Kapitel 9
Pippa setzte sich am nächsten Morgen mit einem mulmigen Gefühl an den Frühstückstisch.
Lisette hat mich sehr nah an sich herangelassen, dachte sie, hoffentlich ist es ihr nicht unangenehm, mir jetzt zu begegnen. Durch den tiefen Einblick, den sie mir in ihr Seelenleben gewährt hat, ist die Vergangenheit urplötzlich zu meiner persönlichen Gegenwart geworden. Ich wünschte, ich könnte die ganze Sache hinwerfen und mich stattdessen in den Bauarbeiten und meinen Übersetzungen vergraben …
Sie schluckte trocken, als ihr die Ironie dieses Gedankens bewusst wurde – schließlich war eine der Hypothesen zu Jean Didiers Verschwinden, dass er getötet und vergraben worden war. Unwillkürlich schüttelte sie sich.
»So schlecht ist französisches Frühstück nun wirklich nicht«, sagte Pascal, der lautlos an ihren Tisch getreten war. »Ich weiß, dass unsere Angewohnheit, nur Croissants zu essen, die wir obendrein in Kaffee tunken, den Rest der Welt irritiert – aber ich serviere doch wenigstens frisch gepressten Orangensaft und einen hervorragenden Obstsalat – die Früchte habe ich heute Morgen höchstpersönlich gejagt und geschlachtet.«
Pippa ließ sich von seiner Fröhlichkeit gern anstecken, zumal sie erleichtert war, dass Pascal sie nicht auf den vergangenen Abend ansprach. In ihr keimte der Verdacht, dass Lisette weder Ferdinand noch ihrem Wunsch-Erben jemals von ihrer inneren Not erzählt hatte.
Pascal beobachtete zufrieden, dass Pippa ihr Frühstück mit großem Appetit genoss. »Du erinnerst dich doch an unsere Verabredung?«, fragte er. »Kannst du in einer halben Stunde abfahrbereit sein? Ferdinand übernimmt für mich den Rest des Service.«
Pippa nickte mit vollem Mund, und Pascal verschwand wieder in der Küche, aus der bald fröhliches Pfeifen und lautes Topfgeklapper erklang.
Auf dem Weg zum Parkplatz kam ihnen Alexandre Tisserand mit Angelrute entgegen.
»Guten Morgen zusammen. Ich sehe, du bist schon vergeben, Pippa? Schade, ich wollte mich gerade zu einem gemeinsamen Recherchetag anbieten. Nirgends erfährt man so viel wie von einheimischen Anglern.« Er grinste und fuhr fort: »Besonders dann, wenn man sie nach Herzenslust über andere Angler herziehen lässt. An einem so strahlenden Tag wie heute werden wir jede Menge von ihnen treffen.«
»Angler?«, fragte Pippa verdutzt. »Während der Woche sind doch die Kiemenkerle Alleinherrscher über den See.«
»Deshalb trifft sich der eingeweihte Petrijünger auch oben auf dem Berg«, sagte Tisserand und zeigte hinauf zum Chambres d’hôtes au Paradis, von dem er ihr am ersten Abend so begeistert erzählt hatte. »Dort, im kühlen Schatten der alten Steineichen, warten die Forellen.«
Trotz der noch recht frühen Stunde brannte die Sonne vom Himmel, und Pippa blickte sehnsüchtig zu den schattigen Wäldern am Hang hinauf.
»Geht leider nicht, Alexandre. Mein Programm für heute steht fest.« Sie zuckte bedauernd mit den Schultern und entlockte Pascal damit ein triumphierendes Lächeln.
»Dann vielleicht morgen?«
»Auf jeden Fall!« Pippas begeisterte Zustimmung ließ Pascals Lächeln wieder verschwinden.
Heute Pascal. Morgen Alexandre. Übermorgen nichts als Hemingway, beruhigte Pippa sich selbst. Ich werde mich in meinem Zimmer verbarrikadieren und zusehen, dass ich der Abgabe meiner Übersetzung ein gutes Stück näher komme.
