Kapitel 30

Im Veranstaltungssaal des Vent Fou herrschte eine so ausgelassene Stimmung wie beim Unterhaltungsprogramm eines Ferienclubs.

»Die scheinen das alles für einen Riesenspaß zu halten. Fehlt nur noch die Polonaise mit einem Animateur an der Spitze«, murmelte Pippa Wolfgang Schmidt zu.

Abgesehen davon, dass sich überall Gepäck türmte, hatten die Angler es sich gemütlich gemacht. Einige spielten Skat, alle tranken Wein, ein Kofferradio dudelte.

»… der hat Hotte und mich zwei Stunden lang mit unserem Ruderboot kreuz und quer über den See gezogen, bis er endlich genug hatte!«, erzählte Rudi gerade und breitete die Arme weit aus. »Ein Prachthecht, bestimmt anderthalb Meter lang! Stimmt’s, Hotte?«

»Wenn nicht noch länger«, bestätigte dieser. »Wir wären beinahe gekentert, als wir den Kawenzmann ins Boot gehievt haben. Als Köder haben wir lediglich Dosenmais benutzt!«

Sissi riss bewundernd die Augen auf. Lothar und Blasko stießen sich grinsend an, prosteten Rudi und Hotte aber so anerkennend zu, als würden sie die Geschichte glauben.

»Kennt ihr den Witz von dem Angler, der ein Portemonnaie mit fünfhundert Euro aus dem See gezogen hat?«, fragte Blasko in die Runde. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Am nächsten Tag riefen dreihundert Kollegen an und wollten wissen, welchen Köder er benutzt hat!«

Die Männer grölten vor Lachen, und Hotte rief: »Das nenne ich mal ein amtliches Abschiedsfest! Auf Lisette und Ferdinand!«

Schmidt verdrehte die Augen und klatschte laut in die Hände, um sich Gehör zu verschaffen. Alle sahen ihn neugierig an.

»Ich will euch nicht den Spaß verderben«, sagte Schmidt, »aber hier im Ort sind alle in höchster Alarmbereitschaft wegen des Sturms. Das hier ist eine Notunterkunft, Männer. Mit allem, was dazugehört. Keiner weiß, wie lange wir uns hier verschanzen müssen. Aber bevor wir uns weiter häuslich einrichten, sollten wir die Reste des Lagers abbauen und den Bus hinter das Vent Fou in die Remise fahren.«

»Damit kommst du reichlich spät!« – »Alles längst passiert!« – »Erzähl uns mal was Neues, Wolle!« – »Hat Gendarm Dupont uns schon gesagt, und wir haben pronto reagiert!«, riefen die Männer durcheinander und wandten sich wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen zu.

»Bitte? Dupont hat mich doch gerade gebeten, das in die Hand zu nehmen«, fragte Schmidt entgeistert. »Wie geht denn das?«

»Wenn du wüsstest, was hier alles geht«, erwiderte Pippa.

Pippa suchte sich eine ruhige Ecke, zog ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Régine-Deux, um mit der umtriebigen Paradies-Wirtin ein Hühnchen zu rupfen.

»Falsche Schlange«, sagte Pippa nur, als Régine sich meldete.

»Oh, danke.« Régine-Deux war geschmeichelt. »Ich denke wegen meines darstellerischen Talents tatsächlich daran, eine Laienspielgruppe für okzitanische Stücke zu gründen.« Ernst fuhr sie fort: »Ihr Scharfsinn ist aber auch nicht zu verachten. Wie sind Sie uns auf die Schliche gekommen?«

Pippa berichtete von den verräterischen Zeitungsausschnitten und ihrem Gespräch mit Karin Wittig.

