8
Mittwoch, früher Abend, noch zwei Tage. Zerschlagen, als habe sie einen Ganzkörpermuskelkater, lag Magdalena in Ninas Kammer auf dem Bett, stöhnte und ließ den vergangenen Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Gemeinsam mit Nina hatte sie in Marina di Campo und dem ganzen Westen der Insel Farbkopien des Fotos aufgehängt und war froh, die kleinen, wunderschönen Badeorte Fetovaia, Cavoli, Pomonte, Secchetto und Sant’Andrea kennengelernt zu haben, doch jetzt fühlte sie sich erschöpft und, wie auch gestern schon, entmutigt. Wer sollte sich auf dieser furchtbar unscharfen Kopie jemals erkennen können?
Durch die Vergrößerung war der junge Mann neben ihrer Mutter noch undeutlicher, noch schlechter zu sehen, die Farben waren dunkler geworden und changierten ins Orangebräunliche. Man sah sofort, dass es sich um ein älteres Foto aus den Siebziger- oder Achtzigerjahren handeln musste. Magdalena seufzte, vielleicht besitzt jemand, der in dieser Zeit jung gewesen ist, eine andere Antenne für Fotos dieser Art, versuchte sie sich zu trösten, während sie mit den Augen die immer länger werdenden Streifen abendlichen Lichts an der Wand verfolgte. Nina hatte sie ins Bett geschickt und ihr einen Tee gemacht, einen muffig riechenden Kamillentee, der jetzt neben ihr auf der Orangenkiste vor sich hin dampfte und von dem sie bestimmt nicht mehr als zwei Schlucke runterbringen würde. Komisch, wenn es mir schlecht geht, dreht sie richtig auf, dachte Magdalena. Verdammt, nicht einmal den alten Ditfurther habe ich bis jetzt erreicht, um ihm die Lage schildern zu können. Sie legte sich die Hand flach auf ihren nervösen Magen. Hilde, eine der Brillen-Zwillinge, hatte ihr am Telefon berichtet, dass der Senior sich seit Montag nicht mehr habe blicken lassen. Die Lage sei ernst, es sei von Kündigungen die Rede. Klar, wer gehen musste: Sie war die Jüngste und erst seit ein paar Jahren dabei. Und bei Lumpi hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes keine guten Karten. Daran würde auch das Attest aus dem Krankenhaus, das der Nina-Bewunderer Dottore Gavassa ihr ausgestellt hatte und das seit heute mit der Post unterwegs zu ihm war, nichts ändern können.
Plötzlich hörte sie nebenan schwere Stiefel hereinstapfen, ein Stuhl fiel um, das hektische Getrappel von einem Sondereinsatzkommando, das die Küche besetzte. Verdammt, dachte sie und setzte sich auf, eine Razzia, und ich mittendrin! Natürlich wegen Mikkis Haschisch und was er sonst noch konsumierte. Aber Nina? Was hat Nina damit zu tun? Nichts! Ich muss Nina retten! Nur mit ihrer Tunika bekleidet, stürzte Magdalena aus dem Bett und zwängte sich, so schnell es ging, durch den verdammten Türspalt. Das Bett war viel zu groß, wer war bloß auf die Idee gekommen, es in diese winzige Kammer zu stellen? Und richtig, in der Küche polterten carabinieri herum, ein langer und ein kleiner, beide in blauen Motorraduniformen mit roten Streifen. Mit einem Blick erfasste Magdalena, dass niemand sonst im Raum war, nur die Espressokanne auf dem Herd setzte in diesem Moment mit bedrohlich leisem Fauchen zum Kochen an. Sie schluckte mühsam.
»Ouuh!« Der Große hatte Magdalena entdeckt und kam mit zwei langen Schritten auf sie zu. Sie wich zurück, doch er schüttelte ihr nur freundlich die Hand, piacere, Gian-Luca, piacere, Massimo, das war der Kleine, er hatte seinen Helm unter die linke Achsel geklemmt und tätschelte ihn zärtlich wie einen Kinderkopf.
