Epilog
Ein Vater, den man nicht kennt, ist wie
ein Teil von einem selbst, der im Schatten liegt. Magdalenas Augen
folgen Tiziano, der sich auf der Tanzfläche seinen Weg zwischen
zwei hingeworfenen BMX-Rädern und einem Skateboard bahnt. Sie
lächelt, denn er geht, ohne anzustoßen, wie von einer unsichtbaren
Hand geleitet.
Jetzt verschwindet Tiziano unter den Pinien, sie
weiß, er ist unterwegs zu seinem Lieblingsplatz, dem alten, von
grüner Patina überzogenen eisernen Pavillon, den Matteo auf der
freien Fläche zwischen Zitronenbäumen und Brunnen aufgestellt hat.
Irgendwo auf dem Land in der Nähe von Lucca hat Magdalena ihn
entdeckt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Zehn Holztische mit
Marmorplatten und siebenunddreißig türkisblaue Caféhausstühle
standen kreuz und quer übereinandergestapelt daneben. Sie hat alles
sofort gekauft, obwohl Matteo sie für verrückt erklärte. Jetzt
stehen sechs Tische vor der Orangerie und die restlichen vier unter
und neben dem Pavillon, der Lack blättert wie welkes Herbstlaub von
den Stühlen ab, doch Magdalena hat Matteo verboten, sie zu
streichen. Die Kissen leuchten in der gleichen Farbe wie die
Zitronen im Laub, es sieht fantastisch aus.
All die langen Jahre hatte sie nicht gewusst, wer
für ihre andere Hälfte verantwortlich war, wen sie bewundern, gegen
wen sie sich auflehnen sollte. Aber es war schließlich gar nicht
mehr
nötig gewesen, sich gegen Tiziano aufzulehnen. Seit ihrem Treffen
vor einem Jahr hier unter den Zitronenbäumen hatte er Magdalena mit
allem vertraut gemacht, was zu ihm gehört: Sie hat mit seiner alten
Mutter und seiner Exfrau in Livorno Bekanntschaft gemacht, also mit
dem nicht gerade wohlwollenden Teil seiner Familie. Sie hat in
seiner Wohnung hoch über Portoferraio übernachtet, ihn in seinem
Amtszimmer in der comune besucht, mit seinen Freunden zu
Abend gegessen und - ganz wichtig - seine Söhne kennengelernt.
Tiziano hat ihr seine wenigen Fotos von Heidi überlassen, dazu
Heidis Halsschmuck, den sie ihm damals geschenkt hatte, ein
schwarzes Band mit einer Feder aus Silber daran, und er hat seinen
größten Schatz mit ihr geteilt: seine Erinnerungen an die Tage
ihrer Liebe, im Sommer vor zweiunddreißig Jahren.
Matteo taucht mit seinem in Leder eingebundenen
Buch zwischen den Bäumen auf. Jede Adresse, jeder Name, jede
Telefonnummer ist hier eingetragen, das Buch ist sein Masterplan,
Herz und Hirn des Konzepts. Sie sieht, wie er für sie unsichtbare
Haken hinter unsichtbare Worte macht, und obwohl sie ihn nicht
hören kann, weiß sie, dass er laut vor sich hin spricht:
»Stromleitungen und Toiletten sind abgenommen, die verordnete
Anzahl von Notausgängen auch, Kaffeemaschine - ist da, Putzkolonne
- ist weg, Außenlichtanlage - vom Feinsten, Getränke - liefert
Beppe morgen, Torten kommen aus der Bar Elba …« Tiziano
steuert auf ihn zu, kurz bleiben die beiden Männer
beieinanderstehen und reden, bis Matteo weitergeht und mit
wiegendem Gang die Tanzfläche erreicht. Fast wäre er über das
Skateboard gestolpert, er kickt es an die Seite und murmelt vor
sich hin, verdammte Gören. Magdalena beugt sich vor, um ihre
Ellenbogen auf die Mauer stützen zu können. Mit dem Kinn in den
Händen sieht sie ihn an. Sie liebt dieses Gesicht.
