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Das staubige Pulver kitzelte. Magdalena zog
die Nase hoch und nieste, dann schnitt sie rasch den vierten Beutel
tè alla pesca auf und ließ den Inhalt in den Plastikkrug
rieseln. Sie gab Wasser dazu und rührte mit einem langen Löffel,
Luftblasen stiegen auf, und es knirschte, wie früher im Sandkasten
beim Matschepampemachen. Wie lautete wohl der italienische Ausdruck
für Matschepampe? Ein Handy brummte leise, Magdalena ließ ihre
Augen schweifen, wo hatte sie nur ihre Tasche hingelegt? In der
kleinen Spülküche herrschte Chaos, sie ähnelte eher einer
Umkleidekabine zwischen Mikrowelle, Spülstein und Küchentisch,
jeder von ihnen schmiss hier seine Sachen hin. Auf dem einzigen
Stuhl häuften sich Jacken und Pullover, drei Helme und mehrere Paar
Schuhe zum Wechseln lagen zwischen Tüten und Kartons verstreut auf
dem Boden. Ein Toaster stand auf der Fensterbank vor dem
Fliegengitter, daneben ein überdimensionales Mayonnaiseglas. Auf
dem Tisch in der Mitte lagen die Überreste des Obstes, aus denen
Magdalena vor einer Stunde in aller Eile frischen Obstsalat
geschnippelt hatte. Keine Zeit, es wegzuwerfen, selbst Franco bekam
keine Ordnung in diese Rumpelkammer. Magdalena entdeckte ihre
Umhängetasche über einer Stuhllehne hängend, mit einer Hand fischte
sie nach dem Handy, mit der anderen rührte sie weiter um.
»Pronto?«
»Aha, jetzt bist du schon ganz italienisch,
was!?«
»Florian …« Mist, sie hatte nicht auf das Display
geschaut.
»Ja, ich bin’s. Der gute Florian. Der gute-gute
Florian.«
Ein Insiderwitz, ein
»Als-wir-noch-zusammen-im-Bett-lagen-Witz«, der ihr ein schlechtes
Gewissen machen sollte. Er war immer so stolz auf seinen Schwanz.
Ist er nicht schön, tut er nicht gut, ist er nicht groß? Na ja,
viele Vergleichsmöglichkeiten hatte sie ja nicht, aber bei einer
Gegenüberstellung mit den anderen dreien, jetzt durch Roberto
vieren, würde er, was den Sex und seine Ausstattung anging, knapp
an vorletzter Stelle liegen.
»Was gibt’s?« Fröhlich klingen und bloß nicht
genervt sein, das war die beste Tour, ihn auf später zu vertrösten
und das Gespräch schnellstmöglich zu beenden.
»Wann kommst du zurück?« Sie atmete erst mal aus.
Pause. »Babylein.«
Sein »Babylein« klang todtraurig und wirklich
einsam, auf einmal tat es Magdalena leid, ihn dort in Deutschland
zurückgelassen zu haben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wie
einen Hund an einem Autobahnrastplatz hatte sie ihn einfach
ausgesetzt und war weggefahren. Mit der freien Hand schob Magdalena
die Apfel-, Kiwi- und Orangenschalen auf der Tischplatte
zusammen.
»Sag doch was! Wann kommst du, ich habe keine Lust
mehr, auf dich zu warten.«
Sein Lachen fiel ihr wieder ein und seine glatten
braunen Haare. Wenn er mit beiden Füßen gleichzeitig auf die
Bettkante sprang und Michael Jackson für sie imitierte, flatterten
sie wie bei einem lustigen Prinz Eisenherz um seinen Kopf. Er hätte
lieber Schauspieler werden sollen, statt BWL zu studieren. Sandra
meinte, BWL sei eine gute Grundlage, Florian hatte keine Meinung
dazu. Er spielte ihr lieber etwas vor, Hape Kerkelings
Nummer mit dem Meerschweinchen hatte er richtig gut drauf. An
ihren gestohlenen Nachmittagen, wenn sie Liebe machten, hatten sie
viel zusammen gelacht. Liebe machen. Das war sein Ausdruck dafür.