Ein Schlüssel drehte sich hinter Magdalena, Nina kam aus dem Bad. »Ragazzi!« Laute Begrüßung, schmatzende Luftküsschen rechts und links und rechts und links, muah, muah, die blauen Uniformen wippten hin und her und wollten gar nicht aufhören, entschuldigendes Grinsen zu Magdalena hinüber, dann wandten sie sich wieder Nina zu. Der Kleine hob den Stuhl auf, die beiden setzten sich, noch mit weichen Knien sank Magdalena ebenfalls auf einen der Plastikstühle.
»Ihr seid also mit der Ausbildung fertig! Congratulazione! Erzählt mal, was gibt’s Neues auf Elba?«, forderte Nina die beiden auf Italienisch auf und stellte zwei Tassen mit Espresso vor sie hin. Doch das Gespräch verlief schleppend, die carabinieri waren offenbar überfordert damit, gleichzeitig den Espresso hinunterzukippen, Nina bei jeder ihrer Gesten mit den Augen zu folgen und dabei auch noch Neuigkeiten zu erzählen. Magdalena beobachtete Nina fasziniert. Wie machte sie das nur? Sie konnte jedem Einzelnen das Gefühl geben, ihre volle Aufmerksamkeit zu haben, egal wie viele Menschen im Raum waren. Nun holte sie Töpfe unter der kleinen Bar hervor, stellte sie auf die Marmorplatte neben den Gaskocher und kramte im vollgepackten Kühlschrank nach Lebensmitteln. Sie wickelte mehrere Fleischstücke aus einem blutigen Papier, währenddessen redete sie und bestärkte die beiden Motorradpolizisten in dem kindischen Stolz auf ihre Uniformen. Jetzt griff sie zu einem großen Messer und drohte dem Größeren lachend damit, sie bewegte sich zwischen Tresen, Spülstein und Kühlschrank so gewandt und sicher, dass keine Hektik aufkam, sondern man den Eindruck gewann, man sehe einer gut gelaunten Fernsehköchin zu, die auf zwei Gasflammen ein Menü zaubern konnte, für das eigentlich mindestens vier nötig waren.
»Ragazzi! Mangiate con noi?« Nina wirbelte zu ihnen herum, dass ihre Zöpfe flogen. Magdalena schüttelte unmerklich den Kopf. Wenn man Nina so sah, würde man nicht denken, dass dies dieselbe Frau war, die sich manchmal zurückzog und unnahbar in die Ferne starrte. Nina grinste zu Magdalena hinüber, die Augen einen Bruchteil lang voller gutmütigem Spott. Da, das ist ihr Trick, kaum fühle ich mich ausgeschlossen, schon kommt ihr Blick, der besagt, dass wir uns gemeinsam über diese beiden Clowns lustig machen. Sie weiß einfach, was jeder braucht, um sich gut zu fühlen. Die Einladung zum Essen lehnten die carabinieri zweimal höflich ab, dann nahmen sie an, schälten bereitwillig einen riesigen Berg Kartoffeln und schnitten sie nach Ninas Anweisungen in dünne Stifte. Nina flirtete ungehemmt weiter mit ihnen, die ihr Glück kaum fassen konnten und die Zuwendung dankbar in sich aufsaugten wie zwei ausgetrocknete Gänseblümchen.
»È forte!« Der Kleinere strahlte Magdalena an. »È forte lei!«, wiederholte er. Ja. Magdalena nickte. Nina war stark, sie verteilte ihre Energie im Raum wie eine Walt-Disney-Fee ihren Glitzerstaub.
Während des Kochens gingen plötzlich die Flammen unter den Töpfen aus, der eilig von Nina herbeitelefonierte Luciano kam mit einer neuen Gasflasche die Stufen heraufgekeucht, schloss sie mit wenigen Griffen an, blieb an Ninas roten Lippen hängen und zum Essen. Am Ende waren sie zu zehnt. Magdalena, Nina, Matteo und Mikki aus dem POLO, die beiden carabinieri, Luciano und die drei geladenen Freunde: Nicóla, jüngster Empfangschef im Hotel Angélique, der kleine Dario mit der Harley Davidson und Vittorio, ein Mann mit einem völlig kahlen Kopf und beunruhigend hellen Augen, der in Marina di Campo ein Lokal besaß.
