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Mittwoch, früher Abend, noch zwei Tage.
Zerschlagen, als habe sie einen Ganzkörpermuskelkater, lag
Magdalena in Ninas Kammer auf dem Bett, stöhnte und ließ den
vergangenen Tag noch einmal an sich vorüberziehen. Gemeinsam mit
Nina hatte sie in Marina di Campo und dem ganzen Westen der Insel
Farbkopien des Fotos aufgehängt und war froh, die kleinen,
wunderschönen Badeorte Fetovaia, Cavoli, Pomonte, Secchetto und
Sant’Andrea kennengelernt zu haben, doch jetzt fühlte sie sich
erschöpft und, wie auch gestern schon, entmutigt. Wer sollte sich
auf dieser furchtbar unscharfen Kopie jemals erkennen können?
Durch die Vergrößerung war der junge Mann neben
ihrer Mutter noch undeutlicher, noch schlechter zu sehen, die
Farben waren dunkler geworden und changierten ins Orangebräunliche.
Man sah sofort, dass es sich um ein älteres Foto aus den Siebziger-
oder Achtzigerjahren handeln musste. Magdalena seufzte, vielleicht
besitzt jemand, der in dieser Zeit jung gewesen ist, eine andere
Antenne für Fotos dieser Art, versuchte sie sich zu trösten,
während sie mit den Augen die immer länger werdenden Streifen
abendlichen Lichts an der Wand verfolgte. Nina hatte sie ins Bett
geschickt und ihr einen Tee gemacht, einen muffig riechenden
Kamillentee, der jetzt neben ihr auf der Orangenkiste vor sich hin
dampfte und von dem sie bestimmt
nicht mehr als zwei Schlucke runterbringen würde. Komisch, wenn es
mir schlecht geht, dreht sie richtig auf, dachte Magdalena.
Verdammt, nicht einmal den alten Ditfurther habe ich bis jetzt
erreicht, um ihm die Lage schildern zu können. Sie legte sich die
Hand flach auf ihren nervösen Magen. Hilde, eine der
Brillen-Zwillinge, hatte ihr am Telefon berichtet, dass der Senior
sich seit Montag nicht mehr habe blicken lassen. Die Lage sei
ernst, es sei von Kündigungen die Rede. Klar, wer gehen musste: Sie
war die Jüngste und erst seit ein paar Jahren dabei. Und bei Lumpi
hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes keine guten Karten. Daran
würde auch das Attest aus dem Krankenhaus, das der Nina-Bewunderer
Dottore Gavassa ihr ausgestellt hatte und das seit heute mit
der Post unterwegs zu ihm war, nichts ändern können.
Plötzlich hörte sie nebenan schwere Stiefel
hereinstapfen, ein Stuhl fiel um, das hektische Getrappel von einem
Sondereinsatzkommando, das die Küche besetzte. Verdammt, dachte sie
und setzte sich auf, eine Razzia, und ich mittendrin! Natürlich
wegen Mikkis Haschisch und was er sonst noch konsumierte. Aber
Nina? Was hat Nina damit zu tun? Nichts! Ich muss Nina retten! Nur
mit ihrer Tunika bekleidet, stürzte Magdalena aus dem Bett und
zwängte sich, so schnell es ging, durch den verdammten Türspalt.
Das Bett war viel zu groß, wer war bloß auf die Idee gekommen, es
in diese winzige Kammer zu stellen? Und richtig, in der Küche
polterten carabinieri herum, ein langer und ein kleiner,
beide in blauen Motorraduniformen mit roten Streifen. Mit einem
Blick erfasste Magdalena, dass niemand sonst im Raum war, nur die
Espressokanne auf dem Herd setzte in diesem Moment mit bedrohlich
leisem Fauchen zum Kochen an. Sie schluckte mühsam.
»Ouuh!« Der Große hatte Magdalena entdeckt und kam
mit
zwei langen Schritten auf sie zu. Sie wich zurück, doch er
schüttelte ihr nur freundlich die Hand, piacere, Gian-Luca,
piacere, Massimo, das war der Kleine, er hatte seinen Helm
unter die linke Achsel geklemmt und tätschelte ihn zärtlich wie
einen Kinderkopf.
