Kapitel 1
Was?« – »Das ist hoffentlich ein Scherz!« – »Wieso dat denn? Un wat is mit uns?« – »Das kann nicht dein Ernst sein!«, riefen alle durcheinander.
Pippa Bolle zog unwillkürlich den Kopf ein. Zwar hatte sie erwartet, dass ihre Familie, Freunde und Nachbarn nicht begeistert sein würden, aber mit dieser spontanen Empörung hatte sie nicht gerechnet.
Sie saß mit den anderen Bewohnern der Transvaalstraße 55 im Schatten der großen Kastanie ihres Berliner Hinterhofes an einer langen Kaffeetafel, an der es zwischen Befürwortern und Gegnern ihrer Zukunftspläne gerade zu tumultartigen Auseinandersetzungen kam. Pippa verfluchte sich selbst. Musste sie die frohe Botschaft ausgerechnet an einem der legendären Samstagstreffen der Hausgemeinschaft verkünden? Ihre Mutter Effie hatte diese Tradition vor vielen Jahren eingeführt, um im Haus ein echtes Miteinander zu schaffen. Pippa stöhnte innerlich. Sah ganz so aus, als würde ihr genau dieser unverbrüchliche Zusammenhalt diesmal das Leben schwermachen.
»Die Party im Hof ist bereits geplant«, erklärte Berti Bolle mit seiner ganzen hausmeisterlichen Autorität. »Daran gibt es nichts zu rütteln, liebe Tochter. Du wirst schließlich nur einmal im Leben vierzig. Alle sind seit Wochen dabei, den Tag zu organisieren.«
»Wir haben ein Festkomitee gebildet, um alle Vorschläge unter einen Hut zu bekommen«, warf Miriam ein. Die Schauspielschülerin aus der Wohngemeinschaft im 2. Stock wies auf ihre drei Kolleginnen. »Wir haben ein Stück über deine aufregenden Erlebnisse auf Schreberwerder und in Hideaway geschrieben! Es heißt: Sein oder tot sein – die Premiere soll an deinem Geburtstag stattfinden. Verdirb uns nicht den Spaß!«
Miriams Mitbewohnerin Annett sah sich suchend um. »Wir brauchen nur noch einen jugendlichen Liebhaber und eine dekorative Leiche.«
»Nehmt een von de Jungs als jujendliches Mordopfer, denn jeb ik dir den dekorativen Liebhaber. Janz jefleecht un akkurat. Vasprochen.« Ede Glasbrenner setzte sich mit seinen stattlichen siebzig Jahren in Positur. »Un Pippa, det will’ste doch jewisslich sehn, oda?«
Pippa öffnete den Mund, aber ihre Freundin Karin Wittig kam ihr zuvor. »Es sollte eine Überraschung sein, aber unter diesen Umständen … Und dann auch noch so weit weg! Montagne Noire. Die Schwarzen Berge. Wo ist das überhaupt? Wirklich, Pippa, du darfst diesen Tag nicht allein verbringen.«
»Genau.« Freddy Bolle nickte. »Ich sehe meine Schwester schon mutterseelenallein an einem Extratisch in einer schäbigen Brasserie. Zwischen Küchendurchreiche und Toilette. Unbeachtet. Und alle sprechen französisch!« Seine Stimme bekam einen panischen Unterton. »Willst du mich … dich etwa um unser Geburtstagsbüfett bringen? Alle aus dem Haus steuern etwas Leckeres bei. Ich erstelle gerade eine Wunschliste. Bei der Fülle der kulinarischen Angebote nicht einfach. Eigentlich müsste ich alles einmal probeessen, um ein echtes Ausschlussverfahren durchführen zu können.«
»Jetzt denkt doch nicht nur an euch selbst, sondern lasst Pippa endlich zu Ende erzählen«, sagte Hetty Wilcox beschwichtigend und beugte sich zu ihrem Bobtail Sir Toby herunter, der – wie zur Bestätigung ihrer Worte – ein blechernes Bellen ausstieß.
»Vielen Dank, Grandma.« Pippa atmete durch. »Ich will nicht einfach abhauen. Ich will nur ein paar Wochen in den Süden, um ein wenig Erholung zu tanken. Und um mich besser konzentrieren zu können.« Sie hob einen großen braunen Umschlag hoch und schwenkte ihn. »Ich habe endlich so etwas wie einen literarischen Übersetzungsauftrag bekommen. Hemingway.«
»Ich dachte, der ist schon übersetzt«, bemerkte Pippas Mutter Effie, während sie eine Runde Stachelbeerkuchen vom Blech auf Teller verteilte.