»Kinder, jetzt müssen wir improvisieren!«, rief Nina. »Zu essen gibt’s reichlich, aber für uns alle ist die Terrasse zu klein!« Matteo, der inzwischen in der überfüllten Küche eingetroffen war, schlug vor, zwei Tische aus dem Nachtclubgebäude unter ihnen zu holen und eine Tafel auf der sauber gefegten Tanzfläche aufzubauen. Magdalena wurde von Nina angewiesen, dort unten schon mal den Aperitif auszuschenken, »die nerven mich hier in der Küche«, flüsterte sie ihr verschwörerisch zu. Ich bin außer Nina die einzige Frau, dachte Magdalena und gab sich Mühe, den Weißwein mit einem Spritzer Aperol so zu färben, dass er die gleiche Tönung bekam wie die Kerzen in den Windlichtern auf den Tischen. Dann beobachtete sie die männlichen Gäste, die mit dem orangefarbenen Inhalt ihrer Gläser auf den mintgrünen Fliesen der Tanzfläche herumliefen und, wie es schien, unruhig auf Nina warteten. Nach einigen Minuten kam sie mit einer Schüssel in den Händen die Treppe herunter, sie hatte sich umgezogen, trug jetzt ein weißes Feinrippunterhemd, unter dem sich deutlich ihre kleinen Tennisballbrüste und der blassgrüne BH abzeichneten, und eine enge, fadenscheinige Jeans, die ihre schmalen Hüften bestens betonte. Da war sie, der Star ohne Starallüren, unschuldig in frischem Weiß, sexy, scheinbar ohne es zu wissen. Dabei musste sie das Blickegewitter bemerken, in dem sie gerade unterging.
»È cambiata!«, hörte Magdalena den Empfangschef mit dem Mädchennamen murmeln und verfolgte aufmerksam, welche Bahnen die Blicke seiner leicht hervorstehenden Augen an Ninas Figur zogen. Nina hatte sich verändert? Es schien ihm dennoch zu gefallen, was er sah.
»Danke für den Aperitif!«, hauchte Nina ihr ins Ohr und küsste sie wie in Zeitlupe auf beide Wangen. Magdalena wusste, dass jeder der Umstehenden diese kleine Szene beobachtete, und winkte verlegen ab.
Ninas Essen war wie immer fantastisch. Als ersten Gang gab es tortellini romagnoli, dann folgten das filetto di cinghiale gratinato samt Bohnen und selbst gemachten Pommes frites aus der Fritteuse. Wie hatte Nina es geschafft, zehn Wildschweinfilets in zwei mittelgroßen Pfannen auf zwei Gasflammen gleichzeitig fertigzubekommen?, fragte Magdalena sich. Und gratinato? Wie konnte sie etwas überbacken, wenn es noch nicht einmal einen Backofen gab? Aber sie würde sich mit ihrer Frage zurückhalten und nicht schon wieder die tedesca geben, sie fühlte sich eh schon verdammt deutsch: so gründlich, so pünktlich, so unelegant.
Matteo schleppte fünf Teller zugleich die Treppe hinunter und servierte, als ob er sein Leben lang nichts anderes getan hätte. Als alle versorgt waren, setzte er sich neben Magdalena, die jetzt zwischen ihm und Nicóla, dem Rezeptionisten, saß. Sie hörte dieses »è cambiata!« noch zweimal an der Tafel, doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie von Nina der Essensrunde vorgestellt. »Magdalena Lucia Kirsch, eine der besten Harfenistinnen Europas«, behauptete sie, ohne rot zu werden. Gestern, als es Fisch gab, hatte Nina sie zu einer Staranwältin aus München gemacht. Nina amüsierte sich über die unterschiedlichen Reaktionen ihrer Gäste und ließ sie dann raten, was Magdalena wirklich war. Schriftstellerin, Immobilienmaklerin, Gesangslehrerin. Der kleinere carabiniere tippte auf Yogalehrerin, das hatte gestern auch schon jemand geraten, wahrscheinlich lag es an ihrem indischen Gewand. Magdalena beeilte sich, das Rätsel aufzulösen, sie wollte keine Harfenistin oder Staranwältin sein und sich mit deren Ruhm schmücken, sie wollte Kartografin sein, nichts anderes! Inzwischen konnte sie ihren Beruf schon so flüssig auf Italienisch erklären, dass es sich sogar ganz gut anhörte. Cartografo. Betont auf der zweiten Silbe. Wie gestern wurde sie gefragt, ob nicht schon alles auf der Welt vermessen sei und ob sie einen Navigator im Auto habe.