»Und dann haben die Jungs Ihnen alles gestanden, nur weil Sie Druck gemacht haben? Chapeau, meine Liebe. Ich dachte schon, ich müsste tatsächlich eine Gegenüberstellung inszenieren.«

Wider Willen musste Pippa lachen. »Gott bewahre, Sie haben wirklich genug inszeniert! Aber Spaß beiseite – wie geht es euch oben auf dem Berg?«

»Wegen des Autan? Wir sind für alles gerüstet. Die Damen Auerbach und Keller kennen den schwarzen Wind schon vom letzten Jahr und wappnen sich bereits mit Cinsault aus meinem Weinkeller.« Régine hüstelte und fügte leiser hinzu: »Wenn es ganz schlimm wird, ist ja Bruno hier und beschützt uns.«

Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die weniger hilflos wirkt als du, dachte Pippa, sagte aber: »Dann kann Ihnen ja nichts passieren.«

»Das will ich doch nicht hoffen!«, rief Régine entrüstet und brachte Pippa damit zum Lachen.

»Eine Bitte habe ich noch: Sind Sie so nett und holen mir Tatjana ans Telefon?«

»Tatjana ist schon vor Stunden ins Tal aufgebrochen. Ist sie nicht bei euch?«

»Jedenfalls nicht hier unten bei den anderen. Dann schaue ich auf ihrem Zimmer nach. Bis bald, Régine, wir sehen uns nach dem Sturm.«

»Moment!«, rief die Wirtin und sagte vorsichtig: »Pippa, vertrauen Sie den Jungs. Jean und Pascal sind Goldstücke, genau wie der Professor. Aber die anderen Männer … seien Sie bitte vorsichtig, ja?«

»Was meinen Sie?«, fragte Pippa erstaunt.

Régines Stimme war eindringlich. »Wenn sich herumspricht, dass Sie Tisserand entlarvt oder vielmehr Jean gefunden haben, dann wird es der Person, die Sie durch die Rigole geschickt hat, mulmig werden. Dann bekommt sie Angst, dass es auch ihr an den Kragen geht. Das könnte für Sie gefährlich werden.«

»Noch gefährlicher?« Pippa versuchte zu scherzen, obwohl ihr Régines Warnung unter die Haut ging.

»Dieser verdammte Wind treibt uns alle zu unbedachten Handlungen. Passen Sie auf sich auf. Bleiben Sie nicht allein im Zimmer. Gehen Sie nicht allein nach draußen. Hören Sie? Auch nicht mit Kommissar Schmidt!«

»Auch nicht mit Wolfgang? Aber warum denn nicht?«

»Der Tod des alten Mannes ist nach wie vor nicht aufgeklärt. Und der Herr Kommissar reißt sich nicht gerade ein Bein dafür aus, dass sich das ändert.« Sie machte eine Pause. »Wenigstens meiner Meinung nach. Deshalb habe ich Abel angerufen, er soll sich bei Ihnen einquartieren. Ein kranker Leibwächter ist besser als gar keiner.«

Pippa steckte das Handy ein und bemerkte, dass es im Raum deutlich ruhiger geworden war. Die Männer saßen still da und lauschten nach draußen. Der Wind pfiff ums Haus, die Wipfel der Bäume rauschten, und ab und zu knackte es laut, wenn ein Ast abbrach. Aus dem Lautsprecher des Radios drang nur noch atmosphärisches Knistern und Krachen.

Die Kiemenkerle sahen sich unbehaglich an. Als Ferdinand und Thierry den Raum betraten, schienen die Männer sich ein wenig zu entspannen.

Eine heftige Böe fuhr in den Schornstein und heulte wie ein Gespenst. Betont munter sagte Rudi: »Diese Musik finde ich gerade nicht so schön. Kann jemand mal eine andere Platte auflegen?«

Blasko straffte die Schultern und wandte sich an Ferdinand. »Zeit für eine Lagebesprechung. Wir müssen Strategien und Notfallpläne erarbeiten. Melde mich freiwillig, alles generalstabsmäßig zu koordinieren. Wir brauchen Informationen. Frei heraus: Was haben wir zu erwarten?«

Ferdinand war sich seiner düsteren Wirkung bewusst. »Der schwarze Autan kommt, der Teufelswind.«

Thierry ergänzte: »Von einigen auch Todeswind genannt …«

Die Angler schnappten kollektiv nach Luft, und selbst Blasko wurde eine Spur blasser.

»Das ist die Zeit, in der auch die besten Freunde sich gegenseitig umbringen …«, spann Ferdinand den Faden weiter.

