Kapitel 12

Ein Klopfen an der Tür weckte Pippa am nächsten Morgen.

Ich hoffe, das wird nicht zur Gewohnheit, Kommissar Schmidt, dachte sie grimmig, und auch noch zwei Stunden früher als gestern. Schlaftrunken quälte sie sich aus dem Bett und öffnete. Ohne hinzusehen, drehte sie sich wieder um und tappte in Richtung Bad.

»Hoffentlich ist das Ei nicht wieder hart«, knurrte sie.

»So anspruchsvoll am frühen Morgen?«

Pippa erstarrte zur Salzsäule. Das war nicht Schmidts Stimme. Auch nicht die von Pascal. Das war …

Fassungslos fuhr sie herum. »Leo!« Das war alles, was sie herausbrachte.

Leonardo Gambetti betrat die Wohnung und schloss so lässig die Tür, als wäre es die normalste Sache der Welt, dass er nicht in Florenz, sondern in Chantilly-sur-Lac war.

»Wie ich sehe, bin ich nachts immer bei dir«, sagte er und deutete auf ihr Michelangelo-Nachthemd.

Das muss ein Alptraum sein, dachte sie, ein fürchterlicher Alptraum. Ich mache jetzt die Augen zu, und wenn ich sie wieder öffne, ist er weg. Sie zwinkerte, aber auch danach stand Leo immer noch mitten im Zimmer und strahlte sie an.

»Was willst du hier?«, fauchte sie.

Statt einer Antwort kam Leo mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, und sie wich zurück, bis sie die Wand in ihrem Rücken spürte.

»Wage es nicht, Leo. Woher weißt du, dass ich hier bin?«

Ihr Noch-Gatte hob beide Hände und grinste. »Ede Glasbrenner hat eine verboten niedrige Rente.«

Deshalb der kryptische Anruf von Sven und Lisa, dachte Pippa. Es ging gar nicht um die Frankreich-Reise der beiden.

»Jetzt begreife ich auch, warum in der Transvaal alle verrückt spielen – deinetwegen!«

»Immerhin habe ich es geschafft, hier zu sein, bevor man dich warnt«, sagte er. »Wäre auch zu schade gewesen. Ich liebe Überraschungen.« Sorgfältig zupfte er eine imaginäre Fluse vom Ärmel seines Leinenhemdes. »Du könntest dich ruhig ein bisschen freuen. Ich bin die ganze Nacht durchgefahren, um dich zu sehen. Und du weißt, wie sehr ich lange Autofahrten hasse.«

»Hör auf damit«, gab sie ungeduldig zurück. »Wieso bist du hier, Leo?«

»Aber Schatz!« Er schüttelte amüsiert den Kopf. »Das sollte doch wohl klar sein. Ich will dich nach Hause holen. Florenz ist so leer ohne dich.«

»Wieso? Gibt es dort keine Frauen mehr, die du noch nicht mit deiner Zuneigung beglückt hast?«

Sein Lächeln verschwand. »Nun sei doch nicht so nachtragend. Müssen wir diese alten Kamellen immer wieder aufwärmen?«

Ich darf mich auf diese Diskussion nicht einlassen, beschwor sich Pippa, bloß nicht ablenken lassen.

»Warum bist du hier?«, wiederholte sie unerbittlich. »Sag es – und dann verschwinde wieder.«

Statt ihre Frage zu beantworten, ging er zum Kühlschrank und sah hinein. »Ich habe noch nicht gefrühstückt. Ich schlage vor, wir lassen uns etwas kommen und besprechen alles in Ruhe.«

Pippa schnappte nach Luft. »Was gibt es denn zu besprechen, das wir nicht schon hundert Mal besprochen haben?«

»Unsere Ehe.«

»… ist vorbei, mein Lieber. Oder sind dir die Scheidungspapiere nicht zugegangen?«

»Ich glaube einfach nicht, dass du die Scheidung willst. Ich dachte, du liebst mich. Ich habe akzeptiert, dass du etwas Zeit für dich brauchtest … aber jetzt …« Er zauberte ein liebevolles Lächeln ins Gesicht. »Du hast doch noch Gefühle für mich, oder, cara mia? Ich jedenfalls liebe dich noch wie am ersten Tag. Und ich bin gewillt, das zu beweisen.«

Da war er wieder – der charmante Italiener mit dem Schmelz in der Stimme, in den sie sich verliebt hatte. Er war der attraktivste Mann, den sie kannte: hochgewachsen, eisgraue Haare, Lachfältchen im braungebrannten Gesicht, stets lässig-elegant gekleidet, immer bella figura.