»Und dafür musst du wegfahren?«, rief Freddy dazwischen. »Das kannst du doch ebenso gut hier machen.«
»Ja … nein.« Pippa suchte nach Worten. »Keine Romanübersetzung. Zwei Professoren aus Deutschland und USA und ein Biograph aus Italien wollen ihren Briefwechsel von mir sichten lassen, in dem sie wichtige Zitate Hemingways diskutieren. Daraus soll eine Festschrift für die Universität Venedig werden.«
Ede Glasbrenner kratzte sich am Kopf. »Wer will denn sowat lesen?«
»Ich gebe zu: Richtig prickelnd ist das Thema nicht, aber die drei zahlen erstaunlich gut.«
»Das ist doch endlich einmal ein gutes Argument«, sagte Karins Mann Matthias.
»Dank dieses Auftrags und durch meine Ersparnisse vom letzten ist es mir endlich möglich, mir nicht nur hier im Haus eine Wohnung zu nehmen, sondern sie auch renovieren zu lassen.«
»Und zwar von mir. Mein Geschenk zu deinem Geburtstag«, warf Bertie Bolle ein und rieb sich die Hände. »Gute Handwerkerarbeit – das geht nicht ohne Lärm. Ich bin trotzdem enttäuscht, dass du deinen Vierzigsten nicht mit uns verbringen möchtest.«
»Jenau.« Ede Glasbrenner verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Ick hab jedacht, wa feiern ne richtje Orje, mit allen Schnickschnack: Lampinjongs, Musike und’n Bottich Weisse. Wär’ ooch nett, ma wieda’n bisschen det Tanzbein zu schwingen … jenau unta Frau Luna … »
»Mit Damenwahl?« Mira Kasulke hob interessiert den Blick von der Brüsseler Spitze, die sie mit zierlichen Stichen auf den hauchzarten Schleier applizierte, den ihre Schwester Käthe vorsichtig zwischen den Händen spannte, um ihr die Arbeit zu erleichtern. Die beiden unverheirateten Schneiderinnen kicherten. Sie waren zwar schon lange im Pensionsalter, erstellten aber noch immer mit großem Enthusiasmus für ihre Kundschaft eine eigene extravagante Kollektion.
Glasbrenner verbeugte sich schwungvoll. »Keene der Damen muss vajeblich hoffen. Noch iss meene Tanzkarte leer …«
Er sprang von seinem Stuhl auf, ergriff Effie Bolles Hand und walzte mit ihr schwungvoll über den gepflasterten Hof.
»Der Berliner Bär und die zierliche Engländerin – Let’s Dance!«, rief Bertie Bolle gut gelaunt, froh, nicht selber tanzen zu müssen.
Die Runde am Tisch lachte und klatschte den Takt, und Pippa war erleichtert, dass Edes kleine Einlage die Stimmung wieder entspannt hatte.
»Auch wenn ich mich jetzt unbeliebt mache: Ich kann Pippa verstehen«, sagte Matthias Wittig, als Effie und Ede sich wieder setzten. »Hier ist es manchmal ganz schön laut …«
Er sah hinauf zu seiner Tochter Lisa, die gemeinsam mit den Sprösslingen der türkischen Familie Abakay die Kastanie gerade als Kletterfelsen für Sicherungsübungen und Abseilen missbrauchte, bis sie endlich unter viel Geschrei über einen besonders starken Ast den ersten Stock des Hinterhauses erreicht hatte. Ihr älterer Bruder Sven stand in einem offenen Fenster und leistete Schützenhilfe.
Pippa folgte Matthias’ Blick. »Gott sei Dank sind sie nicht auf Freeclimbing verfallen.«
»Fallen … genau«, knurrte Karin. »Ich kann gar nicht hinsehen.«
»Du hast gesagt: Alles, nur nicht tauchen!«, rief Sven und half seiner kleinen Schwester unter dem Beifall der anderen Kinder galant über die Fensterbank ins Haus.