»… oder die größten Feinde sich gegenseitig helfen«, fuhr Thierry fort und nickte beinahe unmerklich in Ferdinands Richtung, der das Nicken erwiderte.

So hat auch der schwärzeste Wind sein Gutes, dachte Pippa, wenn er euch wieder aufeinander zu weht. Sie sah Amüsement in den Augen der beiden aufblitzen und erkannte, dass sie Spaß daran hatten, den sonst so großmäuligen Anglern den Ernst der Lage auf ihre Weise zu verdeutlichen.

»Der Wind kommt von Südwesten her und muss zwischen den Pyrenäen und unseren Montagne Noire hindurch«, erläuterte Ferdinand. »Wenn er diese Enge passiert, wird er schneller.«

»Viel schneller«, ergänzte Thierry. »Nennt sich Venturi-Effekt.«

»Genau über Chantilly und Revel erreicht er regelmäßig die höchste Geschwindigkeit.«

»Und die größte Wucht.«

Die Köpfe der Zuhörer gingen zwischen den beiden Männern hin und her, die sich gekonnt die Bälle zuwarfen.

»Da sollte man besser gut gedeckte Dächer und fest gemauerte Schornsteine haben und sein Auto nicht in der Nähe eines Baumes parken.«

Thierry hob mahnend den Finger. »Der Autan bringt Schlaflosigkeit, einen Anstieg der Prügeleien, erhöhte Selbstmordrate bei Franzosen und unangenehme Ehestreitigkeiten …«

»Ganz genau – und den könnt ihr gleich haben, wenn ihr weiter untätig rumsteht und Geschichten erzählt.« Alle fuhren herum.

Lisette stand in der Tür und stemmte empört die Hände in die Seiten. »Wir erwarten Windgeschwindigkeiten von bis zu hundertzwanzig Stundenkilometern. In spätestens drei Stunden treibt der Wind hier alles vor sich her, was sich nicht vorher in Sicherheit gebracht hat. Bis dahin will ich alle Blinkerbabys und Kiemenkerle in Sicherheit wissen. Dann könnt ihr von mir aus weiter Seemannsgarn spinnen.«

Pippa hatte die zarte Frau noch nie so entschieden gesehen. Jetzt glaubte auch sie, dass es draußen in Kürze deutlich unangenehmer zugehen würde, als sie es sich bisher vorstellen konnte.

»Also«, sagte Lisette streng, »wer fehlt?«

Das war das Stichwort für Blasko. Er sprang auf und rief: »Gut, dass ich eine Liste für die Aufgabenverteilung angelegt habe.« Nacheinander las er die Namen von seinem Klemmbrett ab. Bei jedem »Hier!« machte er einen Haken, dann sah er in die Runde und schnarrte: »Stelle fest: Alle anwesend bis auf Bruno Brandauer, Abel Hornbusch, Achim Schwätzer und das Ehepaar Remmertshausen.«

»Bruno ist vorhin mit dieser Riesenbraut ins Paradies abgezischt – der steht bestimmt unter ganz speziellem Schutz«, sagte Hotte, was bei den Kiemenkerlen anzügliches Gelächter auslöste.

Lisette nickte. »Bruno ist also in Sicherheit. Abel Hornbusch ist gerade von Cateline hergebracht worden. Laut Régine du Paradis hat Pippa ihm angeboten, sein Krankenlager in ihrer Wohnung aufzuschlagen. Pippa?«

Diese nickte, und Wolfgang Schmidt musste sich prompt einige spitze Bemerkungen gefallen lassen. »Da wäre ich aber vorsichtig, sonst wird aus deinem Ex-Schwager auch dein Ex-Freund!« – »Pass bloß auf deine Freundin auf, Wolle!« – »Wenn wir erst einmal weg sind und er mit ihr allein ist …«

»Ich bringe Abel nach oben«, sagte Lisette, vom allgemeinen Aufruhr gänzlich unbeeindruckt. »Dann kann ich gleich überprüfen, ob Herr und Frau Remmertshausen in ihrem Appartement sind.«

Als Lisette gegangen war, sah Schmidt sich um. Froh, von sich selbst ablenken zu können, fragte er in die Runde: »Und wo ist Achim?« Der Kommissar zog den Schlüsselring mit dem Karpfenanhänger aus der Hosentasche und ließ ihn von einem Finger baumeln. »Ich habe hier immer noch seinen Yacht-Schlüssel.«

Die Angler sahen sich verdutzt an.

