Kapitel 22
Was Sie zu besprechen haben, ist sicher nicht für meine Ohren bestimmt. Außerdem überlasse ich das Denken während der sieste bevorzugt anderen«, sagte Régine. Sie machte einen Schritt in Richtung Steineiche. »Sollten Sie mich brauchen – Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Noch während Régine es sich bequem machte, kamen ihre drei Katzen wie auf einen unhörbaren Befehl hin angelaufen und legten sich unter das Kopfteil der Liege ins kühle Gras.
»Stift und Papier, bitte«, kommandierte Schmidt.
Er legte das Blatt quer vor sich auf den Tisch und teilte es in der Mitte mit einem Strich. Was wir wissen schrieb er über die linke Rubrik und Was wir wissen wollen über die rechte.
»Schreib du. Dann kann man es anschließend auch lesen. Wir fangen mit Teschke an.« Er schob Pippa das Blatt zu und lehnte sich zurück. »Also: Es war Mord. Das Holzstück beweist es. Ich habe alle Möglichkeiten durchprobiert. Die Tür kann das Holz nur nach innen drücken. Alles andere ist unmöglich.«
»Alle, die nach dem Auffinden der Leiche um den Kühlwagen standen, haben ausgesagt, wo sie sich zum Zeitpunkt von Teschkes Tod aufhielten. Aber wir können keine der Behauptungen wirklich überprüfen.« Pippa zwinkerte Schmidt zu. »Oder weißt du, wie man Schlaf überprüft, Herr Kommissar? An der Lautstärke des Schnarchens?«
Er verzog das Gesicht zu einem humorlosen Grinsen. »Sehr witzig – aber du hast leider recht. Wir können so lange nicht nachweisen, dass einer der Kiemenkerle gelogen hat, bis er von einem anderen belastet wird.«
»Unsere erste Frage sollte also lauten: Wer hatte einen Grund, ausgerechnet den Mann umzubringen, den nie etwas anderes interessierte als das Angeln?«
Schmidt schüttelte den Kopf. »Das klingt, als hätte einer der Kiemenkerle ihm den letzten Fang nicht gegönnt. Dieses Motiv scheidet eindeutig aus: Wir waren daran gewöhnt, dass er ständig die besten Fische aus dem Wasser zog.«
»Auch, dass ein Kleinrentner die wertvollste Ausrüstung besaß? Habt ihr euch nie gefragt, wie er sich das leisten konnte?«
»Eigentlich nicht. Irgendwie kam er eben immer durch. Er war bei allen Angelausflügen dabei. Auch bei den kostspieligsten.«
»Aber wie hat er das finanziert? Wie ein Lebenskünstler sah er nicht gerade aus.«
»Einige von uns haben ihm Geld geliehen, nicht nur Vinzenz und ich«, erwiderte Schmidt achselzuckend. »Immer wieder.«
»Obwohl ihr genau wusstet, dass er das nie zurückzahlen würde?«, fragte Pippa ungläubig.
»Wir wollten ihn eben dabeihaben. Er war ein wandelndes Angellexikon, fand immer die fischreichsten Plätze … Einer für alle, alle für einen. So ist das eben bei den Kiemenkerlen.«
»Und das hat Teschke genau gewusst und ausgenutzt, indem er seine Rolle als armer Rentner nach allen Regeln der Kunst pflegte. Immer schön nach dem Motto: Die können es sich leisten, mich mit durchzuziehen, denen machen ein paar Euro mehr oder weniger nichts aus. Die stehen ja alle in Lohn und Brot.« Pippa hatte sich in Rage geredet.
Schmidt runzelte die Stirn. »Du spielst auf das falsch abgerechnete …«
»… unterschlagene!«, warf Pippa gnadenlos ein.
»… Geld für die Kühlwagenreparatur an?« Schmidt seufzte. Sein Bedürfnis, den toten Angelfreund zu verteidigen, war überdeutlich, aber gleichzeitig wusste er genau, dass er damit in Pippas Augen Zweifel an seiner Objektivität entstehen ließ.
»Ich kann mir keinen Reim darauf machen«, sagte Schmidt endlich, »es sei denn, Franz stand unter Druck und wollte …«
» … oder musste …«
»… tatsächlich jemandem Geld zurückzahlen, das er sich geliehen hatte. Und er wusste sich keinen anderen Rat, als dafür eine inoffizielle Anleihe zu nehmen.«
Er zog sich das Blatt heran, nahm einen Stift und schrieb in die rechte Rubrik: Was hat Teschke mit dem Kühlwagengeld gemacht? Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: Wieso glaubte Teschke, Achims Boot günstig erwerben zu können?
