Kapitel 28
Ein vorsichtiger Blick in Abels Zimmer hatte gezeigt, dass dieser tief und fest schlief, und Pippa hatte es vorgezogen, ihn nicht zu wecken. Jetzt stand sie mit Cateline vor dem Bonace.
»Bestell Abel bitte Grüße von mir. Ich versuche es später noch mal«, sagte Pippa.
Cateline blickte zweifelnd zum aschfahlen Himmel. »Später solltest du lieber zusehen, dass du nach Hause kommst. Hier draußen wird es bald sehr ungemütlich. Wenn dich ein herumfliegender Ast trifft, haben wir zwei Kranke.«
»Vielleicht schaffe ich es ja noch, bevor das Chaos ausbricht.«
Pippa winkte zum Abschied und ging ein Haus weiter zur Gendarmerie. Wie Régine-Une beschrieben hatte, führte an der rechten Hausseite eine Außentreppe in den ersten Stock zu Duponts Dienstwohnung. Als Pippa hinaufstieg, sah sie durch ein Fenster, dass unten in der Gendarmerie jemand umherlief und telefonierte.
Hauptsache, es ist nicht Dupont, der Sonntagsdienst macht, dachte Pippa, mein Magen knurrt und verlangt nach Nahrung.
Sie hatte kaum geklingelt, als die Tür von Régine-Une geöffnet wurde, die eine karierte Schürze umgebunden und ein Geschirrtuch zur Kopfbedeckung umfunktioniert hatte. Intensiver Knoblauchduft wehte aus der Wohnung.
»Oh, riecht das gut«, sagte Pippa.
»Und schmeckt auch so. Hast du Hunger?«
»Ich könnte für zwei futtern!«
»Da bist du nicht die Einzige.« Régine-Une grinste. »Wir werden auch bald essen.«
Pippa folgte ihr bis in die Wohnküche. Gendarm Dupont stand in Hemdsärmeln an einem altertümlichen Gasherd und rührte mit einem riesigen Holzlöffel in einem Topf, in dem es lautstark brodelte. Bei ihrem Eintreten drehte er sich zu ihnen um.
»Darf ich vorstellen«, sagte Régine-Une, »Pierre Dupont – Pippa Bolle.«
Pippa lächelte. »Wir hatten bereits das Vergnügen. Vielen Dank für die Einladung.«
Sie streckte ihm die Hand hin, die der kauzige Dupont allerdings geflissentlich ignorierte.
»Einladung? Nicht von mir«, brummte er und wandte sich wieder dem Topf zu.
»Wie es aussieht, ist heute Nackenbeißer-Tag«, flüsterte Pippa.
Régine-Une lachte leise. »Unterabteilung berühmter Sternekoch trifft arme Spülhilfe, um genau zu sein.« Sie deutete auf den Arbeitstresen, der den Raum zum Esszimmer teilte. Dort lag aufgeschlagen ein dicker Liebesroman. »Pierre kocht ausschließlich nach Rezepten aus seiner Lieblingsreihe. Und zwar hervorragend.«
Dupont war offenbar für Komplimente dieser Art empfänglich. »Die funktionieren immer. Und die Geschichten erst! Kann ich nur empfehlen, wenn Sie mal ein gutes Buch lesen wollen. Die Reihe heißt Grand Hotel, und dieser Roman Tränen am Spülstein. Also, die Küchenhilfe ist ein Mädchen aus den Vorstädten von Paris. Sie ist wahnsinnig talentiert, aber zu arm, um in eine der berühmten Kochschulen …«
Er gab großzügig Pfeffer ins Ratatouille und verstummte mitten im Satz, so als würde das Würzen seine gesamte Konzentration beanspruchen. Dann drehte er sich zu ihnen um, runzelte die Stirn und sagte in beachtlichem Deutsch: »Was steht ihr hier noch rum? Deckt den Tisch, das hier ist so gut wie fertig und muss gegessen werden, solange es heiß ist. Régine, du kümmerst dich um den Wein und das Wasser.«
Pippa sah überrascht von Régine zu Pierre Dupont. »Sie sprechen ja Deutsch!«
»Natürlich spreche ich Deutsch. Schließlich besuche ich seit sechs Jahren Lisettes Koch… Sprachkurse.« Er stellte sich stolz vor seine Suppe, und Pippa ahnte, dass das Rezept dieses Ratatouille nicht nur aus dem Liebesroman, sondern auch aus Pascals Feder stammte.