Lothar sagte: »Sissi und ich kommen gerade aus ihrer Wohnung. Wir haben Achim den ganzen Tag noch nicht gesehen, auch nicht vorhin im Lager.«

Blasko nickte. »Ich auch nicht. Ich dachte, Achim wollte sich mal wieder vor der Arbeit drücken.«

»Gerald müsste Bescheid wissen«, warf Hotte ein, »die beiden waren in letzter Zeit schier unzertrennlich. Aber der ist ja auch nicht da.«

Schmidt winkte ungeduldig ab. »Schön, dass wir jetzt wissen, wer Achim nicht gesehen hat. Hat denn irgendjemand eine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Immer wenn man ihn braucht, ist er nicht da«, grummelte Rudi, »und wenn man ihn garantiert nicht braucht, taucht er todsicher auf. Ich mache mir keine Sorgen um ihn. Wenn es da draußen richtig ungemütlich wird, wird er kommen und uns fragen, ob wir daran gedacht haben, seine Sachen wegzuräumen.«

Lisette kam atemlos in den Raum gelaufen. »Weder Tatjana Remmertshausen noch ihr Mann sind oben in der Wohnung.«

»Wolfgang, ruf Tatjana auf ihrem Handy an«, bat Pippa.

»Das ist überflüssig.« Lisette hob die Hand und zeigte Tatjanas Mobiltelefon. »Es lag oben auf dem Tisch.«

Schmidt runzelte die Stirn. »Verdammt. Wo steckt sie bloß?«

»Blasko – Sie machen eine Liste von den Orten, an denen die drei vermissten Personen sich aufhalten könnten«, kommandierte Ferdinand, und Blasko nickte begeistert. »Die drei haben wahrscheinlich keine Ahnung, in welcher Gefahr sie bei diesem Wetter schweben.«

»Ich sage der Gendarmerie Bescheid«, verkündete Thierry. »Die sollen entscheiden, was zu tun ist.« Eilig ging er hinaus.

»Tibor und seine Crew müssten auch jeden Moment hier sein. Die helfen bestimmt, falls wir nach den Vermissten suchen müssen«, sagte Pippa.

»Darauf können Sie wetten!«, rief Tibor, der mit seinen Leuten in diesem Moment auftauchte.

Die Kiemenkerle standen zusammen und machten Vorschläge, wo die drei sich möglicherweise aufhalten könnten. Blasko, ganz in seinem Element, schrieb alles auf.

Der Sturm zerrte an den Läden der bodentiefen Fenster, dass diese laut klapperten. Das hohe Heulen des Windes war allgegenwärtig, flaute für kurze Momente ab, wurde dann wieder stärker. Durch die Ritzen der Läden konnte man sehen, dass die Welt draußen alle Farbe verloren hatte.

Bei einer besonders heftigen Böe zuckte Hotte zusammen. »Ein Spaß wird das nicht, die drei zu suchen.«

»Das soll auch keine romantische Nachtwanderung werden«, herrschte Schmidt ihn an. »Denkst du, sie sind freiwillig da draußen und spielen Verstecken mit uns? Ihnen muss etwas passiert sein!«

»Wieso ruft Gerald uns nicht einfach an, wenn er Hilfe braucht?«, maulte Rudi. »Er redet doch sonst auch immer nur mit seinem Handy.«

»Weil er keins mehr hat«, blaffte Schmidt.

»Und selbst wenn er eins hätte«, sagte Ferdinand. »Bei dieser Witterung funktionieren sie oft nicht.«

Thierry kam in Begleitung von Pierre Dupont zurück in den Raum. Der Gendarm machte ein besorgtes Gesicht.

