26
Das staubige Pulver kitzelte. Magdalena zog die Nase hoch und nieste, dann schnitt sie rasch den vierten Beutel tè alla pesca auf und ließ den Inhalt in den Plastikkrug rieseln. Sie gab Wasser dazu und rührte mit einem langen Löffel, Luftblasen stiegen auf, und es knirschte, wie früher im Sandkasten beim Matschepampemachen. Wie lautete wohl der italienische Ausdruck für Matschepampe? Ein Handy brummte leise, Magdalena ließ ihre Augen schweifen, wo hatte sie nur ihre Tasche hingelegt? In der kleinen Spülküche herrschte Chaos, sie ähnelte eher einer Umkleidekabine zwischen Mikrowelle, Spülstein und Küchentisch, jeder von ihnen schmiss hier seine Sachen hin. Auf dem einzigen Stuhl häuften sich Jacken und Pullover, drei Helme und mehrere Paar Schuhe zum Wechseln lagen zwischen Tüten und Kartons verstreut auf dem Boden. Ein Toaster stand auf der Fensterbank vor dem Fliegengitter, daneben ein überdimensionales Mayonnaiseglas. Auf dem Tisch in der Mitte lagen die Überreste des Obstes, aus denen Magdalena vor einer Stunde in aller Eile frischen Obstsalat geschnippelt hatte. Keine Zeit, es wegzuwerfen, selbst Franco bekam keine Ordnung in diese Rumpelkammer. Magdalena entdeckte ihre Umhängetasche über einer Stuhllehne hängend, mit einer Hand fischte sie nach dem Handy, mit der anderen rührte sie weiter um.
»Pronto?«
»Aha, jetzt bist du schon ganz italienisch, was!?«
»Florian …« Mist, sie hatte nicht auf das Display geschaut.
»Ja, ich bin’s. Der gute Florian. Der gute-gute Florian.«
Ein Insiderwitz, ein »Als-wir-noch-zusammen-im-Bett-lagen-Witz«, der ihr ein schlechtes Gewissen machen sollte. Er war immer so stolz auf seinen Schwanz. Ist er nicht schön, tut er nicht gut, ist er nicht groß? Na ja, viele Vergleichsmöglichkeiten hatte sie ja nicht, aber bei einer Gegenüberstellung mit den anderen dreien, jetzt durch Roberto vieren, würde er, was den Sex und seine Ausstattung anging, knapp an vorletzter Stelle liegen.
»Was gibt’s?« Fröhlich klingen und bloß nicht genervt sein, das war die beste Tour, ihn auf später zu vertrösten und das Gespräch schnellstmöglich zu beenden.
»Wann kommst du zurück?« Sie atmete erst mal aus. Pause. »Babylein.«
Sein »Babylein« klang todtraurig und wirklich einsam, auf einmal tat es Magdalena leid, ihn dort in Deutschland zurückgelassen zu haben. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wie einen Hund an einem Autobahnrastplatz hatte sie ihn einfach ausgesetzt und war weggefahren. Mit der freien Hand schob Magdalena die Apfel-, Kiwi- und Orangenschalen auf der Tischplatte zusammen.
»Sag doch was! Wann kommst du, ich habe keine Lust mehr, auf dich zu warten.«
Sein Lachen fiel ihr wieder ein und seine glatten braunen Haare. Wenn er mit beiden Füßen gleichzeitig auf die Bettkante sprang und Michael Jackson für sie imitierte, flatterten sie wie bei einem lustigen Prinz Eisenherz um seinen Kopf. Er hätte lieber Schauspieler werden sollen, statt BWL zu studieren. Sandra meinte, BWL sei eine gute Grundlage, Florian hatte keine Meinung dazu. Er spielte ihr lieber etwas vor, Hape Kerkelings Nummer mit dem Meerschweinchen hatte er richtig gut drauf. An ihren gestohlenen Nachmittagen, wenn sie Liebe machten, hatten sie viel zusammen gelacht. Liebe machen. Das war sein Ausdruck dafür. Irgendwie hatte sie ihn schon geliebt, sonst hätte sie ihm doch kaum dieses Ultimatum gestellt, entweder du trennst dich von Sandra, oder ich beende die Affäre bei meiner Rückkehr. Auf einmal vermisste sie ihn ganz fürchterlich. Sie liebte ihn also noch, oder?