Er schaut sich um, als wittere er etwas, endlich
bemerkt er Magdalena über sich auf der Terrasse und schneidet eine
Grimasse. »Wie lange stehst du da schon? Immer beobachtest du mich,
demnächst nehme ich Eintritt.« Magdalena lacht, seine Augen
bekommen einen weichen Ausdruck. Es erstaunt sie immer noch, dass
sie sich so lange und ohne jede Verlegenheit in seine Augen fallen
lassen kann. In den ersten Wochen hat sie sich um so viel Coolness
bemüht, dass er fragte, ob sie krank sei. Ja, sie war krank, krank
vor Angst, ihre Hände nicht bei sich behalten zu können, ihn zu
nerven, zu langweilen, mit ihrer Liebe zu erdrücken. Ich bin schon
recht kräftig, hatte er sie beruhigt, ich halte dich aus. Den
ganzen Tag. Und die Nacht dazu, wenn’s sein muss … Es musste sein.
Jede Nacht.
Magdalena atmet tief ein, reißt ihren Blick von
ihm los und zeigt auf die Tanzfläche:
»Beinahe wärst du gestürzt, die Jungs sollen
ihren Kram wegräumen, wo sind die überhaupt? Ab jetzt werden sie
den Fußball draußen lassen müssen und die BMX-Räder auch. Wir
eröffnen hier morgen schließlich keine Biker-Bahn!«
»Ach, ich finde dich ganz schön streng in letzter
Zeit, kaum machst du dich selbstständig, wirst du zur Tyrannin. Die
Jungs brauchen das, und mir macht es Spaß!«
Matteo flucht zwar manchmal über die beiden, doch
er tobt liebend gern mit ihnen durch den Park und schlägt sich
stets auf ihre Seite. Selbst als Dario und Leandro neulich kleine
Kieselsteinchen in den Ablauf des Brunnens gestopft und damit das
Gelände unter Wasser gesetzt haben, hat er sie noch verteidigt.
»Ich, eine Tyrannin?! Stimmt ja gar nicht.«
»Hast du nicht gesagt, dass Rudi früher in seiner
Schule auch so tyrannisch war? Dass alle nach seiner
Hausmeisterpfeife tanzen mussten?«
»Nein, das habe ich nicht gesagt!«, ruft sie
hinunter. »Außerdem
mache ich mich nicht selbstständig, sondern wir
machen das Ding zusammen, oder? Ich würde niemals allein auf die
Idee kommen, für zehn Jahre etwas zu pachten … Aber noch mal zu den
Jungs, die könnten doch wirklich mal mit anpacken, anstatt nur den
ganzen Tag herumzuspielen.«
»Du hast sie halt zu sehr verwöhnt!« Matteo formt
mit den Händen einen Trichter um seinen Mund, damit sie ihn dort
oben besser hören kann: »Und bald kommen sie in die Pubertät, dann
ist sowieso Schluss mit dem Rumgeschmuse, mit Maddi hier und Maddi
da … Und eigentlich gefällt’s dir doch recht gut, dass Tizianos Ex
die beiden in den Ferien bei ihm ablädt. Gib’s zu!«
»Meinst du, sie werden bald zu muffeligen Typen,
deren Füße nach Schweiß stinken und die unter ihren
Sweatshirt-Kapuzen keine Antworten mehr geben? Dario ist noch nicht
mal zehn.«
»Vielleicht dauert es auch noch ein, zwei Jahre,
bis es so weit ist, gioia! Und jetzt komm runter, wenn du
mit mir sprechen willst, ich bekomme sonst Genickstarre!«
Magdalena lächelt, sie liebt es, wenn Matteo sie
gioia nennt. Sie eilt durch die Küche, hält dann plötzlich
inne. Im September kommt Pjotr aus Warschau, vierundzwanzig und
begabt, wie sein Professor ihm bescheinigt. Monatelang war sie mit
Edmondo auf der Suche nach einem passenden Studenten für den ersten
Stipendiumsplatz gewesen. Haben sie den richtigen Kandidaten
ausgewählt? Er wird hier bei ihnen in einem der winzigen Zimmer
wohnen. Er wird Magdalenas Spaghetti essen müssen, und er darf
während der Öffnungszeiten des Cafés nur leise arbeiten, also keine
Steinsäge, kein Presslufthammer. Ob er das akzeptieren wird?
Magdalena nimmt eine Haarsträhne in den Mund und kaut darauf herum.