Pippa stieg in den rotgelben Wellblech-Lieferwagen, den sie schon auf dem Hof des Vent Fou gesehen hatte. Während sie das Gelände verließen, erklärte ihr Pascal jede Funktion des skurrilen Gefährts. An der Kreuzung zur Rue Cassoulet bat sie ihn, kurz zu halten, weil sie auf der Baustelle nach dem Rechten sehen wollte.
»Ich habe Sie gestern Abend vermisst«, sagte Tibor, der rauchend auf der Treppe vor dem Haus saß. »Ich war bei den Anglern im Camp, um mit Ihrem Freund und seinen Kollegen den Wettstreit zu besprechen. Ihr Deutschen habt eine tolle Sprache: Wettstreit, wetteifern, Wettbewerb … allein durch diese Worte wird man geradezu gezwungen, Wetten abzuschließen!«
»Diese Auslegung hat sicher etwaige Bedenken der Kiemenkerle nachhaltig zerstreut«, sagte Pippa und lachte. »Ich hatte noch zu arbeiten und bin deshalb zurück ins Vent Fou.«
Tibor nickte ernst und stand auf. »Frau Peschmann hat mir gesagt, dass Sie sehr viel über Ihren Büchern sitzen und ich Sie möglichst wenig stören soll. Aber ich brauche dringend eine Entscheidung wegen der Badfliesen. Bestellt wurde dunkelblau glänzend. Geliefert wurde allerdings in matt.«
Sie gingen in den ersten Stock, um sich die Kisten mit den Fliesen anzusehen. Pippa war sicher, dass Pia die falsche Lieferung als Wink des Schicksals verstehen würde – bei matten Fliesen gab es deutlich weniger zu putzen.
»Ich versuche noch heute, Pia Peschmann zu erreichen«, sagte sie, »und gebe dann so schnell wie möglich Bescheid. Arbeitet bis dahin bitte weiter an der Wandverkleidung im Schlafzimmer. Und macht aus dem Kriechkeller endlich einen weniger gruseligen Ort.«
Tibor sah sie fragend an. »Der Kriechkeller ist doch nicht so wichtig.«
»Glauben Sie mir, Tibor – er ist es. Lassen Sie bitte die Spinnweben entfernen und die Wände weißen.«
Als Pippa wieder nach unten kam, stand Pascal im Haus und starrte nachdenklich auf die Treppe.
»Warst du schon mal hier?«, fragte Pippa leise.
Pascal schluckte und schüttelte den Kopf. »Nie. Ich habe mich absichtlich ferngehalten. Ich wollte mich nicht einmischen. Aber jetzt kann ich mich wohl nicht mehr heraushalten.«
»Lass uns verschwinden.« Pippa zog Pascal rasch aus dem Haus und auf die Straße, damit Tibor die Unterhaltung nicht mitbekam.
Erst dann sagte sie: »Mich interessiert deine Version. Was geschah an dem Abend, als Jean Didier verschwand?«
»Die Legrands und der Junge waren an diesem denkwürdigen Tag in der Rue Cassoulet eingeladen – zu einem Festessen.«
Sieh mal an, dachte Pippa, die Legrands waren auch da? Dieses wichtige Detail haben die Kiemenkerle nicht herausgefunden. Und Lisette hat sie nicht korrigiert.