Und natürlich hatte sie noch Gefühle für ihn – wie könnte sie nicht? Nur durch die Entfernung zwischen Florenz und Berlin hatte sie es geschafft, sich von ihm zu lösen.

Abrupt drehte sie sich um und ging ins Bad.

Geduscht und angekleidet fühlte sie sich deutlich stärker. Als sie ins Zimmer zurückkam, stand Leo an ihrem Schreibtisch und blätterte in ihren Arbeitsunterlagen.

»Na, wie macht sich deine Übersetzung? Professore Libri hat interessante Ansätze, nicht wahr?«

»Woher …?« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Du hast von der Festschrift gewusst. Moment – hast du den Auftrag eingefädelt?«

»Natürlich, ich habe dich vorgeschlagen«, erwiderte er stolz. »Wie hätte man sonst wohl auf dich kommen sollen?«

»Ja, wie wohl«, sagte sie resigniert. Die Erkenntnis, dass sie den Auftrag nicht ihrem guten Namen als Übersetzerin verdankte, enttäuschte sie zutiefst.

»Professore Libri nutzt unsere Dienste seit vielen Monaten. Vor allem für seine privaten Belange. Er zahlt gut. Und ich wollte dir mit diesem Auftrag zeigen, welch interessante Arbeit in Italien auf dich wartet, cara

»Unsinn. Du willst, dass ich dir dankbar bin. Und du willst mich daran erinnern, wie leicht ich über dich immer an Übersetzungsaufträge gekommen bin.«

Als Antwort zuckte er mit den Schultern und strahlte sie an.

»Bezeichnend, dass du ausgerechnet dieses Thema ausgewählt hast, Leo. Neben deinem Macho-Gehabe wirkt Hemingway wie ein weichgespülter Kuschelbär.«

Er zuckte nicht mit der Wimper. »Wo wir gerade von Übersetzungen sprechen: Deine Anwesenheit in Italien ist mehr als erwünscht. Und zwar über die drei Trennungsjahre hinaus.«

»Und ich dachte immer, Trennung bedeutet, sich nicht zu sehen. Das habe ich wohl gänzlich falsch verstanden.«

Ihre Ironie prallte wirkungslos an ihm ab. »Ich bin Anfang des Jahres in das Übersetzungsbüro meines Bruders eingestiegen«, fuhr er ungerührt fort. »Seit Claudio von Carla geschieden ist, schafft er die Arbeit nicht mehr allein, zumal wir expandieren wollen. Wir planen ein Büro in Mailand und eins in Venedig.«

»Du bist nicht mehr an der Uni? Ich fand immer, du passt perfekt an die Fakultät, an der Boccaccio sein Decamerone geschrieben hat.«

»Er hat Lektionen über Dantes Göttliche Komödie gehalten – das Decamerone hat er in seiner Freizeit geschrieben«, dozierte Leo prompt.

»Eben – genau wie du«, schoss Pippa zurück.

Leo runzelte die Stirn und sah sie grimmig an. Ihr fiel ein, dass er es nicht leiden konnte, wenn man sich über ihn lustig machte.

»Ich will mir mit den Büros ein zweites Standbein aufbauen«, sagte er schließlich. »Mehr zu Hause arbeiten. Hast du dir das nicht immer gewünscht?«

»Ja, damals, als ich noch bei Claudio arbeitete. Jetzt nicht mehr. Du scheinst vergessen zu haben, dass ich bereits länger als ein Jahr aus Florenz weg bin.«

»Und genau das will ich wieder ändern.«

Er drehte sich um und ging zur Tür, denn es hatte geklopft.