»Als ich mit Kommissar Schmidt bei Ihnen war, musste er französisch sprechen.«
Der Koch-Gendarm nickte mit dem erzieherischen Eifer eines Grundschullehrers. »Das sollte Sie lehren, niemals die sieste zu unterschätzen.« Dann sah er Régine gebieterisch an. »Was ist jetzt: Teller, Bestecke, Brot. Ich sehe nichts!«
Régine-Une bedeutete Pippa, sich an den Esstisch zu setzen, und sagte leise: »Lass mich das lieber allein machen. Je weniger Lärm wir verursachen, desto besser für uns – und den großen Meister.«
Ist der von sich eingenommen, dachte Pippa, das Maß seiner Verehrung für Régine-Une ist seit dem letzten Treffen aber drastisch gesunken.
»Ist der nur an seinen Cowboytagen in dich verliebt?«, flüsterte Pippa. »Bieten ihm die Nackenbeißer-Tage so viel Gefühl, dass er dann für die echte Liebe verloren ist?«
Régine-Une lachte leise. »Ich bin ganz zufrieden mit dieser Aufteilung. Und jetzt decke ich lieber den Tisch, bevor ich Ärger kriege.«
Pippa war entschlossen, sich vom griesgrämigen Dupont nicht einschüchtern zu lassen, und sagte: »Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter: Haben Sie die Akte einsehen können?«
Pierre Dupont fuhr herum. »Ja – und ich möchte an dieser Stelle noch einmal betonen, dass ich mit der Weitergabe der Informationen nicht einverstanden bin. Es ist nicht gut, wenn man aus alten Akten plaudert. Das ist meine Meinung.« Er starrte sie herausfordernd an. »Und dabei bleibe ich.«
»Ach ja?«, schoss Pippa zurück. »Es ist aber auch nicht gut, einfach einen Toten nach Deutschland abzuschieben – ganz gleich, wie seltsam die Begleitumstände seines Todes sind. Das ist meine Meinung.«
In Duponts Gesicht malte sich Überraschung. »Seltsam? Für mich waren die nicht seltsam. Den Unfall mit der Kühlwagentür habe ich ordnungsgemäß gemeldet und an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Der Gendarmerie von Chantilly sind keinerlei Vorwürfe zu machen.«
Wahrscheinlich hat er recht, dachte Pippa, in Deutschland wären die Untersuchungen auch auf Unfall hinausgelaufen. Immerhin wird nur ein Bruchteil aller Morde auch erkannt, sagt Freddy.
»Außerdem möchte ich darum bitten, die Fälle nicht zu vermischen«, fuhr Dupont in beleidigtem Ton fort. »Der Tod des deutschen Anglers hat nun wirklich nichts mit Jean Didier zu tun.«
Abrupt wandte er sich um, stellte den Herd ab und begann, das Ratatouille aus dem Topf in eine große Terrine zu schöpfen.
Pippa sah erstaunt, dass Régine-Une den Tisch für vier Personen deckte. »Wer kommt denn noch? Jean Didier?«, fragte sie scherzhaft.
Régine-Une schüttelte amüsiert den Kopf. »Nein – nur du, ich und die Polizei.«
Pierre kam mit der Terrine und stellte sie auf den Tisch. Als er sich gerade gesetzt hatte, ging die Tür auf und – Gendarm Dupont betrat die Wohnung. Pippa blieb der Mund offen stehen.
Der Polizist warf ein Westernheft auf den Tresen und rieb sich die Hände. »Ah – wie lecker das duftet! Ein Rezept aus dem Grand Hotel, hoffe ich.«
Pierre Dupont nickte und füllte die Teller. »Selbstverständlich, Paul. Setz dich, wir haben nur auf dich gewartet.«
Pippa gewann langsam ihre Fassung zurück. »Zwillinge!«
»Eineiig«, erklärte Régine-Une, als wäre das nicht ganz offensichtlich.