Irgendwie hatte sie ihn schon geliebt, sonst hätte sie ihm doch
kaum dieses Ultimatum gestellt, entweder du trennst dich von
Sandra, oder ich beende die Affäre bei meiner Rückkehr. Auf einmal
vermisste sie ihn ganz fürchterlich. Sie liebte ihn also noch,
oder?
Magdalena wischte sich ihre klebrige Handfläche an
einem nassen Spüllappen ab. Sie wusste nicht, was sie sagen
sollte.
Manchmal hatte er Popcorn für sie gemacht, wenn sie
danach faul auf dem Sofa lagen und Filme sahen. Sandras Popcorn aus
Sandras Popcornmaschine. Auf Sandras Sofa. Sie schämte sich, wenn
sie an diese Magdalena dort auf dem Sofa dachte.
»Also, wann denn nun?«
»Ich weiß es noch nicht, in zwei Wochen
vielleicht.«
»Zwei Wochen! Das hast du vor zwei Wochen auch
schon gesagt und davor auch, du bist jetzt schon sechs Wochen
weg!«
Ja und?, hätte sie beinah geantwortet, schon war
ihre kaum aufgeflackerte Liebe für ihn wieder erloschen.
»Florian, wir reden später drüber, ich muss
weitermachen, ist gerade voll hier.«
Er erwiderte nichts. Na gut, sie hielt das aus.
Schweigen. Aus der Bar hörte sie das laute Summen aus Lachen,
Reden, Musik. Tisch zwölf wartete bestimmt schon seit zwanzig
Minuten auf seinen Mangia&bevi-Becher. Tisch acht bekam
noch cantucci zum Eintunken in den süßen Aleatico-Wein.
Merda. Sie hielt das doch nicht aus.
»Ist was passiert?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was!? Sag doch!«
»Sandra hat mich rausgeschmissen.«
»Warum das denn?«
»Ich … ich liebe eine andere, und das habe ich ihr
gestern erzählt.«
»Und wer ist diese andere?« Magdalena rührte das
Eisteegemisch noch einmal kräftig um. Der Zucker knirschte immer
noch auf dem Boden des Kruges. Wenn er wüsste, wie erleichtert ich
bin, ich gönne ihm die andere, Hauptsache, seine nervigen Anrufe
hören endlich auf.
»Du!«
»Bist du wahnsinnig?!«
Das Summen schwoll an, »Maddalena, il tè?«,
auf Francos Gesicht spiegelte sich eine mittelschwere Verstimmung,
die Schwingtür klappte sogleich wieder hinter ihm zu, die Geräusche
wurden leiser.
»Sofort!«, rief sie ihm auf Italienisch
hinterher.
»Florian, ich fasse es nicht, du hast es Sandra
gesagt?! Ich rufe dich an, sobald ich hier ein bisschen Luft habe!«
Magdalena schaltete das Handy aus, warf es auf den Tisch und
verließ die Küche.
Mann, Florian, du Idiot, du kannst Sandra doch
nicht einfach alles erzählen, beschimpfte sie ihn in Gedanken,
während sie auf Zehenspitzen hinter der Theke stand und den Eistee
von oben in den Automaten goss. Geschieht mir eigentlich recht, ich
habe ihm ein Ultimatum gestellt, das ich anscheinend gar nicht
ernst meinte, ich habe zehn Monate lang meine Freundin betrogen und
sie logischerweise dabei verloren, und nun habe ich einen Mann am
Hals, den ich nicht will. Sie hielt die Augen konzentriert auf den
Behälter gerichtet. Eine ganz miese Nummer, die sie da abgezogen
hatte. Francos Augen trafen die ihren. Er schüttelte den Kopf und
stellte zwei halb volle Espressotassen auf das Tablett. Der Averna
mit Eis oder ohne?
»Ohne!«, behauptete Magdalena, Franco verdrehte die
Augen zur Decke. Okay, sie hatte vergessen zu fragen. Sah man ihr
so deutlich an, wenn sie log?
Das fehlt mir noch, dass Florian womöglich nach
Elba kommt, dachte sie, als sie sich, das volle Tablett mit den
Ellbogen schützend, durch die Menge kämpfte. »Attenzione!
Permesso!« rufend bahnte sie sich den Weg in den Innenhof.