Pippa las das Geschriebene und nickte. »Okay. Und jetzt zu den anderen Kiemenkerlen. Wie kamen Vinzenz und Franz miteinander aus?«
»Unser Professor hat es dir angetan, was?« Schmidt grinste wissend. »Glaub nicht, dass ich das nicht gemerkt habe. Du stehst auf ruhige Einzelgänger mit Intellekt.«
»Weshalb aus uns beiden auch nie etwas werden könnte«, murmelte Pippa.
Souverän ignorierte Schmidt ihre Bemerkung und sagte: »Vinzenz ist dieses Jahr zum ersten Mal mit auf großer Fahrt. Er hat sozusagen den Platz des erkrankten Jan-Alex Weber übernommen.«
»Das ist der Weinhändler, richtig? Der schöne Jan – so hast du ihn genannt. Der hat doch diese Gegend entdeckt und sie euch ans Anglerherz gelegt.«
»Genau. Er und Vinzenz gehen oft zusammen angeln.« Er lachte leise und fügte hinzu: »Ich muss mich korrigieren: Sie sitzen oft mit der Angel zusammen am Wasser. Eigentlich gehören sie zur seltenen Spezies der Angelästheten. Ihnen geht es nicht um den Fang, sondern um frische Luft, schöne Landschaft und gute Gesellschaft. Reine Meditation. Für die sie viel Geld ausgeben.«
»Damit bilden die beiden eine krasse Gegenbewegung zu Teschkes Philosophie, oder?«
Schmidt winkte ab. »An beiden perlen dumme Kommentare ab wie Regen an einem Lotosblatt.«
»Du meinst also, Vinzenz war zu abgeklärt, als dass es zwischen ihm und Franz zu ernsten Meinungsverschiedenheiten gekommen wäre?«
»Bis auf die Tatsache, dass Teschke gerne stänkerte«, sagte Schmidt zögernd. »Er hat immer wieder Witze über den schönen Jan und den schöngeistigen Vinzenz gemacht.«
»Du meinst, er hat öffentlich darüber spekuliert, ob die beiden mehr als nur Angelfreunde sind?«, fragte Pippa ungläubig. »Das hätte ich eher Achim Schwätzer zugetraut.«
»Na ja«, Schmidt rutschte verlegen auf seinem Stuhl herum, »Jan und Vinzenz sind die Einzigen, die für Tattis Reize unempfänglich sind, obwohl sie keinen eigenen Anhang haben. Das führte zu Spekulationen, die Franz liebend gerne in die Runde warf. Und nicht nur er – Blasko hat sich auch nicht gerade zurückgehalten.«
»Männergeschwätz auf Stammtischniveau unterscheidet sich eben auch nicht von Frauentratsch«, sagte Pippa.
»Mich haben die ewigen Sticheleien genervt«, gab Schmidt zu, »aber Vinzenz lässt so etwas unbeeindruckt. Für den ist jeder Mensch einfach ein linguistisches Studienobjekt. Immerhin ist er Sprachwissenschaftler.«
»Wenn Vinzenz mir auch noch so sympathisch ist – er ist der Einzige, der ein Zelt für sich allein hat. Er hätte sich besonders leicht und unbemerkt an den Kühlwagen schleichen können, um das Holzstück herauszunehmen.«
»Und er war einer der Letzten, der in seinem Zelt verschwand. Nach unserer Feier am Lagerfeuer haben er und Bruno den Aufräumdienst übernommen. Beide haben mir unabhängig voneinander versichert, dass alle längst im Bett lagen, als sie endlich fertig waren.«
Pippa hob den Finger. »Alle bis auf Gerald.«
Der zu der Zeit noch einen unschönen Disput mit Tatjana hatte, dachte sie. Für die beiden bin dann wohl ich das Alibi – jedenfalls bis zu diesem Moment.
»Gerald sagt, dass im Lager kein Licht mehr brannte und alle schliefen, als er kam«, murmelte Schmidt beim Schreiben.