Sichtlich verblüfft starrte Alexandre Tisserand den unbekannten Mann an, der ihm geöffnet hatte.

Dann spähte er an Leo vorbei, entdeckte Pippa und sagte: »Guten Morgen, Pippa. Da bin ich.« Er warf einen irritierten Blick auf seine Armbanduhr. »Bin ich zu früh? Die Forellen warten auf uns.«

»Nein, Alexandre, nur …«, setzte Pippa an, wurde aber von Leo unterbrochen: »Pippa ist beschäftigt. Sie geht dann später. Lassen Sie ihr einfach ein paar Forellen übrig.«

»Leo!«, rief Pippa empört.

Sie ging an ihm vorbei zu Tisserand und sagte: »Hör nicht auf ihn. Ich komme natürlich mit – nur nicht sofort. Macht es dir etwas aus, wenn wir erst am Mittag gehen? Sagen wir, zwölf Uhr im Pavillon?«

»Das ist zwar nicht die beste Angelzeit, aber im Wald ist es immer schattig und kühl. Ich könnte auch den anderen Blinkerbabys Bescheid sagen. Dann ziehen wir die Praxisstunde am Fließgewässer einfach vor.«

»Das ist eine gute Idee, Alexandre. Bis nachher.«

Sie schloss die Tür hinter ihm und dachte: Du hast mir gerade die Einzelstunde mit einem wirklich netten Mann vermasselt, Leo. Damit heftest du dir keinen Orden an die Brust.

»Willst du mich nur als Leiterin deiner venezianischen Filiale oder als Ehefrau?«, fragte sie ihn angriffslustig.

Leo blickte nachdenklich an ihr vorbei auf die geschlossene Tür. »Der mag dich«, sagte er.

»Ich weiß«, schnappte Pippa. »Und ich ihn auch.«

Er sah ihr ernst in die Augen. »Ich will keine Scheidung. Ich will weiter mit dir zusammen leben und arbeiten.«

»Florenz und Venedig sind nicht gerade Nachbarstädte. Zwischen ihnen dürften … warte mal … knapp dreihundert Kilometer liegen.«

»Deswegen habe ich vor, nach Venedig zu ziehen. Und dann fangen wir noch einmal ganz von vorne an, Pippa. Neue Stadt – neues Glück.«

»Ich komme nicht dahinter, was da wirklich im Busch ist. Könntest du mal alle Karten auf den Tisch legen, Leo?«

»Ich weiß doch, dass Venedig dir immer besser gefallen hat als die Toskana«, sagte er schmeichelnd.

Wider Willen musste Pippa zugeben, dass Leo überaus geschickt taktierte. Es war immer ihr Traum gewesen, in Venedig zu leben, aber er hatte stets damit argumentiert, an der dortigen Universität würde er keine der begehrten Stellen bekommen.

Sie spürte, wie sie ins Schwanken geriet. Eine feste Stelle in Venedig, nicht nur für sie selbst, sondern auch für Leo …

»Und du bist doch immer so gut mit Carla ausgekommen. Sie zieht wahrscheinlich auch nach Venedig, zu ihrem Onkel«, setzte er nach.

Auch damit hatte Leo absolut recht, denn ihre Schwägerin Carla und deren Tochter Vera waren Pippa während ihrer Zeit in Florenz sehr ans Herz gewachsen. Sie vermisste sie jetzt ebenso sehr wie damals, als sie in Florenz lebte, ihre eigene Familie und die Wittigs.

Verdammt, ich darf mich von Leo nicht einlullen lassen, dachte sie ärgerlich. »Carlas Scheidung von deinem Bruder ist also endlich durch«, sagte sie, »die Glückliche. Ich habe leider noch drei lange Jahre vor mir.«

Leos Gesicht verdüsterte sich. Er wollte etwas entgegnen, wurde aber wieder durch ein Klopfen unterbrochen.

