ihn. »Wir sind ganz nah am Place du Capitole. Der soll sehr schön sein, vor allem das Rathaus. Es gibt dort viele Straßencafés. Ich könnte ein heißes Getränk vertragen.«

Pippa stimmte zu, obwohl sie diesen Ort eigentlich hatte meiden wollen. Aber in Abels Gesellschaft fühlte sie sich vor Leos Überredungskünsten sicher.

Sie gingen durch enge Gassen und machten sich gegenseitig auf besonders malerische Ecken aufmerksam.

Abel deutete auf eins der zweisprachigen Straßenschilder. »Französisch und Okzitanisch – und ich dachte immer, Okzitanisch wäre ausgestorben.«

Nach der Enge der Gassen war die Weitläufigkeit des Place du Capitole eine Überraschung: die beeindruckende Fassade des Rathauses, die Bogengänge der Arkaden, das ins Pflaster eingelassene Emblem Okzitaniens. Pippa imponierte die Pracht, die nicht protzig wirkte, sondern Gelassenheit ausstrahlte. Straßenhändler hatten ihre Stände aufgebaut und wurden von Touristen umlagert.

»O nein!«, rief Pippa und zeigte auf einen Verkaufsstand. »Strohhüte! Bitte halte mich davon ab, einen zu kaufen. Ich schaffe es sonst, mir einzureden, ich besäße keinen einzigen Sonnenhut.«

»Ob die auch Schals und Pudelmützen haben?«, fragte Abel und hustete. »Irgendwie ist mir kalt.«

»Du hast recht, es ist kühler geworden«, sagte Pippa und sah ihn besorgt an. »Der Wind hat aufgefrischt. Wir setzen uns ins Le Florida, ein Straßencafé ist zu kalt.«

Sie führte ihn unter die Arkaden in die große Brasserie. Noch genossen die meisten Touristen das schöne Wetter und saßen unter den Sonnenschirmen auf dem Platz, so dass Pippa und Abel mühelos einen Platz im Innern fanden. Sie ergatterten eins der Holztischchen an den rot gepolsterten Bänken, die sich an den Wänden des Gastraums entlangzogen.

»Du hast für das Mittagessen gesorgt – jetzt sorge ich dafür, dass du heißen Wein bekommst«, bestimmte Pippa resolut. »Und auf den Bus nach Chantilly musst du auch nicht warten. Ich muss nur kurz telefonieren.«

Sie gab die Bestellung auf und wählte dann Régine-Deux’ Nummer, während Abel die Jugendstilmalereien in der Brasserie bestaunte.

Die Wirtin des Paradies stimmte sofort zu, als Pippa darum bat, Abel zum Flughafentransfer mitbringen zu dürfen.

»Abel? Ist das nicht der kleine Hübsche mit dem Ewan-MacGregor-Charme? Der hätte mir auch gefallen können – aber an BB reicht er nicht heran.« Régine lachte schallend.

Pippa warf einen schnellen Blick zu Abel hinüber, der gerade die Getränke entgegennahm. Sie betete, dass seine Ohren durch die Erkältung zu verstopft waren, um Régines laute Stimme zu hören.

»Der gefällt mir um einiges besser als Ihre anderen Verehrer, meine liebe Pippa«, stellte die Hünin munter fest.

Pippa ignorierte geflissentlich die Anspielung der enthusiastischen Pensionswirtin und sagte: »Bis wir zu Hause sind, wird er Fieber haben. Er braucht unbedingt ein ordentliches Bett und Wadenwickel. Haben Sie eine Idee, Régine? Am besten, wir finden etwas …«

»Natürlich!«, unterbrach die Wirtin begeistert. »Das Sofa am Kamin!«

Das hättest du wohl gern, dachte Pippa und vollendete unbeirrt ihren Satz: »… unten im Tal

»Das Vent Fou ist ausgebucht.« Régine-Deux schnaubte enttäuscht. »Ich frage Cateline.«

Pippa bedankte sich und beendete das Gespräch. Sie leerte ihr Glas Blanquette in einem Zug und dachte amüsiert: Wenn Frankreich das Land der Liebe ist, dann ist Okzitanien das Land der angedichteten Liebhaber.