Tisch sieben wollte zahlen, Tisch sechs auch, der Männerclub hinten
in der Ecke winkte ihr heftig. Es war Luciano, der Klempner mit der
unübersehbaren Zuneigung für Nina, der ihr mit seiner Gasflasche
das Abendessen gerettet hatte. In massiger Geselligkeit saß er dort
mit ein paar anderen, wahrscheinlich auch alles Klempner, ihre
Hände waren riesig. Eine Runde Stock-Brandy für alle am Tisch,
orderte er. »Va bene.« Luciano musterte Magdalena, eines
seiner Augenlider hing wie bei Silvester Stallone ein wenig
herunter, und sein Blick blieb an ihren Beinen haften. Das neue
Kleid war eine Handbreit zu kurz, verdammt. Aber nicht doch, hatte
Roberto gesagt, bei diesen Beinen könne sie sich das leisten. Er
musste ja auch keinem Handwerker Brandy servieren.
»Gehst du heute Abend hoch in den Club 64?
Zu Nina?«
»Ich glaube schon!« In Wirklichkeit hatte Magdalena
vor, nach der Arbeit sofort nach Hause zu fahren, schon jetzt
brannten ihre Augen vor Müdigkeit. Aber auf die Überredungskünste
der Klempnerrunde hatte sie keine Lust. Besser Ja sagen und dann
nicht erscheinen. Tat keinem weh.
»Willst du mit uns fahren, wir warten auch auf
dich!«
»Toll! Das ist echt nett von euch!« War sie so
wahnsinnig, mit fünf angetrunkenen Gas- und Wasserinstallateuren in
ein Auto zu steigen? »Aber ich nehme lieber den Roller!«
»Wir sehen uns dann oben.«
»Mit goldenen Stiefeln an den nackten Beinen,
so sah ich dich am Strand …«
Die schnulzige Musik knallte aus den Boxen und
schaffte es mühelos, den allgemeinen Lärm zu übertönen, der die Bar
erfüllte. Einen Augenblick lang sah man, wie die Münder sich
bewegten, dann irritiert zuklappten, zu hören war nur noch:
»… bald gingen wir Hand in Hand, und der Wind,
der durch dein blondes Haar fuhr, duftete noch lange nach
dir.
… Und heut denke ich an uns, an dich, an
uns.«
Dann endlich wurde leiser gedreht. Stivali
d’oro sulla spiaggia? Stiefel aus Gold am Strand? Was ist das
denn für ein bescheuerter Text?, dachte Magdalena. So was hat nur
Heidi damals getragen, ihre mit Lack eingesprühten
Wildlederstiefel. Sie drängelte sich wieder zurück hinter die Bar,
Mist, sie hatte den Eisbecher für Tisch fünf vergessen, sie musste
also noch einmal quer durch den Raum zur Eistheke, um ihn bei
Cristina zu bestellen.
»Einen coppa caffè«, orderte sie und hielt
ihren Oberkörper über die Öffnung der Glasvitrine, aus der es
herrlich kalt herausdampfte. Doch in der Theke war alles
durcheinander, warum ordnete Cristina die Eissorten nicht endlich
mal? Frutti di bosco neben Blaubeere, leichte Abstufungen
zum Rot, über Erdbeere bis hin zur hellorangen Melone, eine
herrliche Aufgabe, aber Cristina weigerte sich, sie wollte weder
cioccolata neben Haselnuss, bacio und Nutella stellen
noch eine weiße Abteilung aus fior di latte, crema, yogurt
kreieren, sie war einfach eine nette, kurzbeinige Farbignorantin
aus Livorno.
Magdalenas Kopf arbeitete automatisch, ihre Beine
auch, wie viele Gläser, Tassen und Teller hatte sie heute schon von
drinnen
nach draußen und wieder zurück geschleppt? Wie viele Tische
abgewischt, wie viele Euros schon kassiert? Franco war zufrieden
mit ihr, sie sah unter seinem Bart die Andeutung eines Lächelns.
Gleich eins, die Klempner waren abgezogen, nur noch zwei Gäste
saßen draußen auf der Straße an Tisch zwei. Es war Holger, er kam
jeden Abend nach seinem letzten Termin und immer in wechselnder
Begleitung. Meistens bullige, untersetzte Jungs, die er angeblich
alle am Strand kennenlernte. Niemals unter den Kunden »fischen«,
hatte er ihr erklärt, das sei unprofessionell und gäbe nur Ärger.