»Erst war alles einigermaßen harmonisch«, fuhr Pascal fort, »bis Thierry stolz verkündete, dass er Vater wird. Der Junge ist ausgerastet. Lisette und Ferdinand konnten ihn verstehen: Schließlich war er bisher der einzige Sohn – jetzt würde er teilen müssen. Aber Thierry wurde wütend. Er warf den Legrands vor, sie würden ihm den Jungen mutwillig entfremden und ihn aufhetzen. Sofort gingen die beiden Männer aufeinander los. Die Frauen konnten eine Schlägerei gerade noch verhindern. Dann hat Thierry die Legrands rausgeworfen.«
»Verstehe. Lisette und Ferdinand fühlen sich also an der Eskalation mitschuldig.«
»Nicht nur das: Sie machen sich Vorwürfe. Jean war allein, ohne ihren Schutz.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Am nächsten Morgen war der Junge verschwunden. Nur Cateline und Thierry können wissen, was wirklich geschehen ist.«
»Wer hat dir das alles erzählt? Lisette oder Cateline Didier?«
»Ferdinand und Lisette sind meine einzigen Quellen, aber ich habe keinen Grund, ihnen nicht zu glauben. Ich habe noch nie mit irgendjemandem aus dem Bonace gesprochen. Und ich habe auch nicht vor, das zu tun. Warum sollte ich auch?«
»Du bist schon drei Jahre hier!«
»Wenn du wüsstest: Die Didier-Jungs scheinen es als ihre Pflicht zu betrachten, dem Vent Fou Streiche zu spielen. Mal setzen sie Karpfen aus dem See in unseren Pool, mal schütten sie Salz in den Kaffeeautomaten auf der Terrasse, mal findet sich Schmieröl im Eiswagen.«
Obwohl sie es zu unterdrücken versuchte, entfuhr Pippa ein Kichern. »Ganz schön erfinderisch.«
»Zumal sie jeden Streich wirklich nur einmal spielen. Keine Ahnung, was sie damit provozieren wollen.«
Das liegt doch wohl auf der Hand, dachte Pippa. Dass die Legrands mit ihnen reden – und du wieder verschwindest.
»Und wie reagierst du darauf?«, fragte sie.
»Wie schon? Ich schicke Thierry die Rechnung«, erwiderte der Koch trocken.
Erst als Pippa wieder neben Pascal im Lieferwagen saß, wagte sie das Thema anzusprechen, das ihr seit ihrem abendlichen Gespräch mit Lisette auf der Seele lag.
»Bist du sicher, dass es eine gute Idee war, die alten Wunden aufzureißen?« Als Pascal schwieg, fügte sie hinzu: »Lisette hat gestern Abend geweint.«
»Manche Wunden können nur verheilen, wenn man sie ordentlich säubert. Sonst infizieren sie sich und schwären immer weiter.«
»Da hast du recht. Manche infizieren sich derart, dass die Folgen schlimmer sind als die ursprüngliche Verletzung. Obwohl – bei einem verschwundenen Teenager hinkt dieser Vergleich natürlich. Was, glaubst du, ist Jean passiert?«
»Fragst du, ob er nur vermisst oder doch tot ist?«
Er sah sie von der Seite an, und Pippa nickte.
»Ich glaube, er ist abgehauen«, sagte Pascal, »und dann ist etwas passiert, das ihn daran hinderte, sich zu melden.«
»Du meinst Unfall, Krankheit oder Tod?«
»Da gibt es viele Szenarien. Irgendetwas hat ihn davon abgehalten, zurückzukommen – das ist für mich ganz klar. Er wollte es seiner Familie mal so richtig zeigen, ihr ordentlich Angst einjagen – und dann …« Er zuckte mit den Achseln und konzentrierte sich ganz darauf, den Wagen über die staubtrockenen Straßen zu lenken. Umsichtig wich er einigen Schlaglöchern aus.
Wahrscheinlich hat er recht, dachte Pippa. Es war wohl wie so oft: Man verschiebt so vieles auf später – und dann ist es plötzlich zu spät und nicht mehr zu ändern. Wir sind alle große Künstler darin, Fehler nicht sofort zuzugeben und zu korrigieren, geschweige denn, uns zu entschuldigen.
»Wieso ist es bloß so schwer, Kurzschlusshandlungen zu bereuen oder Fehler zuzugeben?«
Pascal grinste sie verschmitzt an. »Keine Ahnung – mir passiert so etwas nicht!«
Während der nächsten Kilometer hingen beide ihren Gedanken nach.