»Das sind keine guten Neuigkeiten, meine Herrschaften.« Er klang, als wünschte er gerade jetzt jeden Touristen zum Teufel. »Thierry sagt, Sie haben eine Liste der möglichen Aufenthaltsorte der Vermissten aufgestellt. Kann ich die einmal sehen? Solange der Sturm noch nicht so schlimm ist …«

Noch nicht so schlimm?, dachte Pippa entsetzt. Wie schlimm wird es denn noch?

»… können wir mit Geländewagen der Gendarmerie die entsprechenden Wege abfahren. Ich brauche ein paar Leute als Beifahrer, die die Idio… die gesuchten Personen kennen. Alle anderen bleiben hier.«

Ferdinand übergab dem Gendarmen die Aufstellung.

»Ah, der Campingplatz.« Dupont studierte die Liste. »Es kann nicht schaden, da noch einmal jemanden hinzuschicken und einen Zettel am Schwarzen Brett zu hinterlassen, dass hier alle auf ein Lebenszeichen warten. Über den Damm ist das so gut wie ungefährlich und geht am schnellsten.« Der Gendarm sah sich um. »Kollege Schmidt, wenn Sie das übernehmen würden?«

Der Kommissar nickte, erleichtert, etwas tun zu können. Dann sah er zu Pippa hinüber. »Kommst du mit?«

Pippa sprintete in den ersten Stock, um Regenmantel, Südwester und ihr Fernglas zu holen.

Abel lag auf dem Sofa und las in einer ihrer Arbeitsmappen. Er machte ein schuldbewusstes Gesicht, als Pippa hereinkam.

»Entschuldige … ich bin einfach an deine Sachen gegangen. Mir war langweilig, und ich habe etwas zu lesen gesucht.«

»Macht nichts. Schön, dass es dir etwas besser geht«, sagte Pippa, während sie ihren Regenmantel zuknöpfte.

Abel beobachtete sie stirnrunzelnd. »Was hast du vor?«

Pippa flocht ihre langen Haare zu einem dicken Zopf, den sie unter dem Südwester verstauen wollte. »Ich will mit Wolfgang noch mal zum Parkplatz. Eine Nachricht für Tatjana hinterlassen.«

»Kommt nicht in Frage. Régine-Deux hat mir befohlen, dich mit allen Mitteln von solchen Plänen abzuhalten. Du solltest nicht mit den Kiemenkerlen allein sein«, sagte Abel und seufzte. »Nicht einmal mit Wolfgang.«

Pippa starrte Abel entsetzt an. »Sie glaubt tatsächlich, dass mein Leben in Gefahr ist?«

Abel Hornbusch nickte ernst. »Was glaubst du, warum ich auf diesem Sofa liege? Régine hat mich herbeordert, damit ich auf dich aufpasse.«

Pippa ließ sich auf einen Stuhl fallen, als sie begriff, dass Abels und Régines Besorgnis echt waren. All ihre Energie wich plötzlich einem mulmigen Gefühl. »In Ordnung, ich werde auf Régine-Deux hören«, sagte sie leise. »Wie sagt Hemingway so schön: Man ist nicht feige, wenn man weiß, was dumm ist

Abel war sichtlich erleichtert. »Die Mappe habe ich auch schon gelesen. Wirklich interessant, was Professor Trapp dazu sagt.« Er hob die Mappe, die in seinem Schoß lag. »Aber diesen Satz finde ich noch besser: Einen Menschen erkennt man daran, wie er sich rächt. Hier sagt er, dass man das vor allem in der Rückschau beurteilen kann. Man muss sich nur die Mittel ansehen, die jemand angewendet hat, um sich zu rächen. Wird eine Figur in Hemingways Romanen respektlos behandelt oder gedemütigt, wählt sie eine Form der Rache, die den Übeltäter mit seinen eigenen Waffen schlägt.«

»Du hast recht.« In Pippas Kopf arbeitete es. »Das Zitat meint vor allem Rückschau auf bereits stattgefundene Rache.« Sie schluckte. »Tatjana und Teschke … Aber warum?«

Als Pippa nachdenklich in den großen Saal zurückkehrte, hatte Pierre Dupont bereits Ferdinand zum Beifahrer für seinen Polizeiwagen bestimmt und Tibor auf die Wache geschickt, um von dort aus mit auf Patrouille zu fahren.