»Was zum …«, fauchte er und stürmte zur Tür, die er mit einer heftigen Bewegung aufriss.

Pascal, ein Frühstückstablett in den Händen, sah Leo hochmütig an und stolzierte ohne Gruß an ihm vorbei ins Zimmer.

»Guten Morgen, Pippa. Alles in Ordnung bei dir? Der Maler hat gesagt, du könntest eine Stärkung gebrauchen.« Er stellte das Tablett auf dem Tisch ab.

Sein aggressiver Ton ließ keinen Zweifel daran, dass er eigentlich Verstärkung meinte.

Allmählich fand Pippa die Situation amüsant. Attraktive Männer gaben sich bei ihr die Klinke in die Hand und beäugten einander wie Kampfhähne. Schade, dass Wolle davon nichts mitbekommt, dachte sie, das wäre wirklich die Krönung.

»Darf ich die Herren einander vorstellen?«, sagte sie. »Leo Gambetti, mein Noch-Ehemann – Pascal Gascard, unumschränkter und souveräner Herrscher über die Küche des Vent Fou.« Sie lächelte. »Und über meinen Magen.«

Pascal erwiderte ihr Lächeln erfreut und warf Leo einen angriffslustigen Blick zu. »Und weit mehr als ein guter Freund – wenn Pippa das will.«

»Und das sagen Sie in Gegenwart ihres Ehemannes?«, fragte Leo empört. »Ich finde das ganz schön dreist.«

Aber Pascal ließ sich nicht einschüchtern und ging einen Schritt auf Leo zu. »Wie können Sie es wagen, hier unangemeldet aufzutauchen? Das finde ich dreist. Pippa hat längst ihr eigenes Leben.«

»Wo denn – hier etwa?« Leo lachte spöttisch auf. »In diesem sogar von den Franzosen vergessenen Nest? Was haben Sie ihr denn schon zu bieten?«

Pascal schnappte nach Luft und stemmte die Hände in die Seiten. »Ein erstklassiges Restaurant, zehn Ferienwohnungen und einen Campingplatz – mitten in der Idylle. Bei mir bräuchte Pippa sich nie wieder mit Übersetzungen abzuquälen.«

»Dafür dürfte sie neben Kartoffeln schälen, Betten machen und Toiletten putzen dann wohl auch keine Zeit mehr haben.« Leo grinste süffisant. »Ich biete ihr ein Leben in Venedig!«

Pascal winkte ab. »Dorthin fährt man im Urlaub – da wohnt man nicht. Immer nur Filmkulisse ist auf Dauer stinklangweilig.«

»Und dann euer Essen … ein Trauerspiel.« Leo schüttelte demonstrativ bekümmert den Kopf. »Ihr wisst doch nicht einmal, wie man eine vernünftige Tomatensoße kocht.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass es Pippa auch nur einen Tag nach Pasta verlangt hätte. Bisher ist sie mit dem, was ich koche, mehr als zufrieden.«

»Und die Preise für eure Weine! Pippa liebt Pinot Grigio und kühle moussierende Weißweine. Die kann sich doch hier kein Mensch leisten.«

Ein Lächeln breitete sich auf Pascals Gesicht aus. »Hier gibt es Blanquette – und das Vent Fou bekommt Rabatt«, erwiderte er ungerührt.

Jetzt reicht es aber langsam, dachte Pippa. Nicht nur, dass die beiden sich aufführen wie kleine Jungen beim Wettpinkeln – sie reden auch noch über mich, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.

Bevor Leo auf Pascals letzte Bemerkung reagieren konnte, hob sie die Hand.

»Stopp. Beide. Und raus hier – ebenfalls beide. Ich möchte in Ruhe und Frieden frühstücken und arbeiten, und danach habe ich eine Verabredung.«

Sie öffnete auffordernd die Tür, und die beiden Männer setzten sich widerwillig in Bewegung.