»Du gemeine …« Pippa stieß sie an. »Warum hast du mir das nicht gesagt?!«
»Die beiden wollen nicht, dass Fremde davon erfahren«, sagte Régine-Une, was die Duponts mit einem Grinsen quittierten. »So können sie sich ihre Dienste nicht nur selber einteilen, sondern auch ihre Schichten nach Belieben untereinander tauschen.«
Paul Dupont sah Pippa an. »Wer es erfährt, gehört in Chantilly dazu und weiß, wie er uns auseinanderhalten kann.«
Pippa deutete auf die beiden Hefte auf dem Tresen. »Natürlich, am Lesestoff.«
Régine-Une lachte herzlich. »Daran auch. Darf ich offiziell vorstellen: Paul Dupont, verantwortlich dienstags, donnerstags und samstags. Pierre Dupont – unser Koch –, montags, mittwochs und freitags. Sonntags nach Bedarf, bei Autan sind beide im Dauerdienst.«
Die beiden Polizisten nickten – völlig synchron.
»Gibt es bei euch alles im Doppelpack?«, fragte Pippa kopfschüttelnd.
Paul Dupont warf Régine-Une einen sehnsüchtigen Blick zu. »Schön wär’s.«
Pippa lobte Pierre Dupont in den höchsten Tönen für das Ratatouille und verdiente sich damit einen ordentlichen Nachschlag.
Obwohl von ihrem Kompliment sichtlich geschmeichelt, sagte er mürrisch: »Trotzdem ist es gar nicht gut, aus alten Akten irgendwelche Dinge auszuplaudern. Das bringt nur Arbeit. Ihr werdet sehen.«
»Eigentlich hoffe ich, dass es Arbeit vermeidet – und eine ganze Menge aufklärt«, erwiderte Pippa.
Pierre Dupont schüttelte den Kopf. »Solche Geschichten soll man ruhenlassen.«
Ich muss ihn bei seinen Vorlieben kriegen, dachte Pippa. »Aber in Liebesromanen ist das doch auch immer so: Ein winziges Detail wird gefunden, ein Missverständnis wird dadurch aufgeklärt – und die kleine Spülhilfe und der Sternekoch können endlich zusammen glücklich werden.«
»Sie kennen den Roman!« Pierre Dupont riss die Augen auf. »Und jetzt haben Sie mir das Ende verraten!«
Blitzschnell hob Pippa ihre Serviette zum Mund, um ihre Heiterkeit zu verbergen. Als sie sich wieder gefangen hatte, wandte sie sich an Paul Dupont, in der Hoffnung, dass er redseliger war. »War es schwierig, Akteneinsicht zu erlangen?«
»Nur, die Akte zu finden«, erwiderte er und widmete sich seelenruhig wieder seinem Essen.
»Nun spann uns nicht so auf die Folter! Erzähl schon!«, rief Régine-Une ungeduldig.
Paul Dupont hatte seinen Teller sorgfältig leergekratzt. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sagte: »Es ist alles akribisch dokumentiert. Die Suchaktionen, die Befragungen, alles.« Er griff nach seinem Glas, leerte es und schenkte erst allen anderen und dann sich selbst nach.
»Paul Dupont!«, fauchte Régine-Une. »Ich gönne dir deinen Genuss und verstehe, dass du ihn auskosten willst. Aber lass uns nicht zappeln. Gibt es irgendwelche Erkenntnisse? Ergebnisse? Feststellungen?«
»Keine.«
»Keine?«, riefen Pippa und Régine-Une wie aus einem Mund.
Der Polizist nickte bedächtig. »Die Untersuchungen wurden eingestellt.«
Pippa winkte ab. »Natürlich wurden sie irgendwann eingestellt – aber was war davor? Wurde festgestellt, dass es sich bei dem Blut nicht um menschliches, sondern um Rattenblut handelt?«
»Das Blut wurde nicht weiter untersucht.«
»Wie bitte?« Pippa konnte es nicht fassen. »Aber warum denn nicht?«
»Weil Jean Didier der Polizei mitgeteilt hat, dass es Rattenblut ist«, sagte Paul Dupont.