»Da wir gerade bei Gerald sind: Wie stand der große Vorsitzende zu Teschke?«
Schmidt zuckte mit den Achseln und sah stur auf das Blatt vor ihm. »Wir haben ja schon einmal darüber gesprochen: Gerald hat sich in letzter Zeit sehr verändert. Ich kann dir noch nicht einmal sagen, wie er zu Tatti steht. Ich verstehe die Beziehung der beiden einfach nicht mehr – falls man sie überhaupt noch so nennen darf. Du hättest die zwei früher sehen sollen; sie waren ein Herz und eine Seele. Sonst hätte ich mich nicht so zurückgehalten. Das kannst du mir glauben.«
Jetzt bist du aber schnell vom eigentlichen Thema abgekommen, Wolle, dachte Pippa. Tatjana muss dir wirklich sehr am Herzen liegen.
»Apropos Tatjana«, sagte sie, »hast du schon mit ihr gesprochen?«
Schmidts Kopf schoss ruckartig hoch. »Wie? Was meinst du? Worüber?«
»Mein Malheur mit Geralds Smartphone natürlich.«
Er nickte erleichtert. »Ach so, klar.«
Pippa hatte das Gefühl, dass Schmidt bei ihrer Frage an etwas ganz anderes gedacht hatte und etwas vor ihr verbarg. Hatte er sich Tatjana gegenüber womöglich offenbart?
»Und?«, fragte sie. »Wie hat sie reagiert?«
»Sie meinte nur, dass man ohne sein Handy wieder sehen könne, wie schön seine Ohren sind. Sie hat sich den Wortlaut der Nachricht aufgeschrieben und versprochen, Gerald den Verlust schonend beizubringen.«
»Besser sie als ich.«
Schmidt hatte sich wieder gefangen. »Als ich bei Tatti war, habe ich übrigens eindrucksvoll mitbekommen, wie dünn die Wände des Vent Fou sind.« Er grinste breit. »Man konnte Lothar und Sissi streiten hören. Diese Wände verschaffen ihnen auch gleichzeitig ein Alibi.«
»Was macht dich da so sicher?«
»Tatti erzählte, dass Streit bei den beiden ungewöhnlich ist. Sonst verbringen sie eher romantische Stunden miteinander. Auch nach dem Riesenkarpfen sollen die beiden … nachtaktiv gewesen sein. Man könnte direkt neidisch werden.«
Pippa lachte und übernahm es, das Alibi des Ehepaares Edelmuth aufzuschreiben. »Bei aller Romantik – hegten unsere Frischvermählten vielleicht irgendeinen Groll gegen Teschke?«
Schmidt schüttelte vehement den Kopf. »Sissi ist nur am Angeln und an Lothar interessiert.«
»Und zu Lothars Missfallen zunehmend in dieser Reihenfolge«, gab Pippa zurück.
Schmidt verzog kurz das Gesicht und sagte: »Lothar ist durch Teschke überhaupt erst zum Angeln gekommen. Und weil Franz ihn mit den Kiemenkerlen zusammengebracht hat, war er dankbar und hat sich ihm verpflichtet gefühlt.«
»Interessant. Auch finanziell?«
Schmidt dachte einen Moment lang nach. »Jetzt wo du fragst: Als Teschke in Ruhestand ging, hat er Lothar als Nachfolger empfohlen, und der hat den Job auch bekommen. Schon lange her, da kannte er noch nicht einmal Sissi. Das kann nun wirklich keine Rolle mehr spielen.«
Pippa musterte ihn amüsiert. »Nicht gerade eine objektive Antwort, Herr Kommissar.«
»Das ist mein schwierigster Fall, verdammt.« Wolfgang wischte sich Schweiß von der Stirn. »Es sind doch alles meine Freunde.«
Bei allem Verständnis für seine Zwickmühle hatte Pippa nicht vor, ihn zu schonen. »Wir sind noch längst nicht fertig«, drängte sie unerbittlich. »Bruno. Wie stand Bruno zu Franz?«
»Wie Bruno zu allen steht: hilfsbereit und gutmütig. Er würde auch den größten Fisch wegschenken, wenn er damit irgendjemandem helfen oder eine Freude machen könnte.«
»Keine Ecken und Kanten?«
In diesem Moment ging Régine am Tisch vorbei und warf ein: »Nein, keine Ecken und Kanten. Alles sehr weich. Ganz sicher!« Kichernd verschwand sie im Haus.
Schmidt und Pippa zwinkerten sich amüsiert zu, ließen sich aber nicht weiter ablenken.
»Kommen wir zu Hotte und Rudi«, sagte Pippa.