»Ich hole dich zum Lunch ab«, sagte Leo und fügte mit einem Seitenblick auf Pascal hinzu: »Hier wird sich doch irgendwo ein halbwegs anständiger Italiener finden lassen, oder?«

Ohne zu antworten, knallte Pippa die Tür hinter den beiden zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihr Herz klopfte heftig, und sie brauchte einen Moment, um ihre Fassung halbwegs zurückzuerlangen.

Die Männer hatten um ihre Zukunft gestritten, und offenbar hatte jeder von ihnen ganz klare Vorstellungen davon, wie diese aussehen sollte. Von Leo war sie das gewöhnt, aber dass Pascal konkret ein Leben mit ihr plante, hatte er ihr bisher nicht signalisiert.

Sie ging zum Tisch, biss lustlos in ein Croissant und legte es wieder weg – ihr war der Appetit vergangen. Vielleicht würde die Arbeit ihr helfen, wieder einen freien Kopf zu bekommen.

Am Schreibtisch nahm sie den Stapel Briefe zur Hand, den sie sich für diesen Morgen zurechtgelegt hatte. Er war mit Ein Tag, der morgens beginnt, kann nicht mehr gut werden beschriftet.

Mühsam rang sie um Konzentration. Sie las die Texte, schlug einzelne Worte nach – und hatte sie vergessen, kaum dass das Wörterbuch zugeschlagen war. Immer wieder erwischte sie sich dabei, dass sie gedankenverloren am Stift kaute und abwesend dasaß. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, und kein einziger davon hatte im Entferntesten mit Hemingway zu tun.

Sie sprang auf und lief unruhig in der Wohnung auf und ab.

Es ging um ihre Zukunft. Plötzlich stand wieder in den Sternen, was gestern noch geregelt schien. Nach langem Hadern hatte sie die Scheidung eingereicht und damit die Weichen für ein neues Leben gestellt, und prompt tauchte Leo auf und warb um ihre Rückkehr. Auch Pascal wollte sie an seiner Seite – und bot als Mitgift ein gutgehendes Unternehmen.

Sie ertappte sich dabei, dass sie schon eine ganze Weile vor dem geöffneten Kühlschrank stand und hineinstarrte. Sie hatte keinen Schimmer, was sie dort holen wollte.

Sie schlug die Tür des Kühlschranks zu und griff kurz entschlossen zum Telefon. Nacheinander wählte sie die Nummern von Karin Wittig, Oma Hetty und ihren Eltern, aber niemand hob ab.

Ich brauche frische Luft, dachte sie.

Pippa verließ ihre Wohnung, öffnete den Notausgang, stellte wieder einen Schuh in die Tür und setzte sich auf die Treppe. Unten am Pool fischte Ferdinand mit einem Kescher Blätter aus dem Wasser. Trotz des frühen Morgens lag bereits eine leichte Schwüle in der Luft.

Als sie ein Geräusch hinter sich hörte und sich umblickte, bemerkte sie, dass sie genau auf der Höhe von Tatjanas Fenster saß und diese gerade ihr Studio betrat. Rasch stieg Pippa ein paar Stufen weiter hinunter, um nicht den Eindruck einer neugierigen Beobachterin zu erwecken.

Gerade gesellte Lisette sich zu Ferdinand, zeigte zum Himmel und redete mit ihm. Er nickte und legte die Regenabdeckung für den Pool zurecht.

Pippa zog die Knie an und vergrub das Gesicht in den Händen. Zu gern hätte sie sich jetzt bei irgendjemandem Rat geholt. Leise Schritte auf der eisernen Wendeltreppe ließen sie den Kopf heben.

Lisette kam herauf und setzte sich neben sie. »Ist Ihre Rangliste gerade durcheinandergeraten, meine Liebe?«

»Hier spricht sich ja alles sehr schnell herum«, sagte Pippa.