Ein Schlüssel drehte sich hinter Magdalena, Nina
kam aus dem Bad. »Ragazzi!« Laute Begrüßung, schmatzende
Luftküsschen rechts und links und rechts und links, muah,
muah, die blauen Uniformen wippten hin und her und wollten
gar nicht aufhören, entschuldigendes Grinsen zu Magdalena hinüber,
dann wandten sie sich wieder Nina zu. Der Kleine hob den Stuhl auf,
die beiden setzten sich, noch mit weichen Knien sank Magdalena
ebenfalls auf einen der Plastikstühle.
»Ihr seid also mit der Ausbildung fertig!
Congratulazione! Erzählt mal, was gibt’s Neues auf Elba?«,
forderte Nina die beiden auf Italienisch auf und stellte zwei
Tassen mit Espresso vor sie hin. Doch das Gespräch verlief
schleppend, die carabinieri waren offenbar überfordert
damit, gleichzeitig den Espresso hinunterzukippen, Nina bei jeder
ihrer Gesten mit den Augen zu folgen und dabei auch noch
Neuigkeiten zu erzählen. Magdalena beobachtete Nina fasziniert. Wie
machte sie das nur? Sie konnte jedem Einzelnen das Gefühl geben,
ihre volle Aufmerksamkeit zu haben, egal wie viele Menschen im Raum
waren. Nun holte sie Töpfe unter der kleinen Bar hervor, stellte
sie auf die Marmorplatte neben den Gaskocher und kramte im
vollgepackten Kühlschrank nach Lebensmitteln. Sie wickelte mehrere
Fleischstücke aus einem blutigen Papier, währenddessen redete sie
und bestärkte die beiden Motorradpolizisten in dem kindischen Stolz
auf ihre Uniformen. Jetzt griff sie zu einem großen Messer und
drohte dem Größeren lachend damit, sie bewegte sich zwischen
Tresen, Spülstein und Kühlschrank so gewandt und sicher, dass keine
Hektik aufkam, sondern man den Eindruck
gewann, man sehe einer gut gelaunten Fernsehköchin zu, die auf
zwei Gasflammen ein Menü zaubern konnte, für das eigentlich
mindestens vier nötig waren.
»Ragazzi! Mangiate con noi?« Nina wirbelte
zu ihnen herum, dass ihre Zöpfe flogen. Magdalena schüttelte
unmerklich den Kopf. Wenn man Nina so sah, würde man nicht denken,
dass dies dieselbe Frau war, die sich manchmal zurückzog und
unnahbar in die Ferne starrte. Nina grinste zu Magdalena hinüber,
die Augen einen Bruchteil lang voller gutmütigem Spott. Da, das ist
ihr Trick, kaum fühle ich mich ausgeschlossen, schon kommt ihr
Blick, der besagt, dass wir uns gemeinsam über diese beiden Clowns
lustig machen. Sie weiß einfach, was jeder braucht, um sich gut zu
fühlen. Die Einladung zum Essen lehnten die carabinieri
zweimal höflich ab, dann nahmen sie an, schälten bereitwillig einen
riesigen Berg Kartoffeln und schnitten sie nach Ninas Anweisungen
in dünne Stifte. Nina flirtete ungehemmt weiter mit ihnen, die ihr
Glück kaum fassen konnten und die Zuwendung dankbar in sich
aufsaugten wie zwei ausgetrocknete Gänseblümchen.
»È forte!« Der Kleinere strahlte Magdalena
an. »È forte lei!«, wiederholte er. Ja. Magdalena nickte.
Nina war stark, sie verteilte ihre Energie im Raum wie eine
Walt-Disney-Fee ihren Glitzerstaub.