Abel hatte seinen heißen Wein ausgetrunken, aber es ging ihm zusehends schlechter. Seine Augen waren gerötet und tränten, sein Gesicht glühte.

Draußen wurde es unerwartet finster, und Abel sah Pippa erschrocken an. »Was ist denn da los?«

Pippa sah auf ihre Armbanduhr. »Der Regen kommt – wie von meiner Wirtin prophezeit.« Die ersten dicken Tropfen klatschten bereits auf das Pflaster des Platzes.

»Wir lassen uns fahren«, bestimmte Pippa.

Abel ging es nun so schlecht, dass er sich widerstandslos von ihr zum nächsten Taxistand lotsen und in ein Taxi schieben ließ. Mit einem Ächzen fiel er auf den Rücksitz. Der Fahrer raste mit quietschenden Reifen los, so als müsste er seine Fahrgäste nicht zum Flughafen Blagnac, sondern in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses bringen.

»Danke, Pippa, das werde ich dir nie vergessen«, sagte Abel heiser.

»Unsinn – du würdest das Gleiche für mich tun.«

»Darauf kannst du wetten.« Er hustete und lehnte mit geschlossenen Augen erschöpft den Kopf zurück.

Sie lächelte und sagte: »Cateline meinte, in Chantilly wäre Freundschaft zwischen Mann und Frau undenkbar – aber hier in Toulouse scheint es mir möglich.«

Abel hielt die Augen geschlossen. »Möglich ist es schon, aber ist es auch immer nötig?«

Als sie am Flughafen ankamen, hatten tiefschwarze Wolken den Himmel verdunkelt, und es schüttete wie aus Eimern. Trotzdem fiel Pippa sofort der vierschrötige Mann unter dem Vordach des Eingangs ins Auge, der ein Schild mit der Aufschrift Auerbach & Keller in die Höhe hielt. Zwei Frauen mittleren Alters bugsierten Berge von Gepäck in seine Richtung.

»Thierry bringt uns nach Chantilly zurück!«, rief Pippa überrascht.

Sie half Abel aus dem Taxi und direkt in Thierrys wartenden Geländewagen, in dem ihr Begleiter umgehend einschlief. Dann gesellte sie sich zu ihrem Chauffeur und den beiden Neuankömmlingen, um sie zu begrüßen, und erfuhr, dass Régine gerade für Abel ein Zimmer im Bonace organisiert hatte.

Während der Fahrt durch den strömenden Regen unterhielten sich Régines neue Gäste und Thierry Didier wie alte Freunde.

»Nun, Thierry, wird sich in diesem Jahr die Sonne noch einmal blicken lassen?«, fragte Frau Auerbach, die auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte.

»Wer braucht Sonne, wenn Sie beide in Chantilly sind?«, gab Thierry ungewohnt charmant zurück.

»Wie lange wird der Autan diesmal wehen?«, wollte Frau Keller wissen. »Drei Tage? Neun? Oder länger?«

»Das werde ich erst definitiv sagen können, wenn es richtig losgeht«, antwortete Thierry.

»Richtig losgeht?«, fragte Pippa fassungslos und zeigte nach draußen. »Was bitte schön ist denn das gerade?«

»Das ist der Regen, und wenn der aufhört, kommt der Sturm. Diesmal wird er seinem Namen gerecht, fürchte ich. Ich schätze, Sie können einige Tage nicht vor die Tür«, prophezeite Thierry.

»Wunderbar«, zwitscherte Frau Auerbach entzückt, »dann habe ich Hoffnung, dass ich in diesem Urlaub endlich mal meine Bücherkiste schaffe!«

»Bücherkiste?«, fragte Pippa neugierig.