Magdalena wischte sich ihre klebrige Handfläche an einem nassen Spüllappen ab. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Manchmal hatte er Popcorn für sie gemacht, wenn sie danach faul auf dem Sofa lagen und Filme sahen. Sandras Popcorn aus Sandras Popcornmaschine. Auf Sandras Sofa. Sie schämte sich, wenn sie an diese Magdalena dort auf dem Sofa dachte.
»Also, wann denn nun?«
»Ich weiß es noch nicht, in zwei Wochen vielleicht.«
»Zwei Wochen! Das hast du vor zwei Wochen auch schon gesagt und davor auch, du bist jetzt schon sechs Wochen weg!«
Ja und?, hätte sie beinah geantwortet, schon war ihre kaum aufgeflackerte Liebe für ihn wieder erloschen.
»Florian, wir reden später drüber, ich muss weitermachen, ist gerade voll hier.«
Er erwiderte nichts. Na gut, sie hielt das aus. Schweigen. Aus der Bar hörte sie das laute Summen aus Lachen, Reden, Musik. Tisch zwölf wartete bestimmt schon seit zwanzig Minuten auf seinen Mangia&bevi-Becher. Tisch acht bekam noch cantucci zum Eintunken in den süßen Aleatico-Wein. Merda. Sie hielt das doch nicht aus.
»Ist was passiert?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Was!? Sag doch!«
»Sandra hat mich rausgeschmissen.«
»Warum das denn?«
»Ich … ich liebe eine andere, und das habe ich ihr gestern erzählt.«
»Und wer ist diese andere?« Magdalena rührte das Eisteegemisch noch einmal kräftig um. Der Zucker knirschte immer noch auf dem Boden des Kruges. Wenn er wüsste, wie erleichtert ich bin, ich gönne ihm die andere, Hauptsache, seine nervigen Anrufe hören endlich auf.
»Du!«
»Bist du wahnsinnig?!«
Das Summen schwoll an, »Maddalena, il tè?«, auf Francos Gesicht spiegelte sich eine mittelschwere Verstimmung, die Schwingtür klappte sogleich wieder hinter ihm zu, die Geräusche wurden leiser.
»Sofort!«, rief sie ihm auf Italienisch hinterher.
»Florian, ich fasse es nicht, du hast es Sandra gesagt?! Ich rufe dich an, sobald ich hier ein bisschen Luft habe!« Magdalena schaltete das Handy aus, warf es auf den Tisch und verließ die Küche.
 
Mann, Florian, du Idiot, du kannst Sandra doch nicht einfach alles erzählen, beschimpfte sie ihn in Gedanken, während sie auf Zehenspitzen hinter der Theke stand und den Eistee von oben in den Automaten goss. Geschieht mir eigentlich recht, ich habe ihm ein Ultimatum gestellt, das ich anscheinend gar nicht ernst meinte, ich habe zehn Monate lang meine Freundin betrogen und sie logischerweise dabei verloren, und nun habe ich einen Mann am Hals, den ich nicht will. Sie hielt die Augen konzentriert auf den Behälter gerichtet. Eine ganz miese Nummer, die sie da abgezogen hatte. Francos Augen trafen die ihren. Er schüttelte den Kopf und stellte zwei halb volle Espressotassen auf das Tablett. Der Averna mit Eis oder ohne?
»Ohne!«, behauptete Magdalena, Franco verdrehte die Augen zur Decke. Okay, sie hatte vergessen zu fragen. Sah man ihr so deutlich an, wenn sie log?