Schließlich hielt Pascal vor einem verwitterten Gedenkstein an. »Dieses Monument erinnert an Emmanuel-Augustin-Dieudonné-Joseph de Las Cases, einen berühmten Sohn dieser Gegend«, erklärte er. »Las Cases diente als Marineoffizier unter Napoleon und folgte ihm bei dessen zweiter Abdankung freiwillig nach Sankt Helena. Was dich besonders interessieren dürfte: Vor seiner Laufbahn beim Militär war Las Cases Buchhändler in Paris. Durch die Veröffentlichung von Napoleons Tagebüchern wurde er später weltberühmt.«
Er startete den Motor wieder und gab knatternd Gas.
»Und jetzt fahren wir zu dem berühmten Hof, der seinen Namen trägt. Sie haben eine eigene Schweinezucht und produzieren die köstlichste Wurst weit und breit.«
Sie fuhren durch eine Einfahrt auf einen staubigen Platz und stiegen vor einem langgestreckten hellen Gebäude aus. Durch eine einladend geöffnete Flügeltür betraten sie einen gemütlichen Hofladen.
Eine sehr große rundliche Dame mit einer riesigen braunen Einkaufstasche hielt sämtliche Verkäufer auf Trab, drehte sich um und musterte Pippa und Pascal von oben bis unten. Sie trug ein helles Strohhütchen und einen leichten blauen Sommermantel. Ihr Blick war keineswegs unfreundlich, vielmehr neugierig und keck. Pascal grüßte kurz, dann wandte sie sich wieder ihren Einkäufen zu.
Du liebe Güte, dachte Pippa beeindruckt, gibt es eigentlich eine weibliche Form von Herkules? Herkuline? Diese Frau braucht bestimmt niemanden, der ihr die Einkäufe nach Hause trägt.
»Sieh dich in Ruhe um«, sagte Pascal. Er deutete auf die beiden Ladentheken. »Dort stehen immer Häppchen zum Probieren, die solltest du dir nicht entgehen lassen.«
Pippa wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte. Von der dunklen, niedrigen Balkendecke hingen duftende Schinken und Dauerwürste. In den Regalen vor den rustikalen Natursteinwänden standen Gläser mit vielen Marmeladen- und Honigsorten, eingelegtem Knoblauch und Spezialitäten aus der Region. In der Auslage der gläsernen Verkaufstresen lockten Braten, Koteletts, Bratwürste und Schnitzel aus eigener Herstellung.
Pascal wurde von einem älteren Herrn begrüßt, dem er eine lange Einkaufsliste übergab. Gemeinsam verschwanden sie in einem Raum hinter der Verkaufstheke. Pippa arbeitete sich begeistert durch die Probierportionen des Angebots, die auf Porzellantellern angerichtet waren. Sie schmeckten genauso verführerisch, wie sie aussahen: kleine Häppchen zarter Mettwurst, Dauerwurst mit Knoblauch, rauchig duftende Leberwurst auf kleinen Stückchen Bauernbrot – sie musste aufpassen, dass sie sich nicht den Appetit für das Mittagessen verdarb.
Sie ging zu einem Tisch mit eingelegten Leckerbissen und kostete Oliven und Peperoni, die auf Zahnstocher gespießt waren. Als Pippa die Hand nach dem eingelegten Knoblauch ausstreckte, stand plötzlich die Hünin mit der Einkaufstasche neben ihr. Die Frau riss ein Stück von einer Baguettestange ab, die aus ihrer Einkaufstasche ragte, und reichte es Pippa mit freundlichem Nicken.