»Es ließ sich nicht übersehen. Besser gesagt: überhören. Pascal flucht in der Küche vor sich hin, lässt alles fallen und hat das Soufflé versalzen. Das ist ihm noch nie passiert. Aber man sagt ja: Wenn der Koch verliebt ist …«

»Schön, dass er wenigstens anderen gegenüber deutlich wird – ich konnte über seine Absichten bisher nur spekulieren.«

»Er ist eben schüchtern«, sagte Lisette und lächelte, »wir Elsässer sind so. Nicht so feurig wie die Leute hier – und erst recht nicht wie Ihr Italiener. Aber dafür sind wir treu und verlässlich.«

»Ach ja? Treu? Und was ist mit Tatti?«

»Tatjana Remmertshausen.« Lisette seufzte. »Die ist ein Kapitel für sich.«

»Dann schlagen Sie es bitte für mich auf und lesen mir daraus vor. Ich denke, unter diesen Umständen sollte ich Bescheid wissen, denken Sie nicht?«

Lisette warf einen Blick zu Tatjanas Fenster hinauf und vergewisserte sich, dass es geschlossen war. Trotzdem senkte sie die Stimme, als sie sagte: »Tatjana wollte mit Pascal ihren Mann eifersüchtig machen. Und ihn zum Handeln zwingen. Pascal war damit einverstanden.«

»Sie meinen, die Liebelei war abgesprochen?« Damit hatte Pippa nicht gerechnet.

»Es war keine Liebelei, sondern Schauspielerei. Aber es hat nichts genützt. Gerald Remmertshausen hat nicht reagiert. Er hat in aller Ruhe zugesehen und darauf gewartet, dass sie zu ihm zurückkommt. Das tut sie immer. Sie geht immer zu ihm zurück. Jedes Mal. Nach jedem Versuch, ihn aus der Reserve zu locken. Nur diesmal nicht.«

»Sie hat sich wirklich in Pascal verliebt?«, fragte Pippa erstaunt.

Lisette deutete über das Anwesen. »Wohl eher in all das hier. Als Chefin des Vent Fou bewundert werden und im Mittelpunkt stehen – das würde ihr gefallen.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr mit harter Stimme fort: »Aber uns nicht.«

Aha, Pascal darf also nicht jede x-Beliebige mit nach Hause bringen, dachte Pippa, sein Erbe ist doch an Bedingungen geknüpft.

»Pascal braucht keine hübsche Puppe zum Repräsentieren – er braucht eine tatkräftige Frau. So wie Sie, Pippa. Wie ist es mit Ihnen? Ist Pascal Teil Ihrer Zukunftspläne?«

Pippa verschlug es die Sprache. Ob Pascal seine Chefin vorgeschickt hatte, um die Lage zu sondieren und sie weichzukochen?

Sie fand, dass diese direkte Frage eine Grenze überschritt, zumal es zwischen Pascal und ihr bisher keine Situation gegeben hatte, die mehr als freundschaftlich war. Ehrlicherweise musste sie allerdings zugeben, dass sie sich nicht gewehrt hätte, wäre es zu einem Kuss gekommen.

Pippa spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde, weil sie mit der einzig möglichen Antwort auf Lisettes Frage, einem klaren und deutlichen Nein, bereits viel zu lange gewartet hatte.

Lisette nickte zufrieden, erhob sich und sagte: »Lassen Sie sich mit Ihrer Entscheidung nicht zu viel Zeit, Pippa. Wie ich höre, werden Sie demnächst vierzig. Ihre biologische Uhr tickt. In Ihrem Alter kann man sie leider kaum noch überhören.«

Sie stieg ein paar Stufen hinab und fuhr fort: »Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich – ich habe stets vermeintlich wichtigere Dinge vorangestellt: Arbeit, Arbeit, Arbeit, das Hotel, die Abzahlung der Schulden. Und dann war es zu spät.«

»Sie haben keine Kinder?«

»Nur Jean, wenn man so will.«

»Die Didiers haben also recht: Es ging Ihnen nicht allein darum, Jean hier als Erben einzusetzen.«

Lisette nickte traurig. »Ich will ehrlich sein. Es war eine ganze Menge Eigennutz dabei. Wir wollten Jean ganz auf unsere Seite ziehen. Wir wollten einen eigenen Sohn.« Sie wandte den Blick ab. »Ohne uns hätte er sich seinem Vater gegenüber nicht so stark gefühlt, hätte sich nicht so aufgeführt. Auch wir tragen Schuld an dieser Geschichte.«

Spontan entschied Pippa, dass jetzt der richtige Zeitpunkt war, Lisette mit Catelines Bitte zu konfrontieren.