»Unsere siamesischen Zwillinge. Absolut unzertrennlich. Die einzige Gefahr für ihre Freundschaft wäre, dass einer von ihnen mal den ultimativen Fisch aus dem Wasser holt und der andere nicht sofort nachzieht. So etwas könnte vielleicht – aber nur vielleicht – das Gleichgewicht ihrer langjährigen Beziehung ins Wanken bringen. Die beiden teilen sich immer ein Zelt, und es hat noch nie Probleme gegeben.« Er hielt inne und knurrte: »Es sei denn, mit mir. Ihre Schnarchduette sind ohrenbetäubend.«
»Keinerlei Animositäten gegen Teschke? Einzeln oder gemeinsam?«
»Du meinst, der berühmte Neidfaktor?«
Pippa nickte. »Das Wer-hat-den-Größten-Spiel. Soll unter Männern nicht unüblich sein.«
»Beide hatten häufig Krach mit Franz. Wenn ich es genau betrachte, sogar verdammt häufig. Aber auf dieser Reise ging es erstaunlich entspannt zu. Nicht nur, was Hotte und Rudi betrifft.«
»Ich bitte dich.« Sie musterte ihn ironisch. »Du kannst nicht leugnen, dass die Zehntausend im Pott für jeden Kiemenkerl ein ernstzunehmender Anreiz sind. Und Hotte und Rudi sind nicht gerade Großverdiener.«
»Stimmt. Und damit haben wir auch die Antwort auf die Frage, womit Teschke ein Boot bezahlen wollte.« Er machte eine entsprechende Notiz und ließ den Stift sinken. »So manch einer hatte schöne Phantasien, in denen die Zehntausend vorkamen. Für den Fall des Falles.«
»Du auch?«, fragte Pippa neugierig.
Schmidt grinste verlegen. »Hochseeangeln. Das wär’s. Aber so richtig, nicht eben mal kurz hinter der letzten Boje Hamburgs.« Er verstummte.
»Damit willst du mich doch wohl nicht abspeisen? Ich will Details hören.«
Seine Augen bekamen einen verklärten Blick. »Im Südatlantik gibt es eine Insel namens Ascension. Sie gehört zu den britischen Überseegebieten. Dort leben die größten Exemplare des Blauen Marlin. Er ist der zweitschnellste Fisch der Welt und legt bis zu hundert Stundenkilometer vor. Ich will ihn gar nicht selber fangen. Ich möchte nur einmal mit rausfahren.«
Régine-Deux kam aus dem Haus und stellte ein Tablett mit kleinen Köstlichkeiten und einer Flasche Blanquette auf den Tisch. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sagte: »Wenn Ihnen zugucken reicht, nehme ich Sie beim nächsten Mal mit. Aber pfuschen Sie mir nicht in meinen Fang.«
Schmidt fiel vor Staunen die Kinnlade herunter. Dann hauchte er ehrfürchtig: »Sie haben schon Blauen Marlin gefangen?«
Régine-Deux nickte stolz. »Im Golf von Mexiko. Mit einem derart langen Schwert, dass ich für den Transport eine rote Sicherheitsfahne brauchte.«
Wäre Régine-Deux Hemingway begegnet, würde der Titel seines berühmtesten Buches heute wohl Die pfiffige Hünin und das Meer lauten, dachte Pippa amüsiert.
Régine-Deux setzte sich an den Tisch und stürzte sich mit Schmidt in leidenschaftliche Fachsimpelei über die Freuden des Angelns und die attraktivsten Gewässer der Welt.
Pippa hörte interessiert zu und sagte schließlich: »Würde jemand für einen solchen Traum …«
»… den besten Angler der Kiemenkerle aus dem Weg räumen?«, vervollständigte Schmidt ihre unausgesprochene Frage.
»Haben Menschen nicht schon für viel weniger gemordet?«, gab Régine-Deux zu bedenken.
Schmidt schüttelte den Kopf. »Ihr könnt mir glauben: Wenn bei Teschkes Tod Gewalt im Spiel war – und ich bin mehr als bereit, das zu glauben –, dann ist der Grund kein Angelhaken, sondern liegt außerhalb des Wassers. Denn wenn wir ehrlich sind, bestanden unser aller Chancen immer nur in Tibors Wetten. Nur unglaubliches, einmaliges Glück hätte einen von uns über Franz triumphieren lassen. Außerdem: Der Mörder hätte ja mit dem Mord keineswegs automatisch den Gewinn in der Tasche gehabt. Dafür müsste man das Geld stehlen.«
»Wo kommen die Zehntausend eigentlich her?«, fragte Pippa.