»Den Knoblauch sollten Sie nicht ohne Baguette genießen«, sagte sie lächelnd. »Stopfen Sie ein paar Stückchen in das Brot. Das schmeckt wunderbar.«
Pippa bedankte sich und folgte ihrem Rat. Es war ein Hochgenuss. Der Knoblauch hatte knackigen Biss, die Sauce war leicht süßlich. Sie schloss die Augen und biss noch einmal vom Baguette ab.
»Mmm, danke, wirklich köst…«, sagte sie, als sie die Augen wieder öffnete, aber die edle Spenderin war bereits auf dem Weg aus dem Laden. Pippa sah noch die prall gefüllte Einkaufstasche um die Ecke verschwinden.
Neugierig ging sie zum Fenster. Zu ihrer Überraschung verstaute die Frau ihre Tasche und weitere Einkäufe, die ein Verkäufer ihr nachtrug, auf einem grasgrünen Motorroller. Auf die hintere Hälfte der Sitzbank war ein großer Drahtkorb montiert, von dem ein beschrifteter Wimpel flatterte. In drei Sprachen forderte er auf: Schlafen Sie im Paradies.
Bevor die Dame den Korb verschloss, setzte der hilfreiche Verkäufer vorsichtig mehrere große Packungen Eier auf die Einkaufstasche. Man verabschiedete sich voneinander, dann schwang die Frau sich auf den Roller. Die Räder gaben besorgniserregend nach. Die Hünin startete den Motor und knatterte flott vom Hof.
Das waren mindestens fünfzig oder sechzig Eier, dachte Pippa. Wenn Herkuline weiter so rasant fährt, gibt es noch vor dem Ziel Rührei!
Sie sah sich nach Pascal um und entdeckte ihn am anderen Ende des Hofes: Er scherzte mit zwei jungen Mädchen, die ihn unverhohlen anhimmelten. Es war Pippa unbegreiflich, wieso der fröhliche Koch keine Partnerin hatte. Alle Frauen schienen sich um ihn zu reißen, und selbst Tatjana buhlte um seine Aufmerksamkeit.
Pascal ist alles, was eine Frau sich wünschen kann, dachte Pippa. Er ist ein begnadeter Koch, nicht ganz blöd, charmant und ehrlich. Er ist der Erbe eines nicht unbeträchtlichen Anwesens. Wieso hat so ein Schmuckstück noch keinen Ring am Finger?
Gemeinsam verstauten sie die Einkäufe im Wagen. Nachdem Pascal sich ausgiebig von jedem der Mitarbeiter des Hofs verabschiedet hatte, machten sie sich auf den Weg nach Revel.
»Hat es dir gefallen?«, fragte Pascal. »Hast du alles probiert?«
Pippa nickte und erwiderte sein Lächeln. Einen Moment kämpfte sie mit sich, dann platzte sie heraus: »Wieso gibt es keine Frau in deinem Leben?«
»Die Damen wollen immer nur das eine von mir – dass ich für sie koche.« Er setzte ein harmloses Dackelgesicht auf. »Wenn sie das Vent Fou zum ersten Mal sehen, sind sie schwer beeindruckt. Aber irgendwann schwant ihnen, dass sie als Ehefrau nicht mehr bedient werden, sondern selbst bedienen müssen. Dann darf ich noch genau einmal für sie kochen, und die Diät machen sie beim Nächsten. Vorzugsweise in Toulouse, bei einem gutbezahlten Mitarbeiter von Airbus. Bei dem droht nicht vierundzwanzig Stunden Arbeit an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr.«
Pippa musste lachen. »Jetzt übertreibst du aber ein wenig … du hast doch auch mal Winterpause. Aber im Ernst: Nicht alle Frauen sind so. Ich würde mich an deiner Stelle mal richtig auf die Suche machen.«
Pascal wurde ernst und blickte angestrengt über das Lenkrad hinweg auf die Straße. »Das tue ich ja gerade«, murmelte er.