Das fehlt mir noch, dass Florian womöglich nach Elba kommt, dachte sie, als sie sich, das volle Tablett mit den Ellbogen schützend, durch die Menge kämpfte. »Attenzione! Permesso!« rufend bahnte sie sich den Weg in den Innenhof. Tisch sieben wollte zahlen, Tisch sechs auch, der Männerclub hinten in der Ecke winkte ihr heftig. Es war Luciano, der Klempner mit der unübersehbaren Zuneigung für Nina, der ihr mit seiner Gasflasche das Abendessen gerettet hatte. In massiger Geselligkeit saß er dort mit ein paar anderen, wahrscheinlich auch alles Klempner, ihre Hände waren riesig. Eine Runde Stock-Brandy für alle am Tisch, orderte er. »Va bene.« Luciano musterte Magdalena, eines seiner Augenlider hing wie bei Silvester Stallone ein wenig herunter, und sein Blick blieb an ihren Beinen haften. Das neue Kleid war eine Handbreit zu kurz, verdammt. Aber nicht doch, hatte Roberto gesagt, bei diesen Beinen könne sie sich das leisten. Er musste ja auch keinem Handwerker Brandy servieren.
»Gehst du heute Abend hoch in den Club 64? Zu Nina?«
»Ich glaube schon!« In Wirklichkeit hatte Magdalena vor, nach der Arbeit sofort nach Hause zu fahren, schon jetzt brannten ihre Augen vor Müdigkeit. Aber auf die Überredungskünste der Klempnerrunde hatte sie keine Lust. Besser Ja sagen und dann nicht erscheinen. Tat keinem weh.
»Willst du mit uns fahren, wir warten auch auf dich!«
»Toll! Das ist echt nett von euch!« War sie so wahnsinnig, mit fünf angetrunkenen Gas- und Wasserinstallateuren in ein Auto zu steigen? »Aber ich nehme lieber den Roller!«
»Wir sehen uns dann oben.«
»Mit goldenen Stiefeln an den nackten Beinen, so sah ich dich am Strand …«
Die schnulzige Musik knallte aus den Boxen und schaffte es mühelos, den allgemeinen Lärm zu übertönen, der die Bar erfüllte. Einen Augenblick lang sah man, wie die Münder sich bewegten, dann irritiert zuklappten, zu hören war nur noch:
»… bald gingen wir Hand in Hand, und der Wind, der durch dein blondes Haar fuhr, duftete noch lange nach dir.
… Und heut denke ich an uns, an dich, an uns.«
Dann endlich wurde leiser gedreht. Stivali d’oro sulla spiaggia? Stiefel aus Gold am Strand? Was ist das denn für ein bescheuerter Text?, dachte Magdalena. So was hat nur Heidi damals getragen, ihre mit Lack eingesprühten Wildlederstiefel. Sie drängelte sich wieder zurück hinter die Bar, Mist, sie hatte den Eisbecher für Tisch fünf vergessen, sie musste also noch einmal quer durch den Raum zur Eistheke, um ihn bei Cristina zu bestellen.
»Einen coppa caffè«, orderte sie und hielt ihren Oberkörper über die Öffnung der Glasvitrine, aus der es herrlich kalt herausdampfte. Doch in der Theke war alles durcheinander, warum ordnete Cristina die Eissorten nicht endlich mal? Frutti di bosco neben Blaubeere, leichte Abstufungen zum Rot, über Erdbeere bis hin zur hellorangen Melone, eine herrliche Aufgabe, aber Cristina weigerte sich, sie wollte weder cioccolata neben Haselnuss, bacio und Nutella stellen noch eine weiße Abteilung aus fior di latte, crema, yogurt kreieren, sie war einfach eine nette, kurzbeinige Farbignorantin aus Livorno.
Magdalenas Kopf arbeitete automatisch, ihre Beine auch, wie viele Gläser, Tassen und Teller hatte sie heute schon von drinnen nach draußen und wieder zurück geschleppt? Wie viele Tische abgewischt, wie viele Euros schon kassiert? Franco war zufrieden mit ihr, sie sah unter seinem Bart die Andeutung eines Lächelns. Gleich eins, die Klempner waren abgezogen, nur noch zwei Gäste saßen draußen auf der Straße an Tisch zwei. Es war Holger, er kam jeden Abend nach seinem letzten Termin und immer in wechselnder Begleitung. Meistens bullige, untersetzte Jungs, die er angeblich alle am Strand kennenlernte. Niemals unter den Kunden »fischen«, hatte er ihr erklärt, das sei unprofessionell und gäbe nur Ärger. Magdalena mochte seine direkte Art, seinen Espresso bekam er von ihr immer umsonst.