»Ich fasse zusammen«, nahm Matthias den Faden wieder auf. »Unsere liebe Pippa kehrt der Transvaal wieder einmal den Rücken, und das zu ihrem vierzigsten Geburtstag.« Er zwinkerte ihr zu. »Deshalb schlage ich vor, wir holen das Feiern nach, wenn sie wiederkommt – und zwar nicht zu knapp. Ich weiß auch schon, wer dann die Zeche zahlt: Pia Peschmann, denn sie hat uns Pippa abgeworben. Pia, du hast das Wort. Und ich hoffe, du hast gute Argumente.«
Pia Peschmann lächelte. »Einige von euch kennen mich bereits von Schreberwerder, meine Familie hatte dort einen Kleingarten. Jochen, mein Mann, arbeitet seit langem bei Airbus in Toulouse. Vor genau einem Jahr haben wir deshalb Wohnung und Parzelle in Berlin verkauft und sind nach Frankreich gezogen. Meine Kinder und ich lieben Südfrankreich, aber im Sommer ist es in Toulouse stickig und heiß.«
»Jeht eben nischt über’n echten Berlina Hinterhof: kühl, jeräumich, ruich …«, rief Ede Glasbrenner.
In diesem Moment krachte der Tapetentisch mit den Backblechen unter lautem Getöse zusammen. Eines der Abakay-Kinder hatte versucht, in Feuerwehrmanier am Seil aus der Kastanie herunterzurutschen und dabei im Vorbeisausen eines der Kuchenstückchen zu greifen, und war damit gescheitert. Alle sprangen auf, um zu sehen, ob dem Jungen etwas passiert war – nur Freddy blieb wie gelähmt sitzen. »Zwei große Stück Kuchen«, flüsterte er, »für immer verloren.«
Nachdem der Abakay-Sprössling allen versichert hatte, dass außer Blechkuchen keine Schäden zu beklagen seien, sagte Pippa triumphierend: »Seht ihr, was ich meine? Man kann in diesem Tollhaus nicht einmal in Ruhe Kaffee trinken, geschweige denn kontinuierlich arbeiten. So gern ich euch alle mag: Ich will nach Frankreich, auch wenn das dummerweise genau zu meinem Geburtstag ist. Bitte, Pia, erklär ihnen, warum du mich brauchst.«
»Wegen der sommerlichen Hitze in der Stadt haben wir uns ein kleines Haus am See gekauft«, sagte Pia Peschmann, »etwa dreißig Minuten von Toulouse.«
»Aber nur, wenn Jochen am Steuer sitzt«, warf Karin ein, »sonst kann man die Fahrtzeit getrost verdoppeln.«
»Jedenfalls ist es zu weit weg von Toulouse, als dass wir den Umbau täglich selbst kontrollieren könnten«, sagte Pia Peschmann. »Das Haus stand jahrelang leer und muss dringend saniert werden. Der Garten sieht aus wie der einzige Urwald Frankreichs, aber auch das soll sich ändern.«
»Das klingt, als könnte Pippa sich auf viele Wochen unter südlicher Sonne freuen«, bemerkte Karin. »Und wir haben das Nachsehen.«
»Pippa kann dort bestimmt wunderbar arbeiten und dabei die Renovierungsarbeiten beaufsichtigen«, warb Pia Peschmann weiter. »Sie würde uns damit einen großen Gefallen tun.«
»Das gönnt ihr mir doch?«, bat Pippa. »Unbeschwerte Tage in Südfrankreich – und wenn ich wiederkomme, feiern wir mit den Köstlichkeiten aus meinem Gepäck ein großes Fest, versprochen.«
»Was isst man denn so in Toulouse und Umgebung?«, fragte Freddy.
»Wer fährt nach Toulouse?«, rief Lisa Wittig, die mit Sven auf den Hof heruntergekommen war. Die beiden Teenager setzten sich an die Tafel.
»Ich – nächsten Samstag«, sagte Pippa. »Ich hüte das zukünftige Ferienhaus der Peschmanns. Aber nicht in Toulouse, sondern in Chantilly-sur-Lac, einem kleinen Ort in der Nähe.«
Lisa horchte auf. »Ist Daniel auch da?«
Jetzt erwachte auch Svens Interesse. Wo Daniel Peschmann war, konnte dessen Schwester Bonnie nicht weit sein …
»Ich könnte mitkommen und für dich einkaufen gehen, kochen und aufräumen«, schlug Lisa eifrig vor und sah Pippa hoffnungsvoll an. »Ich habe mich dieses Schuljahr in Französisch mächtig angestrengt, genau, wie ich es dir auf Schreberwerder versprochen habe. Vielleicht könnte ich sogar für dich dolmetschen.«
»Du willst dort bestimmt arbeiten. Da sollte technisch alles einwandfrei laufen«, sagte Sven. »Ich könnte mich um deinen Computer kümmern.«
Karin Wittig warf ihrem Sohn einen fragenden Blick zu. »So wie du dich seit Wochen um den Computer in meinem Reisebüro kümmerst? Na, prost Mahlzeit, Pippa. Dann wirst du mit der Hand schreiben müssen.«
»Mama!« Sven errötete.