Jetzt zeigte er auf Cateline. »Du machst hier Telefondienst, Régine ist in der Gendarmerie. Nehmt alle eingehenden Hilferufe auf und leitet sie an uns weiter. Besonders, wenn einer der drei Schwachkö… Vermissten auftaucht. Pippa, wenn Sie vielleicht helfen wollen?«

Pippa nickte und pellte sich aus ihrer Regenkleidung. Sie bemerkte Schmidts skeptischen Blick und hob fragend die Brauen.

»Plötzlich so vernünftig?«, fragte Schmidt. »Ich denke, du gehst mit mir?«

»Mir reichen Stürme im Wasserglas«, gab Pippa zurück, »echte mitten im Wald sind mir zu gefährlich.«

»Hm«, sagte Schmidt, wenig überzeugt. »Borgst du mir dann dein Fernglas?«

Pippa reichte es ihm. »Ich sollte Leihgebühren nehmen, dann hätte ich den Kaufpreis schon wieder raus. Oder genug Geld, mir ein echtes Nachtsichtgerät leisten zu können.«

Schmidt nahm wortlos das Fernglas und stapfte aus der Tür.

»Sie können nicht überall sein, Monsieur Dupont. Ich aktiviere deshalb die Kiemenkerle«, erklärte Blasko schneidig. »Schlage vor, wir suchen mit einem Boot den See ab.«

Die Angler warfen sich alarmierte Blicke zu.

Zu ihrer Erleichterung lehnte Dupont den Vorschlag kategorisch ab. »Falls ich mich vorhin nicht klar genug ausgedrückt habe: Bei diesem Wetter geht niemand auf den See. Und auch nicht irgendwo anders hin. Sie bleiben alle, wo Sie sind: hier!«

Pippa hielt Dupont, Ferdinand und Thierry die Tür auf, als die drei zum Polizeiwagen eilten, um sich auf die erste Patrouillenfahrt zu machen.

Sie sah ihnen nach. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn Tatjana schuld an Teschkes Tod war, konnte es gut sein, dass sie nicht gefunden werden wollte.

Plötzlich spürte sie, dass jemand hinter ihr stand, fuhr herum und blickte in Jean Didiers Gesicht.

»Jean, verdammt! Du hast mich erschreckt. Keine Traute gehabt, dich Thierry anzuschließen?«

»Du denkst, ich habe Angst vor dem Herrn Papa?« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Ich wollte nur warten, bis alle weg sind, und dich entführen. Ich glaube nämlich, ich weiß, wo Tatjana ist. Ich habe sie dort gemalt, an ihrem Lieblingsplatz.«

»Ich weiß, wo du meinst: die Bank bei den zwei Buchen, außerhalb von Chantilly. Die kenne ich«, sagte Pippa aufgeregt. »Warum hast du das vorhin nicht gesagt?«

»Weil ich das Gefühl habe, dass Tatjana lieber von uns gefunden werden möchte als von anderen.«

Pippa sah Jean Didier in die Augen, dann nickte sie. »Verstehe. Bist du sicher, dass der Platz nicht auf der Liste steht?«

»Ich glaube nicht. Ich war die meiste Zeit in der Küche und habe schön meine Klappe gehalten.«

»Dann los.«

Pippa griff nach ihrem Regenmantel und dachte: Mit dir darf ich ja gehen, hat Régine-Deux gesagt, und je schneller ich bei Tatjana bin und je weniger Leute dabei sind, desto besser.

Der überraschend warme Wind riss sie beinahe von den Füßen, als sie vor die Tür des Vent Fou traten. Pippa verlor das Gleichgewicht und taumelte ein paar Schritte zurück gegen die Hauswand, Jean zog sie an der Hand zu sich und hakte sie unter. Gemeinsam stemmten sie sich gegen den Wind, bis Pippa sich sicher fühlte und sich wieder von ihm löste. Wenn sie die Hände in die Manteltaschen steckte und dem Sturm möglichst wenig Angriffsfläche bot, kam sie gut vorwärts. Sie gingen über den Kiesweg in Richtung Straße und passierten die überdachte Terrasse. An der geschützten Innenseite lehnte eine schattenhafte Gestalt, die an einer Zigarette zog. Das Aufleuchten der Glut erhellte das Gesicht: Thierry.