Zwei carabinieri kamen herein, der kleine Massimo und sein langer Kumpel Gian-Luca, sie waren heute spät dran, ihr abendliches Eis aßen sie sonst früher, gegen zehn, nach Dienstschluss. Magdalena grüßte lächelnd, die Füße taten ihr weh. Nach ein wenig Small Talk - wie geht’s?, gehst du an den Strand?, ah, du bist aber schon bell’ abbronzata, ihr aber auch - gingen die beiden an die Eistheke, um bei Cristina die gleichen Sätze loszuwerden. Magdalena lief in die kleine Spülküche und wechselte dort schnell die Schuhe. Was für eine Wohltat, in die luftigen Sandalen zu schlüpfen! Als sie wieder durch die Schwingtür trat, fiel ihr Blick auf das Foto, das direkt neben der Musikanlage hing. Sie schaute ihrer Mutter ins Gesicht, die mit übernächtigtem, glückseligem Lächeln zurückguckte, direkt in ihre Augen. Hoffentlich hat es wenigstens Spaß gemacht, Mama!, dachte Magdalena. Hoffentlich hat er deine Hände nicht mit einem Gürtel gefesselt oder dich gebeten, deine goldenen Stiefel dabei anzulassen… deine stivali d’oro. Die Musik fiel ihr wieder ein, sie wühlte die CD-Hüllen durch, nur mal aus Spaß schauen, aus welchem Jahr das Lied war. Walter, sonst für die Musikauswahl verantwortlich, war schon nach Hause gegangen, den konnte sie nicht fragen. »Franco«, rief sie auf Italienisch, »wie heißt dieses Lied mit den stivali am Strand, das heute Abend auf einmal so laut lief?«
»Stiefel? Strand? Nie gehört.«
»Doch, das musst du gehört haben, es war dermaßen laut … ›so sah ich dich am Strand‹, kam auch darin vor.«
»Ah, capito
»Wer singt das denn?«
»Antonello Pucciano natürlich, ›Stiefel aus Gold‹, kennt in Italien jedes Kind!«
»Echt?!«
»Hier, deine beiden caffè für Tisch zwei werden kalt!«
»Legst du es noch mal auf? Bitte!!« Magdalena probierte den besonderen Blick, den Nina so gut beherrschte: fordernd, aber lieb von unten, wie eine Katze.
»Haben wir nicht. Muss im Radio gelaufen sein. Nun los.«
Er hielt ihr das Tablett mit den Tassen hin.
 
»Wann hat dieser Antonello das Stiefel-Lied denn gesungen?«, fragte Magdalena Franco später, während sie neben der Kaffeemaschine stand und die letzten Gläser abtrocknete.
»Ach, schon ewig lange her, vor tausend Jahren.« Danke für die Information, Franco.
 
Die goldenen stivali waren ein Ohrwurm, sie bekam den ersten Satz und die Melodie nicht mehr aus dem Kopf, vielleicht hatte sie ja Glück, und der Laptop in der Bar La Pinta war frei. Im Internet würde sie etwas darüber herausfinden können. Aber sie hatte kein Glück, trotz der späten Stunde belagerten drei junge Typen den Computer, von denen einer mit den Fingern immer wieder auf dieselbe Taste hämmerte, um grunzende Kreaturen abzuknallen. Das konnte dauern. Antonello Pucciano würde zwar auch morgen noch im Internet stehen, aber sie wollte es unbedingt heute wissen! Sie spürte, dass sie auf der richtigen Fährte war, diesmal viel stärker als je zuvor.
»Schluss, Kinder, ab nach Hause«, rief sie fröhlich zu den über dem Bildschirm zusammengeschweißten Hinterköpfen.
»Uuaaah!« Ein Aufschrei, ruckartig drehten die drei sich zu ihr um und schauten sie wütend und entsetzt an, als sei sie vom Wahnsinn besessen.
»Scheiße, Mädchen, das hättest du besser nicht gesagt!«
Magdalenas Garten
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