Lisette hörte ihr mit unbewegtem Gesicht zu, ohne sie zu unterbrechen. Als Pippa schilderte, weshalb sie annahm, dass Cateline Jean nicht wiedersehen wollte, schüttelte Lisette vehement den Kopf.

»Das ist ganz sicher nicht der Grund. Ich glaube, sie wusste sehr bald, wo Jean sich aufhielt. Wenn er wirklich verliebt in sie war, hat er sich nach seinem Verschwinden auch bei ihr gemeldet. Schon allein deshalb, um herauszufinden, wie es ihr geht. Aber Cateline hat sich entschieden, niemandem davon zu erzählen.« Sie verfiel in nachdenkliches Schweigen.

Plötzlich sagte sie: »Catelines Ehe mit Thierry ist wirklich glücklich. Niemand außer ihr könnte es mit diesem alten Brummbären aushalten. Ihre Kinder sind ihr Ein und Alles. Sie will keine Aufklärung, um das alles nicht zu zerstören, da bin ich sicher. Und Jeans Rückkehr würde es zerstören.«

»Sie gehen davon aus, Cateline weiß, dass er noch lebt?«

Lisette nickte. »Und mehr noch: Sie bezahlt ihn wahrscheinlich dafür, dass er nicht wiederkommt.«

»Wie bitte? Meinen Sie das ernst?«, rief Pippa verblüfft. »Aber warum dann die Gerüchte und die Geheimnistuerei? Das ist doch völlig unsinnig. Wie kann man so etwas über Jahre hinweg aushalten? Wer steht denn schon gerne freiwillig unter Mordverdacht?«

»Das will ich Ihnen sagen.« Lisette stieg langsam die Stufen der Treppe hinab und sagte mehr zu sich selbst: »Eine Frau, die nicht mit der zwanzig Jahre jüngeren Version ihres alternden Mannes konfrontiert werden will.«

Pippa blieb stumm auf der Treppe zurück, während Lisette aufrechten Ganges um die Hausecke verschwand. Durch das Gespräch mit Lisette waren ihre eigenen Probleme in den Hintergrund getreten, und sie freute sich auf ihre Verabredung mit Tisserand.

Sie sprang auf, nahm ihren Schuh aus der Tür und ging noch einmal in die Wohnung, um ihre Haare à la sechziger Jahre mit einem Tuch zu bändigen. Sie schlang es um den Kopf, kreuzte die Enden unter dem Kinn und verknotete sie im Nacken. Bei einem kritischen Blick in den Spiegel dachte sie: Wie Grace Kelly – fast.

Dann verließ sie das Haus wieder durch die Notausgangtür, rannte die Wendeltreppe hinunter und machte sich auf den Weg.

Der Pavillon lag verlassen in der Mittagssonne. Pippa vermutete, dass Tisserand noch damit beschäftigt war, die anderen Blinkerbabys zusammenzutrommeln. Sie stellte sich an die Brüstung und blickte über das Wasser zum Lager der Angler. Selbst aus der Entfernung sah sie, dass dort große Geschäftigkeit herrschte.

Ist es wirklich erst wenige Tage her, dass ich in Chantilly angekommen bin?, fragte sie sich. Pia hat recht, dieser Ort wirbt nicht offen für sich, aber er lässt jeden bei sich ankommen. Ein Ort, an den man immer wieder zurückkehren – oder für immer bleiben möchte. Sie war so in die Betrachtung der Landschaft versunken, dass sie dem Geräusch hinter sich keine Beachtung schenkte. Erst als jemand hüstelte, drehte sie sich um und blickte in Pascals ernstes, aber wild entschlossenes Gesicht.