Er löste sich aus dem Schatten und schloss sich ihnen wortlos an.

Unwillkürlich ging Pippa etwas schneller, um Vater und Sohn in ihrem ersten gemeinsamen Moment seit fünfundzwanzig Jahren die Gelegenheit zur Aussprache zu lassen, aber die Männer schwiegen. Sie liefen nebeneinander her, als wäre es das Normalste der Welt.

Männer, dachte Pippa, Männer und ihre überschwänglichen Gefühlsäußerungen!

Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah das Lächeln auf den Gesichtern der beiden.

Manchmal sind Worte einfach überflüssig, korrigierte sie ihren ersten Eindruck und stapfte weiter in dem Hochgefühl, einen besonderen Moment erlebt zu haben.

Beim Anblick des Lac Chantilly blieb sie abrupt stehen. Nichts erinnerte mehr an die sanften Blautöne des Sees, auf dem die Sonne glitzerte. Jetzt war das Gewässer tiefschwarz und unruhig, schaumige Gischt wirbelte auf der Oberfläche. Bedrohlich und beunruhigend.

Chantilly lag wie ausgestorben. Die Straßen waren menschenleer, alle Einwohner hatten sich hinter den dicht verschlossenen Fensterläden ihrer Häuser in Sicherheit gebracht. Das Dorf wartete auf den Sturm.

Sie nahmen den gleichen Weg, den Pippa an ihrem ersten Tag in Chantilly-sur-Lac zusammen mit Pia gegangen war, und kämpften sich gegen den Wind den Hügel hinauf.

Pippa dachte an Schmidt und seine Hingabe an Tatjana. Kann es wirklich gesund sein, derart selbstlos zu lieben? Und wie weit würde er wirklich für sie gehen?

Durch das Heulen des Windes hörte sie, dass ihr Name gerufen wurde: Wolfgang Schmidt eilte im Laufschritt hinter ihnen her.

»Was machst du denn hier?«, wollte sie wissen, als er sie keuchend erreicht hatte.

Schmidt rang nach Luft. »Dein Fernglas ist wirklich gut.«

Und deshalb habe ich dich jetzt doch an den Hacken, dachte Pippa. Aber immerhin bin ich nicht allein mit dir – das würde Régine-Deux überhaupt nicht gefallen.

»Weiter«, kommandierte Thierry, und sie setzten ihren Weg fort.

Regen setzte ein, der zu Pippas Erleichterung nicht so kalt war, wie sie befürchtet hatte. Dicke Tropfen peitschten ihnen ins Gesicht, so dass sie kaum etwas sehen konnten. Fast blind erreichten sie die Bank unter den Buchen und wischten sich das Wasser aus den Augen.

Angesichts der Szene, die sich ihnen darbot, schnappte Pippa nach Luft.

Über den dunklen Himmel jagten schwarze Wolken, und der Wind toste durch die Baumwipfel. Tatjana saß ruhig, beinahe gelassen, auf der Bank, als würde sie auf Erlösung warten An jede der Buchen war ein nackter Mann gebunden: Links zerrte Achim wütend an seinen Fesseln, rechts Gerald. Ihre Kleidung lag sorgfältig gefaltet vor ihnen auf der Erde, beschwert mit einem Stein. Tatjana hatte die Männer mit ihren eigenen Socken geknebelt, damit sie nicht um Hilfe schreien konnten.

»Wie eine Rachegöttin«, murmelte Thierry beinahe ehrfürchtig. Er wollte sein Handy nehmen, um die Gendarmerie zu informieren, aber sein Sohn bedeutete ihm zu warten.

Tatjana reagierte mit keinem Blick, keiner Bewegung auf ihr Eintreffen. Sie saß einfach da – stolze, bedauernswerte Schönheit.

Schmidt griff nach Pippas Arm. »Himmel! Was ist denn hier los?«

»Tatjana hat Franz Teschke getötet«, erwiderte Pippa leise.

Tote Fische beißen nicht: Ein neuer Fall für Pippa Bolle
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