Magdalena mochte seine direkte Art, seinen Espresso bekam er von
ihr immer umsonst.
Zwei carabinieri kamen herein, der kleine
Massimo und sein langer Kumpel Gian-Luca, sie waren heute spät
dran, ihr abendliches Eis aßen sie sonst früher, gegen zehn, nach
Dienstschluss. Magdalena grüßte lächelnd, die Füße taten ihr weh.
Nach ein wenig Small Talk - wie geht’s?, gehst du an den Strand?,
ah, du bist aber schon bell’ abbronzata, ihr aber auch -
gingen die beiden an die Eistheke, um bei Cristina die gleichen
Sätze loszuwerden. Magdalena lief in die kleine Spülküche und
wechselte dort schnell die Schuhe. Was für eine Wohltat, in die
luftigen Sandalen zu schlüpfen! Als sie wieder durch die Schwingtür
trat, fiel ihr Blick auf das Foto, das direkt neben der Musikanlage
hing. Sie schaute ihrer Mutter ins Gesicht, die mit übernächtigtem,
glückseligem Lächeln zurückguckte, direkt in ihre Augen.
Hoffentlich hat es wenigstens Spaß gemacht, Mama!, dachte
Magdalena. Hoffentlich hat er deine Hände nicht mit einem Gürtel
gefesselt oder dich gebeten, deine goldenen Stiefel dabei
anzulassen… deine stivali d’oro. Die Musik fiel ihr wieder
ein, sie wühlte die CD-Hüllen durch, nur mal aus Spaß schauen, aus
welchem Jahr das Lied war. Walter, sonst für die Musikauswahl
verantwortlich, war schon nach Hause gegangen, den konnte sie nicht
fragen. »Franco«, rief sie auf Italienisch, »wie heißt
dieses Lied mit den stivali am Strand, das heute Abend auf
einmal so laut lief?«
»Stiefel? Strand? Nie gehört.«
»Doch, das musst du gehört haben, es war dermaßen
laut … ›so sah ich dich am Strand‹, kam auch darin vor.«
»Ah, capito!«
»Wer singt das denn?«
»Antonello Pucciano natürlich, ›Stiefel aus Gold‹,
kennt in Italien jedes Kind!«
»Echt?!«
»Hier, deine beiden caffè für Tisch zwei
werden kalt!«
»Legst du es noch mal auf? Bitte!!« Magdalena
probierte den besonderen Blick, den Nina so gut beherrschte:
fordernd, aber lieb von unten, wie eine Katze.
»Haben wir nicht. Muss im Radio gelaufen sein. Nun
los.«
Er hielt ihr das Tablett mit den Tassen hin.
»Wann hat dieser Antonello das Stiefel-Lied denn
gesungen?«, fragte Magdalena Franco später, während sie neben der
Kaffeemaschine stand und die letzten Gläser abtrocknete.
»Ach, schon ewig lange her, vor tausend Jahren.«
Danke für die Information, Franco.
Die goldenen stivali waren ein Ohrwurm, sie
bekam den ersten Satz und die Melodie nicht mehr aus dem Kopf,
vielleicht hatte sie ja Glück, und der Laptop in der Bar La
Pinta war frei. Im Internet würde sie etwas darüber
herausfinden können. Aber sie hatte kein Glück, trotz der
späten Stunde belagerten drei junge Typen den Computer, von denen
einer mit den Fingern immer wieder auf dieselbe Taste hämmerte, um
grunzende Kreaturen abzuknallen. Das konnte dauern. Antonello
Pucciano würde zwar auch morgen noch im Internet stehen, aber sie
wollte es
unbedingt heute wissen! Sie spürte, dass sie auf der richtigen
Fährte war, diesmal viel stärker als je zuvor.
»Schluss, Kinder, ab nach Hause«, rief sie fröhlich
zu den über dem Bildschirm zusammengeschweißten Hinterköpfen.
»Uuaaah!« Ein Aufschrei, ruckartig drehten die drei
sich zu ihr um und schauten sie wütend und entsetzt an, als sei sie
vom Wahnsinn besessen.
»Scheiße, Mädchen, das hättest du besser nicht
gesagt!«