Pippa verstand die Welt nicht mehr. »Jean? Aber wieso denn Jean?«
»Er erschien auf einer Wache in Toulouse und machte eine Aussage. Die wurde an uns weitergeleitet – und Revel hat die Akte geschlossen. Ende der Ermittlungen.«
»Wann war das denn?«, fragte Pippa fassungslos. »Ab wann wusste die Polizei, dass es Jean gutgeht?«
»Ab Tag drei seines Verschwindens. Ab 15.04 Uhr, um genau zu sein.«
»Aber das hätte man Thierry Didier doch mitteilen müssen! Das kann man doch der Familie …«
Paul Dupont hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Thierry wurde informiert. Auf dem Revier von Revel. Um 18.30 Uhr, also dreieinhalb Stunden, nachdem die Polizei Bescheid wusste.«
Pippa verschlug es die Sprache. Sie starrte stumm vor sich hin, während sie versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Dann konstatierte sie: »Thierry und Cateline wussten also, dass es Jean gutgeht.«
»Das ist nicht ganz richtig«, erwiderte Paul Dupont. »Da Cateline durch die Aufregung gerade ihr ungeborenes Kind verloren hatte, wollte Thierry sie schonen. Er behielt alles für sich. Er hat nicht mal versucht, den Auftrag für die Toilette des Stausees zu stornieren. Dafür opferte er lieber sein Haus in der Rue Cassoulet. Er war wie besessen davon, dass niemand etwas merkt – vor allem sie nicht.«
»Alles nur aus Angst vor Gesichtsverlust und aus verletztem Stolz?« Pippa konnte es nicht glauben.
»Alles, um nicht beichten zu müssen, was er dann tat. Er war außer sich vor Wut wegen Jean. Ich denke, es ist seinem Zorn geschuldet, dass er …« Der Polizist zuckte mit den Schultern.
»Dass er dann was tat?«, drängte Régine-Une ihn zum Weiterreden.
»Thierry Didier erteilte der Polizei die schriftliche Anweisung, seinem Sohn eine bestimmte Nachricht zukommen zu lassen. Jean war volljährig, also geschah das auch. Und Jean blieb verschwunden.«
Pippa schlug das Herz bis zum Hals, als sie Paul Dupont fragend ansah.
»Thierry hat seinem Sohn verboten, sich je wieder bei ihm blicken zu lassen.« Paul Dupont seufzte. »Es steht alles in der Akte. Er tobte auf dem Revier wie ein Wilder und schwor, dass er Jean nie wieder in Catelines Nähe lassen würde. Er werde mit seiner jungen Frau ein neues Leben beginnen – so als habe Jean nie existiert.«
»Er hat es all die Jahre gewusst und Cateline nichts gesagt«, flüsterte Pippa erschüttert und fügte in Gedanken hinzu: Und umgekehrt.
»So viel zur Musterehe der Didiers«, sagte Régine-Une. »Unter Vertrauen und Ehrlichkeit verstehe ich etwas anderes.«
Pierre Dupont, der in der Zwischenzeit gespült hatte, kam an den Tisch. »Habe ich es nicht gesagt? Es ist nicht gut, alte Akten zu öffnen.«
Pierre Dupont begleitete Pippa nach draußen.
»Wir wollen den beiden ein wenig Zweisamkeit gönnen«, sagte er betont mürrisch.
Du hast eben doch ein weiches Herz, dachte Pippa, wenigstens dafür sind die Liebesschnulzen gut. Vielleicht sollte ich auch mal wieder eine lesen. Ein bisschen heile Welt wäre genau, was ich jetzt brauchen könnte.
Der Gendarm gab ihr noch die Empfehlung mit auf den Weg, sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu begeben, dann verabschiedete er sich auf seinen Posten in der Gendarmerie.
Mit einem Blick auf den sich verdüsternden Himmel schulterte Pippa den Rucksack und machte sich auf den Weg in die Rue Cassoulet.
Tibor kam sofort aus seinem Wohnwagen, begrüßte sie erfreut und informierte über die Fortschritte im Haus. »Gott sei Dank sind die Fensterläden termingerecht gekommen. Alles ist montiert – der Sturm wird vergebens daran rütteln.«
»Ich habe etwas für Sie«, sagte Pippa, zog Pias Umschlag aus ihrer Umhängetasche und gab ihn Tibor.