»Nein«, antwortete sie, »vieles wird immer wieder neu vermessen, und der Anspruch an eine Karte ändert sich ja auch stetig«, und, »nein, ich habe nicht einmal ein eigenes Auto.« Gelächter an dieser Stelle, auch das kannte sie schon. »Aber ich habe mich schon immer sehr gut orientieren können und bin, anders als angeblich die meisten Frauen, gut im Lesen der Karten, mit denen ich mich den ganzen Tag beschäftige.« Magdalena lächelte, spießte eine verlorene Bohne von ihrem Tellerrand auf die Gabel und dankte Nina mit einem Blick für ihre niedergeschriebenen Sätze, die sie auswendig gelernt hatte. »Außerdem«, erklärte sie schnell, weil alle ihr noch immer zuhörten, »kann ich keine Karte anschauen, ohne sie noch irgendwie verbessern zu wollen. Typische Berufskrankheit.« Gerne hätte sie noch mehr erzählt, aber als sie ihren Wortschatz überschlug, gab sie rasch auf, schon auf Deutsch war ihre Faszination für Karten schwer zu vermitteln. Doch dann fiel ihr Blick auf Matteo. »Matteo, wie sage ich auf Italienisch, dass mich neben der inhaltlichen Konzipierung einer Karte vielmehr die Visualisierung räumlicher Daten begeistert?«
»Äh, tja, das ist sicher interessant, aber meinst du auch für die da?« Magdalena schaute auf, fünf Sekunden hatten gereicht, um die Aufmerksamkeit der Runde zu verlieren: Die beiden carabinieri maßen sich laut ächzend im Armdrücken, um Nina zu beeindrucken, Gasflaschen-Luciano gab mit seinem Handy vor ihr an, es konnte täuschend echt bellen und ein Maschinengewehr imitieren, was Nicóla veranlasste, sein eigenes Handy zu zücken. Nur der kahlköpfige Vittorio, zwei Stühle weiter, blickte noch zu ihr hinüber, aber dann sah sie, dass sein Blick glasig war, da er, ohne eine Miene zu verziehen, dem kleinen Harley-Davidson-Dario lauschte, der ihm etwas ins Ohr raunte. »Schon klar«, sagte sie leise und trank einen großen Schluck Rotwein.
An diesem Abend verkürzte Magdalena ihren angenehmen kleinen Rausch nicht mit einem Espresso, sondern nahm einen Averna von Matteo an, von dem er behauptete, er heile alles, sei also eigentlich eine Medizin. »Salute!«
Herrlich müde und gesättigt fiel sie ins Bett, ließ die Bilder des Abends noch einmal Revue passieren: der dauergrinsende Dario, der nur seine Harley als Gesprächsthema hatte, aber seine Zähne waren toll. Luciano, der eigentlich Klempner war und dem Nina aus seinen riesigen Händen die Zukunft gelesen hatte, Nicóla, hübsch, intelligent und ganz offensichtlich in Nina verliebt. Wie alle anderen auch, außer Matteo vielleicht, der den ganzen Abend kaum einmal neben ihr gesessen, sondern dauernd abgeräumt und nachgeschenkt hatte. Magdalena hörte sich seufzen. Warum hatte Nina sich verändert und wie? Von wo nach wo? Sie kicherte und merkte, wie betrunken sie war. Von wo nach wo! Das werde ich schon noch herausbekommen, dachte sie, das - und von wo nach wo mein Vater meine Mutter getroffen hat und was für ein Vergehen Nina begangen hat und ob ihre Brüste echt sind und … überhaupt alles.
Magdalenas Garten
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