Bildhauerei ist nun mal laut. Staubig, nass, schmutzig. Sie läuft
weiter, springt die Stufen hinunter und kommt vor Matteo zum
Stehen. Wortlos
nimmt sie seine Hand, ihre Finger verflechten sich sofort
ineinander, schweigend schauen sie durch die geöffneten Fenster der
Orangerie. Eine fette Hummel kommt hereingeflogen, nimmt eine
Abkürzung durch das nächste Fenster wieder hinaus und rein in den
Lavendel. Das Atelier, das Antonello ihr vererbt hat, ist hier oben
wieder aufgebaut worden, es sieht fast so aus wie in seinem Haus,
nur ist der Raum größer. Vor den Seitenfenstern erstrecken sich die
langen, stabilen Tische für die Arbeiten an Modellen aus Gips und
Holz, davor drei höhenverstellbare Böcke. An der hinteren Wand, wo
ehemals die durchgesessenen Sofas und Tischchen aufgestellt waren,
liegen nun die Werkzeuge im Regal. Auf breiten Simsen stehen die
kleinen Skulpturen und Modelle der Künstler, die Magdalena damals
bei ihrem Besuch so bewundert hat, die größeren haben sie in der
Bar an der Wand entlang aufgereiht. Eine kleine Armee von Büsten,
Köpfen, Speerwerfern und sogar ein einzelner Fuß, groß wie ein
Kinderdreirad.
»Ich finde es sehr charmant, auch mit der
Fensterwand als Abtrennung zur Bar, aber vielleicht hemmt es ihn,
dass man ihm beim Arbeiten zuschauen kann? Ich habe ja keine Ahnung
von Künstlern und Bildhauerei.«
»Es wird ihn schon stören, dass er manchmal nicht
laut arbeiten darf. Aber da muss er sich einrichten.«
Matteo zieht Magdalenas Rücken an sich und küsst
sie in den Nacken. »Vielleicht hättest du den Teil des Erbes
ablehnen sollen«, raunt er in ihr Ohr, »oder die Werkstatt
verkaufen und Antonellos Stiftung für junge Bildhauer in eine
Förderung für gehörlose Makramee-Künstler umwandeln sollen.«
»Super Idee! Aber mal im Ernst, einen Teil der
Skulpturen zu verkaufen war in Ordnung, aber die Werkstatt … das
hätte ich nie übers Herz gebracht.«
Er dreht sie um und küsst sie wieder, diesmal auf
den Mund.
»Ich weiß. Mach dir keine Sorgen, der kleine Pole
wird schon arbeiten können. Außerdem bestimmen wir ja die
Öffnungszeiten, wir machen auf, wann wir wollen.«
»Wir wollten keine Touristenbusse!«
»Wir brauchen Gott sei’s gedankt auch keine
Busse. Erstens können sie hier oben sowieso nicht richtig parken,
und zweitens schaffen wir’s, auch ohne Touristengruppen in den
ersten Jahren zu überleben.«
Magdalena nickt. Das haben sie der Säule mit den
Flügeln von Wajda zu verdanken, die im Atelier zwischen den anderen
Werken stand. Der Verkaufserlös hat ihnen den Umbau des POLO erst
ermöglicht. Edmondo, der ihnen im Laufe des letzten Jahres ein
guter Freund geworden war, hatte Antonellos handschriftliche
Testamentsänderung zu keiner Zeit angezweifelt.
»Wir müssen unbedingt nach Bologna und uns die
Säule auf dem Platz, auf dem sie jetzt steht, anschauen! Wie hieß
der noch mal?«
»Hab’s vergessen. Jetzt schauen wir uns erst mal
an, wie unser erster Sommer so läuft. Und vielleicht vergeben wir
die Stipendien demnächst nur noch im Winter, wenn wir in Rom bei
Nina wohnen. Dann können sich die jungen Polen, Franzosen und
Deutschen hier ohne uns austoben.«
Magdalena drückt seine Hand.
»Meinst du, sie kommt?«
»Nina? Sicher! Vielleicht wird sie nicht lange
bleiben können, heute in einer Woche hat sie schon Abgabe.«
Magdalena zieht die Augenbrauen hoch. Nina arbeitet endlich wieder,
die Übersetzung eines französischen Kochbuchs ist ihr erster
Auftrag seit drei Jahren.
»Ab diesem Wochenende wird sie alleine in der
Wohnung sein.«
»Ich glaube, das schafft sie jetzt. Und außerdem
weiß sie, dass das eine Gästezimmer hier oben immer für sie
reserviert ist.«
»Natürlich!«
Während Nina das Jahr nach ihrem Zusammenbruch in
einem Kloster verbracht hat, sind Matteo und Magdalena in ihre
Wohnung gezogen, haben die Zimmer umverteilt und neu eingerichtet
und immer darauf geachtet, dass Nina bei ihren kurzen Besuchen nie
allein dort war. Während der ersten Wochen hinter den Klostermauern
beschwerte sie sich häufig über das frühe Aufstehen, die
Meditationen und die Gesprächsgruppen.