»Jaja, ich weiß schon.« Karin winkte ab. »Es ist immer spannender, anderen Leuten zu helfen als der alten Mutter. Wenn ich Bonnie heißen würde und deine Hilfe bräuchte, würdest du zu Fuß nach Frankreich laufen, mein Sohn.«
Svens Röte vertiefte sich, und sein Vater eilte ihm zu Hilfe. »Wer würde nicht gern mitfahren? Braucht ihr noch jemanden, der euch allen bei der Arbeit zusieht?«
»Dass du vor der Renovierung deiner Wohnung flüchtest, finde ich absolut nachvollziehbar, Liebes«, sagte Effie Bolle. »Aber kommst du in Frankreich nicht vom Regen in die Traufe? Wenn ich das richtig verstanden habe, sitzt du in einem Haus, das komplett umgebaut wird. Wie willst du dich dort auf deine Arbeit konzentrieren?«
Pia Peschmann wollte zu einer Erklärung ansetzen, aber Pippa ergriff selbst das Wort. »Das ist das Beste an Pias Vorschlag«, erklärte sie strahlend. »Die Peschmanns haben diesen Ort und das Haus gefunden, weil ihr langjähriger Freund im besten Restaurant von Chantilly kocht und ihnen davon erzählt hat.«
»Im Le Vent Fou«, sagte Pia. »Es gehört zwar den Legrands, einem reizenden älteren Ehepaar, aber Pascal schaltet und waltet dort wie ihr eigener Sohn. Er ist der beste Koch, den ich kenne.«
»Wie heißt das Restaurant? Verrückter Wind?« Lisa kicherte. »Ist der Koch verrückt? Oder ist er ein Zauberer, der in den dunklen, dunklen Wäldern in schwarzen Kesseln Zaubertränke braut, die einen in ein Monster verwandeln können?«
»Ganz im Gegenteil – nach Pias Meinung ist Pascal ein Engel«, erwiderte Pippa. »Während er das Restaurant führt, kümmern sich die Legrands um das ehemalige Hotel, dass sie mit viel Geschmack und historischem Fingerspitzengefühl zu Ferienwohnungen umgebaut haben. Ich werde in einer davon wohnen, im Wald spazieren gehen, auf der Hotelterrasse arbeiten, im See schwimmen …«
»Und jeden Tag essen wie Gott in Frankreich«, fiel Freddy ihr neidisch ins Wort.
»… und auf die Bauarbeiter aufpassen und etwaige Probleme klären, bis die Peschmanns endlich ihren Urlaub antreten können. Danach werden sie ein fertiges Sommerhaus vorfinden.«
»Reichen denn deine Sprachkenntnisse?«, erkundigte Bertie Bolle sich besorgt. »Du sprichst doch gar nicht so gut Französisch.«
»Das ist nicht weiter tragisch«, sagte Pia Peschmann, »die Bauarbeiter auch nicht. Die sind aus Ungarn und Polen und Rumänien.«
Freddy wagte einen letzten Vorstoß. »Mein Französisch ist ziemlich gut – ich könnte mich mit dem Koch bestens verständigen. Ich kenne alle Vokabeln, die man braucht, um gutes Essen zu bestellen: Mousse au Chocolat, Cassoulet, Escargots, Foie gras, Tarte Tartin, Coq au vin, Bœuf Bourguignon, Soufflé au fromage, Brioches …« Er seufzte sehnsüchtig. »Nimm mich mit, Pippa – ich habe noch zwei Wochen Urlaub. Wie soll dieser Wahnsinnskoch sonst wissen, was du essen möchtest?«
Pippa schüttelte lachend den Kopf. »Tut mir leid, das ist nicht nötig, kleiner Bruder. Pascal stammt aus dem Elsass. Er spricht Deutsch.«