Dieser öffnete das Kuvert und holte die Geldscheine heraus. »Sehr willkommen!«, sagte er begeistert. Er steckte das Geld in die Hosentasche und fuhr fort: »Meine Crew und ich haben uns als Sturmhelfer gemeldet. Diese kleinen Jungs hier finanzieren uns die Wärmflasche danach.«
»Dann sehe ich euch später im Vent Fou. Ich habe mich mit der Vorstellung, dass der Sturm euren Wohnwagen durchschüttelt, ohnehin nicht wohl gefühlt. Meldet euch später bei mir, ich gebe einen aus.«
»Was denn?«, fragte Tibor zweifelnd. »Heißen Kakao?«
»Mit Schuss.«
Pippa bat Tibor um eine Taschenlampe und ließ sich von ihm die Falltür zum Kriechkeller öffnen. Sie wollte einige der Zeitungsartikel von der Voodoowand holen, um sie Pia zu zeigen.
Nur noch dies und das Gespräch mit Pascal, dann schreibe ich meinen kleinen Bericht für Pia, dachte Pippa. Ich hoffe, ihr reicht die Gewissheit, dass in ihrem Haus kein Mord geschehen ist – und sie behält alles andere für sich, bis die Legrands und die Didiers wieder selber miteinander reden.
Sie kletterte in den Kanal, der jetzt viel feuchter war als bei ihrem ersten Besuch. Die Wassermassen, die bei den starken Regenfällen hindurchgeflossen waren, hatten die Voodoowand fast komplett mitgerissen; lediglich ein Foto von Pascal samt Rattenschwanz hatte überlebt. Enttäuscht sah sie, dass auch die Zeitungsartikel verschwunden waren. Sie leuchtete den Tunnel aus in der Hoffnung, noch Reste zu finden, und entdeckte die Bruchstücke einige Meter weiter.
Obwohl sie zerrissen waren, versuchte Pippa, die Fragmente vorsichtig von der Wand abzulösen, um sie später zu trocknen und zusammenzukleben. Als sie aus der schwarzen Tiefe des Tunnels Stimmen hörte, erstarrte sie mitten in der Bewegung.
»Was ist da los?«, rief Tibor aus dem Kriechkeller und kam durch das Loch in der Mauer zu ihr.
»Scht!« Pippa winkte Tibor zu sich und knipste ihre Taschenlampe aus. Sie drückten sich in eine Mauernische. Der Lichtstrahl einer Lampe und die Stimmen kamen näher.
»Falls Sie wetten möchten, wer da kommt …«, bot Tibor leise an.
»Wäre unfair. Ich weiß, wer kommt«, gab Pippa zurück.
Die Besucher waren nur noch wenige Meter entfernt, als Pippa aus der Nische sprang, die Taschenlampe anknipste und das Licht direkt auf den ersten von ihnen richtete.
»Guten Tag, Thierry!«, rief sie.
Thierry Didier blieb wie angewurzelt stehen. Eric, der älteste der Viererbande, konnte nicht rechtzeitig reagieren und rannte gegen seinen Vater. Thierry stolperte nach vorn, und aus dem Eimer, den er in den Händen hielt, schwappte ein Schwall Seifenwasser über Pippa und Tibor.
Thierry schnappte nach Luft. »Pippa, haben Sie mich erschreckt!«
»Das hätte ich auch ohne diesen Kommentar gemerkt«, sagte Pippa und sah an ihrer triefenden Jacke hinunter. »Ihre Reaktion war unmissverständlich.« Sie prustete und brach in Lachen aus, in das die Männer einstimmten.
»Was um Himmels willen wollen Sie hier mit dem Putzwasser?«, fragte Pippa, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten.