»Wir haben ein Fischereigewässer verkauft, das wir kaum nutzen konnten, weil es zu weit weg lag von Berlin. Wir haben es an einen Verein verkauft, der kein eigenes Gewässer hatte.«
Pippa runzelte die Stirn. »Lass mich raten – Teschke hat das Geschäft eingefädelt.«
»Falsch, das waren Achim Schwätzer und Hotte, unser Kassenwart. Achim hat sein Boot auf dem Gewässer und kannte deshalb die Interessenten.«
»Und wenn die zwei gemeinsame Sache gemacht und sich selber etwas in die Tasche gewirtschaftet haben? Vielleicht hat Teschke davon erfahren und …« Pippa zuckte mit den Schultern. »Du weißt schon.«
»Sag mal, was kennst du denn für Leute?«, fragte Schmidt fassungslos. »Sagt dir die Bedeutung des Wortes Freund denn gar nichts?«
»Seit ich euch kenne, zweifele ich, ob ich das Wort je richtig verstanden habe«, gab Pippa schnippisch zurück. »Und? Heißt das, du würdest Teschke und Schwätzer als Freunde bezeichnen?«
»Du brauchst gar nicht spitzfindig zu werden«, grollte Schmidt, aber dann riss er sich zusammen. »Achim ist jetzt nicht der Idealtypus eines Freundes, das gebe ich zu. Er steht gerne im Mittelpunkt, kann einfach seine Klappe nicht halten und ist ein Meister der mehr oder weniger subtilen Beleidigung.«
»Wohl eher weniger«, murmelte Pippa.
Schmidt grinste kurz und fuhr fort: »Dennoch: Er und Teschke haben sich erstaunlich gut verstanden. Sie haben sich sogar ein Zelt geteilt.«
Pippa schüttelte den Kopf. »Okay – ich gebe mich geschlagen. Ihr geht definitiv toleranter miteinander um, als ich es je mit Achim könnte. Immerhin habt ihr ihm sogar seine Angelausrüstung hinterhergeschleppt, nachdem er beleidigt vom Picknick abgerauscht ist.«
Schmidt stutzte und blickte sie fragend an. »Angelausrüstung?«
»Ihr wart alle weg, und sein Zeug lag noch da. Ich bin dann am Tisch eingenickt, und als ich aufwachte, war seine Ausrüstung verschwunden«, erklärte sie. »Ich dachte, einer von euch ist umgekehrt und hat sie geholt.«
»Von uns ist keiner umgekehrt, das weiß ich hundertprozentig sicher. Und Achim hat nichts davon gesagt, dass ihm etwas fehlt.« Er brach ab und schrieb etwas auf. »Ich muss ihn unbedingt danach fragen.«
Régine-Deux und Schmidt warfen sich einen alarmierten Blick zu. »Das heißt also, irgendjemand war auf dem Berg – oder ist noch einmal zurückgekommen – und hat die Angelausrüstung mitgehen lassen«, sagte Régine langsam.
»Keine schöne Vorstellung, dass da jemand Fremdes an mir vorbeigeschlichen ist, während ich geschlafen habe.« Pippa schüttelte sich.
»Ich bezweifle, dass es ein Fremder war. Es war jemand, der ganz sicher sein wollte, dass Sie ihn nicht verraten können, Pippa. Und er hat sich einiges einfallen lassen, um das zu erreichen.« Régine wechselte noch einen sorgenvollen Blick mit Schmidt.
»Aber Sie haben doch gesagt, dass die Jungs niemals …«, begehrte Pippa auf.
»Die nicht, aber vielleicht der Mörder von Franz Teschke«, gab Schmidt zu bedenken.