Die beiden Damen waren hocherfreut, in Pippa nicht nur eine – wenn auch kurzfristige – Mitbewohnerin in Régines Paradies, sondern auch eine gleichgesinnte Bücherfreundin gefunden zu haben. Den Rest der Fahrt verbrachten sie mit lebhaften Diskussionen über lesenswerte Literatur und das Glück, bei Régine erholsame Tage verbringen zu dürfen.

Thierry fuhr zuerst zum Bonace, um Abel abzuliefern. Er hupte kurz, und sofort kam Cateline heraus. Gemeinsam mit Pippa half sie Abel aus dem Auto.

»Er bekommt von mir eine frische Hühnersuppe, und dann stecke ich ihn ins Bett«, sagte Cateline. »Eric war schon im Lager, um die Angler zu informieren, dass Monsieur Abel bei uns bleibt.«

»Ich kann mich nur bedanken«, erwiderte Pippa. »Morgen komme ich vorbei und sehe nach ihm.«

Sie wollte gerade wieder in den Wagen steigen, als Cateline eine Mappe unter ihrer Strickjacke hervorzog, Pippa in die Hand drückte und den Finger auf den Mund legte.

Pippa begriff sofort, dass es sich um die Ermittlungsergebnisse des Detektivs handeln musste. Sie nickte Cateline zu und verstaute die Mappe kommentarlos in ihrer Tasche.

Die Tür des Bonace schloss sich hinter Cateline und Abel, und Pippa machte sich eine gedankliche Notiz: Sie musste die Wirtin beim morgigen Krankenbesuch unbedingt fragen, ob sie in der Nacht des gemeinsamen Bades im Lac Chantilly wirklich direkt von zu Hause gekommen war oder sich noch mit jemand anderem getroffen hatte.

Der Geländewagen mühte sich den Weg hinauf zum Paradies. Thierry beugte sich konzentriert über das Lenkrad und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die regnerische Finsternis. Da es hier keine Straßenbeleuchtung gab, war er ganz auf das Licht der Scheinwerfer angewiesen, die den strömenden Regen nur unzulänglich durchdrangen.

»Wie haben Sie Régines Pension eigentlich entdeckt?«, fragte Pippa die beiden Urlauberinnen.

»Unser Weinhändler hat uns davon erzählt«, sagte Frau Keller. »Vor drei Jahren waren wir zum ersten Mal hier und sofort total begeistert. Seither verbringen wir jedes Jahr kurz vor der Hauptsaison unseren Urlaub im Paradies.«

»Ihr Weinhändler hat die Pension empfohlen?«

Frau Keller nickte. »Er ist passionierter Angler und verliebt in die Weine des Languedoc, besonders des Cabardès. Meine Freundin lässt sich die Weine von ihm direkt nach Hause liefern«, sie zwinkerte Pippa zu, »obwohl sie sonst vorwiegend auf Rheingauer Riesling abonniert ist. Aber: Monsieur Tisserand est un homme très charmant, n’est-ce pas?«

Sie beugte sich vor und kniff ihrer Freundin auf dem Beifahrersitz sanft in die Wange, woraufhin diese tief errötete und angestrengt aus dem Seitenfenster spähte.

Pippa war für einen Moment wie versteinert. Dann fragte sie verstört: »Tisserand? Wieso Monsieur Tisserand?«

Frau Keller lachte amüsiert. »Nur ein kleines Wortspiel. Eigentlich heißt unser Weinhändler Weber, Jan-Alex Weber.«

Frau Auerbach drehte sich nach hinten um. »Und im Französischen heißt Weber nun mal …«

Pippa schluckte und vollendete: »Tisserand!«

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
titlepage.xhtml
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_000.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_001.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_002.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_003.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_004.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_005.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_006.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_007.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_008.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_009.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_010.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_011.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_012.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_013.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_014.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_015.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_016.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_017.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_018.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_019.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_020.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_021.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_022.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_023.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_024.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_025.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_026.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_027.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_028.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_029.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_030.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_031.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_032.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_033.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_034.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_035.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_036.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_037.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_038.html
CR!M9FJ42VST121KCPMMAAWG1WFYKG8_split_039.html