»Kühe, die im Kreis sitzen, ihre Probleme
wiederkäuen und sich dabei entweder heilig oder beschissen fühlen.
Was soll mir das bringen?« Doch in den vergangenen Monaten hat sich
ihre Einstellung langsam geändert. »Erst dachte ich, die hindern
mich am wahren Leben, doch irgendwann habe ich kapiert, dass sie
mir im Gegenteil dabei helfen. Ich glaube jetzt an das, was mir
guttut.« Und das Kloster hat ihr gutgetan, Magdalena kann es an
Ninas Augen sehen, sie sind nicht mehr auf der Suche, sondern
schauen nach innen, auf sich selbst.
Magdalena pflückt ein gelbes Blatt von einem der
Pomeranzenbäumchen, die um die Tische in ihren Töpfen verteilt
sind, und plötzlich kommen ihr die Tränen, einfach so. Weil Matteos
Geruch so köstlich an ihrer Haut haftet, weil die Sonne scheint,
weil sie Tizianos leise Schritte unter den Pinien kommen hört, weil
sie in diesem Moment, der gleich vorbei sein wird, so vollkommen
glücklich ist. Sie muss an Heidi denken, auch sie weinte angeblich
schnell vor Rührung und Glück, wenn ihr etwas gefiel. Durch
Tizianos Schilderungen hat sich Heidi in Magdalena ausbreiten
können, sie ist in ihr gewachsen, ein Geschöpf, das sie nun immer
begleitet. Magdalena lacht leise auf.
Vielleicht hat sie mich damit sogar angesteckt, fast dreißig Jahre
nach ihrem Tod!
»Das liebte ich an ihr«, hatte Tiziano erzählt,
»wenn ihre Augen sich mit Tränen füllten, nur weil der Mond tief
und rund über dem Meer hing oder ich ihr die Haare mit
Mineralwasser ausspülte. Und dann lachte sie wieder über meine
Witze und versuchte sie nachzuerzählen. Sie war so unabhängig und
selbstständig im Denken, wie ich es seither bei keiner Frau mehr
erlebt habe. Für mich war sie etwas ganz Besonderes. Und das wird
sie immer bleiben.«
Magdalena wischt sich über die Augen. »Also, wer
kommt alles zur Eröffnung?«, fragt sie Matteo.
»Moment. Lass uns meine Liste noch mal
durchgehen. Rudolf und Rosemarie? Stehen hier bei mir noch mit
einem Fragezeichen. Die Senioren von heute haben ja kaum noch Zeit
und kutschieren ständig durch die Welt …«
Magdalena nickt. Rosemarie und Rudi hatten das
Haus auf Giglio renoviert, die Wolgakreuzfahrt nachgeholt und waren
inzwischen zusammengezogen.
»Irgendwie habe ich Rudi für immer in unserem
Hausmeisterhäuschen gesehen, ich habe mir gar keine andere Zukunft
für ihn vorstellen können.«
»Und für dich?«
»Für mich habe ich mir schon immer einen ganz
wunderbaren Mann vorgestellt, einen, der alles kann, bis auf
Boccia.«
»Dann müssen wir wohl eine Runde spielen, damit
ich dir das Gegenteil beweisen kann. Ich habe extra neue Kugeln
gekauft, falls du die eine oder andere bei Bedarf an die Mauer
knallen möchtest.«
Magdalena grinst. »Sehr aufmerksam. Aber meine
Zerstörungswut hat doch schwer nachgelassen, obwohl du sie doch
ganz besonders geliebt hast an mir, oder?!«
»Ich liebe alles an dir!«
Mit Schwung klappt Magdalena das Buch in Matteos
Händen zu und klemmt ihm dabei um ein Haar beide Daumen ein.
»Vergiss deine Liste, sie kommen schon, alle
werden kommen: Evelina, Mikki, Sara und Walter, Giorgio, Massimo
und Gian-Luca auf ihren Motorrädern, die Besatzung vom Club
64 nebenan, sogar Olmo und seine Brasilianerin und Giovanni vom
Tintorello mit Frau und Kindern, hoffe ich. Nina und Holger
natürlich, Opa Rudi und Rosemarie, und Edmondo selbstverständlich.
Ganz Elba wird bei uns zu Gast sein, bei uns im Café
Fortuna!«