»Die Wand reinigen«, erklärte Thierry, und Eric nickte. »Wir wollten nicht, dass der Regen alles in den See spült.«
»Lobenswert, aber zu spät«, sagte Pippa. Sie deutete auf das Foto an der Wand. »Das ist alles, was vom Versuch Ihrer Söhne, Ihr familiäres Problem zu lösen, noch übrig ist. Vielleicht wäre es an der Zeit, sich mal mit Ihrer Frau an einen Tisch zu setzen und endlich auszupacken?«
Thierry runzelte besorgt die Stirn. »Aber Cateline …«
»… wird Ihnen nicht weglaufen«, fiel Pippa ihm ins Wort. »Ganz bestimmt nicht. Das verspreche ich Ihnen.«
Zurück im Erdgeschoss lehnte Pippa das von Tibor angebotene Handtuch dankend ab. »Auf dem Weg zum Vent Fou werde ich ohnehin wieder nass.« Sie deutete nach draußen in den leichten Regen.
Sie nahm den Rucksack hoch und wollte gehen, als Tibor sie aufhielt. »Einen Moment noch«, sagte er, ging zu einem Spind und schloss ihn auf. Er holte ein paar Wettscheine heraus und gab sie Pippa.
Sie blätterte durch die Scheine.
»Die sind ja alle von Franz Teschke.«
Tibor nickte. »Eben. An wen soll ich seine Einsätze zurückgeben?«
»Sein Erbe und Nachlassverwalter ist Lothar Edelmuth. Aber behalten Sie das Geld doch – für Ihre Auslagen und Ihren Aufwand.«
Tibor riss die Augen auf. »Sind Sie sicher?«
Seine sichtliche Fassungslosigkeit machte Pippa stutzig. »Wieso – wie viel Geld ist es denn?«
»Zweitausend Euro!«
Auf dem Weg zum Vent Fou grübelte Pippa, wie Teschke, der stets klamme Kleinrentner, auf legalem Wege zu so viel Geld gekommen sein könnte. Erst die dreitausend Euro aus dem Futterboot, jetzt seine Wetteinsätze.
Sie sah sich die selbstgemachten Wettscheine näher an: Teschke hatte gegen seine Kollegen gewettet, so sicher war er sich gewesen, dass sein Fang der Siegerfisch des Wettbewerbs werden würde. Er hatte jeweils hundert Euro pro Kilo zum Nächstplatzierten gesetzt, ein schönes Sümmchen – kein Wunder, dass jemandem der Kragen geplatzt war.
Aber wem?
Im Vent Fou herrschte Trubel, denn der Veranstaltungssaal wurde mit Hochdruck zur Notunterkunft umfunktioniert. Freiwillige Helfer schleppten Feldbetten, Tische und Stühle in den Raum und bauten alles auf. Pippa schlängelte sich durch die Leute und stieg sofort in ihre Wohnung hinauf, um sich trockene Kleider anzuziehen.
Danach ging sie zum Fenster und stellte fest, dass ihr Fernglas schon wieder vom Schreibtisch auf die Fensterbank gewandert war.
Wer ist der Spion, der mein Zimmer und mein Fernglas benutzt?, fragte sich Pippa. Es muss jemand sein, der an den Generalschlüssel kommt – also Pascal, Lisette oder Ferdinand. Und von euch dreien, Pascal, bist du der Wahrscheinlichste. Sie sah hinüber zum Camp der Kiemenkerle. Der Regen war stärker geworden, und die durchnässten Männer kämpften gegen den Wind, während sie das Lager abbauten, um alles in den Bus zu laden.
Pippa setzte sich an den Tisch und öffnete die Mappe, in der sie die feuchten Zeitungsfragmente aus dem Tunnel transportiert hatte. Vorsichtig löste sie die Fetzen voneinander und strich sie auf weißem Papier behutsam glatt. Dann legte sie die Artikel auf den Blättern zum Trocknen auf die Heizung.
Sie wollte gerade ihren Computer hochfahren, um im Internet nach Informationen über die Symptome von Pseudologie zu suchen, als Karin anrief.
»Dein Weinhändler ist im Urlaub«, teilte ihr die Freundin aufgeregt mit. »Es hängt ein Schild in der Tür, dass der Laden zurzeit Betriebsferien hat.«
»Danke, Karin. Dieses Puzzleteilchen hat mir noch gefehlt.« Pippa erzählte vom anonymen Brief an Cateline und umriss in kurzen Worten, zu welchen neuen Erkenntnissen sie in der Zwischenzeit gelangt war. »Jean Didier ist also putzmunter und sitzt in einem Elsässer Gefängnis«, schloss sie ihren Bericht. »Sowohl Cateline als auch Thierry wussten genau, dass er nicht tot ist, haben das aber seit Jahren voreinander verheimlicht. Für mich ist das Rätsel gelöst.«
»Für mich nicht«, sagte Karin.