Sieh an, dachte Pippa, Lisette hat dich geschickt.

»Lisette und ich meinen … ich glaube, ich muss endlich …« Pascal brach ab und rang um Worte. »Ich mag dich sehr gern, Pippa. Und zwar schon länger, als du denkst.«

Wie lange soll das sein? Fünf Tage?, dachte Pippa und fragte: »Wie meinst du das?«

Er wand sich verlegen. »Pia hat immer so viel von dir erzählt, und dann bin ich extra nach Berlin, und dann habe ich …«

Sofort fiel sie ihm ins Wort. »Bitte? Pia und du? Ihr habt mich für dich hergelockt?«

Er nickte. »Und Lisette und Ferdinand.«

»Sind das schon alle?«, fragte sie trocken. »Zu einer ordentlichen Verschwörung gehören doch ein paar mehr Leute.«

Sie war kaum überrascht, als er wieder nickte.

»Deine Freundin Karin, deine Oma Hetty …«

Pippa ließ sich auf die Bank fallen. »Das ganze Theater in Berlin um meinen Geburtstag – eine einzige Inszenierung. Wäre es nicht viel einfacher gewesen, man hätte uns einfach einander vorgestellt?«

»Alle waren der Meinung, dass das Leo auf den Plan rufen würde. Weil er dich trotz allem keinem anderen Mann gönnt.«

Er setzte sich zu ihr auf die Bank und nahm ihre Hand. »Bitte, Pippa, geh nicht zurück nach Italien«, sagte er beschwörend, »bleib in Chantilly. So lange du willst. Ich möchte dich wirklich näher kennenlernen, und ich hoffe, du mich auch.«

Obwohl sie überrumpelt war, versuchte Pippa, besonnen zu bleiben. Sein Gesicht wirkte offen und ehrlich, seine Augen waren liebevoll und sehnsüchtig. Und Lisette glaubt, Pascal hat kein Feuer?, dachte sie. Dann kennt sie aber diesen Blick nicht.

Pippa war so abgelenkt, dass sie Leos Ankunft im Pavillon nicht bemerkte, bis er sich theatralisch vor ihr auf die Knie warf und ausrief: »Bitte, Pippa, lass uns verheiratet bleiben! Komm mit mir zurück nach Hause!«

Als wäre sein Nebenbuhler nicht da, sagte Pascal ruhig: »Sieh dir hier alles in Ruhe an, Pippa. Überleg dir gut, was du tust. Bald werden auch Pia und ihre Familie hier wohnen. Du hättest Freunde hier.«

Leo warf dem Koch einen giftigen Blick zu. »Denk an deine Familie in Italien, denk an Carla, an Vera. Sind sie dir gar nicht wichtig?«

Pippas Gedanken liefen Amok. Sie fühlte sich bedrängt, und das machte sie wütend. Wenn Pascal und Leo sie weiterhin derart unter Druck setzten, würde sie beide zum Teufel jagen, und zwar ohne Aussicht auf Wiederkehr.

Sie wollte den beiden Männern diese Entscheidung gerade mitteilen, als sie hörte, dass jemand laut und aufgeregt ihren Namen rief.

Pippa drehte sich um und sah, dass Bruno quer über die Picknickwiese zum Pavillon stürmte. Alles an seiner massigen Gestalt war in Bewegung, während er wild mit den Armen ruderte und seine stampfenden Füße kleine Grassoden nach rechts und links fliegen ließen.

Am Pavillon angekommen, beugte er sich japsend vor, stützte beide Hände auf den Oberschenkeln ab und keuchte: »Pippa, du musst sofort mitkommen … Wolle …« Er konnte nicht weitersprechen und rang um Atem. Dann rief er: »Wolle hat mich geschickt … etwas Furchtbares ist geschehen … etwas ganz Furchtbares …«

Er richtete sich mühsam auf. Seine Augen waren voller Entsetzen, als er hinzufügte: »Franz Teschke ist tot.«

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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