Während des Kochens gingen plötzlich die Flammen
unter den Töpfen aus, der eilig von Nina herbeitelefonierte Luciano
kam mit einer neuen Gasflasche die Stufen heraufgekeucht, schloss
sie mit wenigen Griffen an, blieb an Ninas roten Lippen hängen und
zum Essen. Am Ende waren sie zu zehnt. Magdalena, Nina, Matteo und
Mikki aus dem POLO, die beiden carabinieri, Luciano
und die drei geladenen Freunde: Nicóla, jüngster Empfangschef im
Hotel Angélique, der kleine Dario mit der Harley Davidson
und Vittorio, ein Mann mit einem völlig kahlen
Kopf und beunruhigend hellen Augen, der in Marina di Campo ein
Lokal besaß.
»Kinder, jetzt müssen wir improvisieren!«, rief
Nina. »Zu essen gibt’s reichlich, aber für uns alle ist die
Terrasse zu klein!« Matteo, der inzwischen in der überfüllten Küche
eingetroffen war, schlug vor, zwei Tische aus dem Nachtclubgebäude
unter ihnen zu holen und eine Tafel auf der sauber gefegten
Tanzfläche aufzubauen. Magdalena wurde von Nina angewiesen, dort
unten schon mal den Aperitif auszuschenken, »die nerven mich hier
in der Küche«, flüsterte sie ihr verschwörerisch zu. Ich bin außer
Nina die einzige Frau, dachte Magdalena und gab sich Mühe, den
Weißwein mit einem Spritzer Aperol so zu färben, dass er die
gleiche Tönung bekam wie die Kerzen in den Windlichtern auf den
Tischen. Dann beobachtete sie die männlichen Gäste, die mit dem
orangefarbenen Inhalt ihrer Gläser auf den mintgrünen Fliesen der
Tanzfläche herumliefen und, wie es schien, unruhig auf Nina
warteten. Nach einigen Minuten kam sie mit einer Schüssel in den
Händen die Treppe herunter, sie hatte sich umgezogen, trug jetzt
ein weißes Feinrippunterhemd, unter dem sich deutlich ihre kleinen
Tennisballbrüste und der blassgrüne BH abzeichneten, und eine enge,
fadenscheinige Jeans, die ihre schmalen Hüften bestens betonte. Da
war sie, der Star ohne Starallüren, unschuldig in frischem Weiß,
sexy, scheinbar ohne es zu wissen. Dabei musste sie das
Blickegewitter bemerken, in dem sie gerade unterging.
»È cambiata!«, hörte Magdalena den
Empfangschef mit dem Mädchennamen murmeln und verfolgte aufmerksam,
welche Bahnen die Blicke seiner leicht hervorstehenden Augen an
Ninas Figur zogen. Nina hatte sich verändert? Es schien ihm dennoch
zu gefallen, was er sah.
»Danke für den Aperitif!«, hauchte Nina ihr ins Ohr
und küsste sie wie in Zeitlupe auf beide Wangen. Magdalena wusste,
dass jeder der Umstehenden diese kleine Szene beobachtete, und
winkte verlegen ab.
Ninas Essen war wie immer fantastisch. Als ersten
Gang gab es tortellini romagnoli, dann folgten das
filetto di cinghiale gratinato samt Bohnen und selbst
gemachten Pommes frites aus der Fritteuse. Wie hatte Nina es
geschafft, zehn Wildschweinfilets in zwei mittelgroßen Pfannen auf
zwei Gasflammen gleichzeitig fertigzubekommen?, fragte Magdalena
sich. Und gratinato? Wie konnte sie etwas überbacken, wenn
es noch nicht einmal einen Backofen gab? Aber sie würde sich mit
ihrer Frage zurückhalten und nicht schon wieder die tedesca
geben, sie fühlte sich eh schon verdammt deutsch: so gründlich, so
pünktlich, so unelegant.