Regine erhob sich und sagte resolut zu Schmidt: »Mein Junge, an die Arbeit. Tun Sie, was Sie schon längst hätten tun sollen: Finden Sie heraus, für wen Pippa eine Gefahr darstellt und warum. Und zwar schnell. Bis dahin bleibt sie hier. Pippa braucht Ruhe. Und Sicherheit.«
Pippa wollte protestieren, kam aber nicht zu Wort, denn Schmidt nickte. »Da gebe ich Ihnen völlig recht, Régine. Behalten Sie sie ruhig noch ein wenig hier oben.«
»Moment mal!«, rief Pippa empört und sprang auf. »Du willst mich nicht nur aus der Schusslinie schaffen – du willst allein ermitteln. Das kommt überhaupt nicht in Frage. Wir sind in Frankreich, mein Lieber, und hier hast du ebenso wenig – oder so viel – Recht dazu wie ich. Ich sehe überhaupt nicht ein, dass …«
Schmidt hielt es ebenfalls nicht mehr auf dem Stuhl. »Halt doch mal die Luft an!«, fuhr er ihr ins Wort. »Sieh wenigstens ein, dass für dich …«
Beherzt stellte Régine-Deux sich zwischen die Streithähne, legte Schmidt die Hand auf die Brust und schob ihn kurzerhand Richtung Weg. »Wir bedanken uns herzlich für Ihr Kommen – ab Sonntag sind Sie hier wieder ein gern gesehener Gast. Und keinen Tag früher.«
»Aber die Liste!«, protestierte Schmidt. »Wir sollten unbedingt damit weitermachen. Und wir müssen über Jean Didier sprechen. Und morgen ist doch erst Samstag.«
»Der Scharfsinn der deutschen Polizei ist mir gerade in diesem Fall eine besondere Beruhigung«, antwortete Régine-Deux. »Bis Sonntag, Herr Kommissar.«
Erst als Schmidt außer Sicht war, setzte sich Régine wieder zu Pippa an den Tisch.
»Ehrlich, Régine – wir hätten ihm ruhig sagen können, dass ich morgen nach Toulouse will und deshalb keine Zeit für …«
»Das sehe ich anders. Je weniger Leute über Ihren Ausflug Bescheid wissen, desto besser. Und auf keinen Fall benutzen Sie die Fahrkarte.«
Pippa sah ergeben ein, dass es keinen Sinn hatte, gegen ihre entschlossene Gastgeberin Widerstand zu leisten. »In Ordnung. Wann geht denn der nächste Bus?«
»Das wird schwierig. Im Winter fahren nicht viele Busse nach Tolosa.«
»Winter?« Pippa zeigte hinauf zur Sonne. »Es ist brütend heiß! Wann fängt denn bitte bei euch der Sommer an?«
»Am 6. Juli, am ersten Ferientag«, erwiderte Régine todernst, »dann legen wir den Schalter um – bis dahin gilt der Winterfahrplan.«
Pippa forschte im Gesicht der Wirtin vergeblich nach einem Zeichen für Ironie. »Das ist nicht euer Ernst?«
Régine nickte. »Aber selbstverständlich. Und deshalb bringe ich Sie morgen früh auf meiner Vespa an die Bahn nach Castelnaudary. So weiß niemand, wo Sie sind. Nicht einmal die Person, die so großes Interesse daran hat, Sie nach Tolosa zu schaffen.«
»Sie glauben also wirklich, dass mich jemand aus dem Weg haben will? Ehrlich, Régine, das kann ich einfach nicht glauben.«
»Ich bin anderen gerne einen Schritt voraus, meine Liebe. Und jetzt zeigen Sie mir die Liste!«
Gehorsam schob Pippa die Liste über den Tisch, und Régine-Deux studierte aufmerksam die Notizen. Dann kräuselte die Wirtin die Lippen und sagte: »Wie gut, dass niemand weiß, wo Sie morgen sind.«
»Wieso?«
Régine-Deux hielt ihr die Liste vors Gesicht. »Fällt Ihnen denn nichts auf?«
So sehr Pippa auch suchte, sie fand nichts. »Nein.«
»Sie sagten doch, Ihr Kommissar Schmidt sei unsterblich in Tatjana Remmertshausen verliebt.«
Pippa nickte.
»Und deshalb gibt er Sie als seine Phantomgeliebte aus?«
Wieder nickte Pippa nur.
»Er kennt jede Person auf dieser Liste, kann sie einschätzen und hat ihr mögliches Motiv und ihr jeweiliges Alibi festgelegt?«
Erneut nickte Pippa, ohne zu verstehen, worauf Régine hinauswollte.
»Er hat sich ausgiebig zu allen Kiemenkerlen geäußert.« Ihre Gastgeberin sah sie durchdringend an. »Nur was er selbst getan und gesehen hat, das wissen wir nicht. Er steht nicht auf der Liste. Sieht aus, als hätte Kommissar Schmidt etwas zu verbergen.«