Als sie in Revel einen Zwischenstopp einlegten, ging Pascal zur Bank, und Pippa schlug den Weg zum Marktplatz ein. Die Straßencafés unter den Arkaden ringsum waren gut gefüllt. Sie schlängelte sich durch die Tische und betrat die Touristeninformation, die sich im historischen Marktgebäude auf der Mitte des Platzes befand.
Interessiert sah sie sich die Auslagen mit den zahlreichen Prospekten an. Museen, Klöster und Weingüter und das Buchdorf Montolieu wurden angepriesen. Mitten in den Bergen leben die meisten Menschen hier in erster Linie von Büchern, las Pippa. Es gibt mehr als zwanzig Buchhandlungen und Buchbindereien sowie ein Museum, das sich der Kunst der Grafik und des Drucks verschrieben hat.
Ein Dorf nach meinem Geschmack, dachte Pippa. Ich fürchte, ich werde seinen Erhalt mit meinem kompletten Budget unterstützen.
Sie entdeckte noch ein Faltblatt über die Burg von Saissac, von der Tisserand behauptet hatte, man könne dorthin bequem mit dem Fahrrad fahren.
Klar, dachte Pippa, nachdem sie auf der Straßenkarte den Anfahrtsweg mit seiner beachtlichen Steigung studierte hatte, wenn das Fahrrad im Kofferraum eines Autos liegt …
Sie durchblätterte einen Prospekt über Angelmöglichkeiten der Region, als eine hübsche Frau auf sie zukam und ihr die Hand zur Begrüßung hinstreckte.
»Guten Tag, Pippa. Freut mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Ich habe dich schon erwartet. Ich bin Régine, die Freundin von Pia.«
»Wie hast du mich erkannt?«, fragte Pippa verdutzt.
»Ich hatte eine perfekte Beschreibung von dir: ein Wasserfall roter Locken – vorzugsweise unter einem Strohhut mit echten Blumen …«
Pippa lachte und musterte Régine, die ein kunstvoll zu einem Turban geschlungenes Tuch um den Kopf trug, unter dem ein paar brünette Strähnen hervorlugten. Ihr apartes Gesicht wirkte durch eine breitrandige dunkle Brille sehr lebendig.
»Ich freue mich immer, auf eine Schwester im Geiste zu treffen. Im wahrsten Sinne des Wortes: Hut ab«, kommentierte Pippa Régines Kopfputz.
»Man tut, was man kann. Ich will gerade Feierabend machen, wollen wir einen Happen essen gehen?«
Als sie vor die Tür traten, deutete Régine zum Himmel. »Normalerweise arbeite ich länger, aber heute ist vielleicht einer der letzten schönen Tage, bevor der gefürchtete Autan-Wind kommt. Den will ich nicht in meinem dunklen Büro verbringen.«
Pippa sah zum strahlend blauen Himmel hinauf. »Woran siehst du denn bitte, dass sich das Wetter verschlechtern wird?«, fragte sie verblüfft.
»In den Tagen vor dem Autan ist es besonders klar und windstill. Und man kann meilenweit sehen. Die Bauern der Umgebung wissen dann: Der Autan will wehen. Nutzt eure Zeit!«
»Dann lass uns das tun.«
Sie setzen sich vor ein winziges Restaurant, das unter den Arkaden und auf dem Marktplatz Tische aufgestellt hatte. Eine mit Kreide beschriftete Tafel wies auf das Mittagsangebot hin. Während die beiden wählten, trat Pascal an ihren Tisch. »Ich muss zurück, Pippa. Kommst du mit?«
»Ich würde gerne noch einen Moment bleiben. Hast du nicht Lust, dich zu uns zu setzen?«
»Lust ja – Zeit nein. Der Wagen ist voller Lebensmittel, und ich muss das Abendessen vorbereiten. Ich könnte dich später abholen.«
»Ich kann Pippa anschließend mitnehmen, Pascal«, bot Régine an, »dann brauchst du nicht zweimal zu fahren.«
»Du machst aber meinetwegen keinen Umweg, oder?« Das wollte Pippa auf keinen Fall.