»Was fehlt dir denn noch?«, fragte Pippa erstaunt.
»Was Franz Teschke damit zu tun hatte, zum Beispiel. Du hast mir gerade erzählt, dass er sich mitten in der Nacht mit Cateline treffen wollte und ihr eine Nachricht von Jean versprochen hat. Leider ist er nicht mehr in der Lage, uns höchstpersönlich dazu Auskunft zu geben.«
»Verdammt, du hast recht.«
»Ich freue mich, das zu hören, es ist ein so seltenes Vergnügen.«
Pippa überhörte die Anspielung. »Was schlägt die große Detektivin also als nächsten Schritt vor?«
»Stell Pascal zur Rede«, sagte Karin bestimmt. »Es muss irgendeine rationale Erklärung für dieses Durcheinander geben, sonst wäre ich doch nicht …«
»… auf ihn reingefallen?«
»… auf seine Vorschläge eingegangen«, vollendete Karin ungerührt. »Frag ihn also, was das alles sollte, und vergiss vor allem eines nicht …«
»Ja?«, fragte Pippa gespannt.
»Mich anschließend anzurufen und mir brühwarm zu berichten.«
»Ich weiß, dass ich mit ihm reden muss, aber am liebsten würde ich mich davor drücken.« Pippa stöhnte. »Was soll ich ihm denn sagen? Wie fange ich an?«
»Ist doch ganz einfach: Du konfrontierst ihn mit deinen Erkenntnissen«, sagte Karin. »Ich denke, es war so: Pascal hat Jean Didier im Gefängnis kennengelernt und so vom Vent Fou erfahren. Als Pascal wieder draußen war, hat er sich mit seinem Weinkumpel Jan-Alex Weber unauffällig in der Gegend umgesehen, sich bei der Paradies-Wirtin beliebt gemacht und dafür gesorgt, dass sie ihn im Vent Fou einführt. Und jetzt sitzt er fest im Sattel, und Jan-Alex Weber guckt als Alexandre Tisserand verkleidet seelenruhig zu.«
»Schön und gut. Und wirklich plausibel. Aber warum?«
»Was warum?«
»Warum taucht Weber als Tisserand in Chantilly auf?«, überlegte Pippa. »Er hätte doch einfach mit den Kiemenkerlen herkommen können. Als Jan-Alex Weber. Wozu diese Maskerade?«
»Er wird einen triftigen Grund haben.«
»Das ist mir klar«, gab Pippa zurück, »aber welchen?«
»Was weiß ich? Vielleicht wollte er nicht, dass man ihn erkennt, weil das Pascals Pläne gefährdet hätte. Er musste eben sichergehen, dass alles rund läuft, bevor er sich hinter seiner Staffelei hervorwagt.«
Pippa sah die schönen Bilder vor sich, die unter seinen Händen entstanden waren. Er malt mit geradezu religiöser Andacht, dachte sie – und hielt den Atem an, als sie begriff.
»Hallo, bist du noch da?«, drang Karins Stimme an ihr Ohr.
»Religiöse Andacht! Malerei! Ikonen!«, rief Pippa elektrisiert. »Das ist es! Der Mann sitzt gar nicht mehr im Gefängnis.«
»Wie bitte? Ich verstehe nicht.«
»Meine Liebe, ich muss dringend etwas erledigen, ich rufe dich später wieder an«, sagte Pippa ungeduldig und beendete das Gespräch, ohne Karins Protest zu beachten.
Aufgeregt rannte sie zu den Zeitungsausschnitten auf der Heizung. Sie nahm Blatt für Blatt zur Hand und studierte sie.
Da war der Beweis! Sie sank auf einen Stuhl und starrte auf das Zeitungsfragment. Es zeigte ein Foto des vermissten Jungen, mit der Bildunterschrift: Jean-Alexandre Didier, 18 Jahre.
Pippa schlug sich vor die Stirn und rief: »Gott, war ich blöd!«