»Keine Sorge, ich wohne selbst in Chantilly«, erklärte Régine.
Pippa strahlte. Ihre Zeit in Chantilly hatte sie bisher ausschließlich mit den Anglern, deren Frauen und der Crew des Vent Fou verbracht – sie sehnte sich nach einem Stück echtem Frankreich. Außerdem wollte sie unbedingt ein Fernglas kaufen, damit sie Vögel und die Landschaft beobachten konnte, während sie am Schreibtisch saß.
Beim Essen kamen die beiden Frauen schnell auf die Suche nach Jean Didier zu sprechen.
»Ich habe Pia geraten, das Geheimnis zu lösen«, erklärte Régine, »die ewige Tuschelei im Ort muss endlich aufhören. Die Peschmanns sollen unbeschwert dort leben können.«
»Kannst du mir aus deiner Sicht etwas zu dem Fall sagen?«, fragte Pippa.
Régine schüttelte den Kopf. »Ich war damals zehn Jahre alt. Ich kann mich nur an die Aufregung und das Misstrauen im Ort erinnern. Und daran, dass das Wasser aus dem See abgelassen wurde, um nach der Leiche zu suchen.«
»Wie bitte? Der gesamt Lac Chantilly wurde geleert?«
»Toilette machen – so nennt man das hier. Wir Kinder fanden das natürlich klasse. Turnusmäßig geschieht das ohnehin alle zehn Jahre, um den See schlammfrei zu halten – aber die letzte Toilette war erst drei Jahre her. Weitere sieben wollte Thierry Didier nicht auf Gewissheit warten. Die Rechnung für diese Aktion konnte er dann aber nicht bezahlen.«
»Man hat ihm für die Suche nach seinem vermissten Sohn eine Rechnung geschickt?«, fragte Pippa ungläubig.
»Für Taucher, Polizeieinsatz, Helikopter und die gesamte Suche wurde er nicht zur Kasse gebeten. Aber das reichte ihm nicht. Thierry war wie besessen – er war davon überzeugt, dass er seinen Sohn im Schlamm des Sees finden würde, und bestand auf der Toilette, also musste er auch dafür bezahlen.«
»Ich vermute, er hat sein Haus in der Rue Cassoulet mit einer Hypothek beliehen, um an Geld zu kommen?«
»Viel schlimmer«, sagte Régine, »es sollte zwangsversteigert werden. Hätten die Legrands es nicht gekauft, wäre das Bonace vielleicht auch noch draufgegangen.«
»Das war doch sehr nett von Lisette und Ferdinand.«
»Die Didiers haben das nicht so gesehen. Ihrer Meinung nach waren die Legrands schuld an all dem Kummer und Unglück, von dem sie dann auch noch profitierten.«
»Eine klassische Sackgasse«, sagte Pippa nachdenklich. »Kein Wunder, dass es aus dieser vertrackten Situation keinen Ausweg gibt.«
»Und du? Was hast du schon herausgefunden?«
Pippa berichtete kurz von ihren Ermittlungen und den Erkenntnissen ihrer zahlreichen Helfer. »Du siehst – ich habe jede Menge Unterstützung. Nur nicht durch die örtliche Polizei.«
Régine lachte vergnügt. »Du warst in der Gendarmerie von Chantilly?«
»Monsieur Dupont fühlte sich durch uns eindeutig gestört.« Pippa verdrehte die Augen. »Wir haben ihn von seiner Lektüre weggeholt.«
»Was lag denn auf seinem Schreibtisch?«
»Ein echter Schmachtfetzen. Liebesseufzen pur.«
Régine stand auf und legte Geld für beide Essen auf den Tisch. »Komm mit!«
Erstaunt folgte Pippa der jungen Frau. »Wohin gehen wir?«
Régine sah sich für die Antwort nicht einmal um. »Zur Schießerei am O. K. Corral.«