Matteo schleppte fünf Teller zugleich die Treppe
hinunter und servierte, als ob er sein Leben lang nichts anderes
getan hätte. Als alle versorgt waren, setzte er sich neben
Magdalena, die jetzt zwischen ihm und Nicóla, dem Rezeptionisten,
saß. Sie hörte dieses »è cambiata!« noch zweimal an der
Tafel, doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, wurde sie
von Nina der Essensrunde vorgestellt. »Magdalena Lucia Kirsch, eine
der besten Harfenistinnen Europas«, behauptete sie, ohne rot zu
werden. Gestern, als es Fisch gab, hatte Nina sie zu einer
Staranwältin aus München gemacht. Nina amüsierte sich über die
unterschiedlichen Reaktionen ihrer Gäste und ließ sie dann raten,
was Magdalena wirklich war. Schriftstellerin, Immobilienmaklerin,
Gesangslehrerin. Der kleinere carabiniere tippte auf
Yogalehrerin, das hatte gestern auch schon jemand geraten,
wahrscheinlich lag es an ihrem indischen Gewand. Magdalena beeilte
sich, das Rätsel aufzulösen, sie wollte keine Harfenistin oder
Staranwältin sein und sich mit deren Ruhm schmücken, sie wollte
Kartografin sein, nichts anderes! Inzwischen konnte sie ihren Beruf
schon so flüssig auf Italienisch erklären, dass es sich
sogar ganz gut anhörte. Cartografo. Betont auf der zweiten
Silbe. Wie gestern wurde sie gefragt, ob nicht schon alles auf der
Welt vermessen sei und ob sie einen Navigator im Auto habe.
»Nein«, antwortete sie, »vieles wird immer wieder
neu vermessen, und der Anspruch an eine Karte ändert sich ja auch
stetig«, und, »nein, ich habe nicht einmal ein eigenes Auto.«
Gelächter an dieser Stelle, auch das kannte sie schon. »Aber ich
habe mich schon immer sehr gut orientieren können und bin, anders
als angeblich die meisten Frauen, gut im Lesen der Karten, mit
denen ich mich den ganzen Tag beschäftige.« Magdalena lächelte,
spießte eine verlorene Bohne von ihrem Tellerrand auf die Gabel und
dankte Nina mit einem Blick für ihre niedergeschriebenen Sätze, die
sie auswendig gelernt hatte. »Außerdem«, erklärte sie schnell, weil
alle ihr noch immer zuhörten, »kann ich keine Karte anschauen, ohne
sie noch irgendwie verbessern zu wollen. Typische Berufskrankheit.«
Gerne hätte sie noch mehr erzählt, aber als sie ihren Wortschatz
überschlug, gab sie rasch auf, schon auf Deutsch war ihre
Faszination für Karten schwer zu vermitteln. Doch dann fiel ihr
Blick auf Matteo. »Matteo, wie sage ich auf Italienisch, dass mich
neben der inhaltlichen Konzipierung einer Karte vielmehr die
Visualisierung räumlicher Daten begeistert?«
Ȁh, tja, das ist sicher interessant, aber meinst
du auch für die da?« Magdalena schaute auf, fünf Sekunden hatten
gereicht, um die Aufmerksamkeit der Runde zu verlieren: Die beiden
carabinieri maßen sich laut ächzend im Armdrücken, um Nina
zu beeindrucken, Gasflaschen-Luciano gab mit seinem Handy vor ihr
an, es konnte täuschend echt bellen und ein Maschinengewehr
imitieren, was Nicóla veranlasste, sein eigenes Handy zu zücken.
Nur der kahlköpfige Vittorio, zwei Stühle weiter, blickte noch zu
ihr hinüber, aber dann sah sie, dass sein Blick glasig war, da er,
ohne eine Miene zu verziehen, dem kleinen Harley-Davidson-Dario
lauschte, der ihm etwas ins Ohr raunte. »Schon klar«, sagte sie
leise und trank einen großen Schluck Rotwein.
An diesem Abend verkürzte Magdalena ihren
angenehmen kleinen Rausch nicht mit einem Espresso, sondern nahm
einen Averna von Matteo an, von dem er behauptete, er heile alles,
sei also eigentlich eine Medizin. »Salute!«
Herrlich müde und gesättigt fiel sie ins Bett, ließ
die Bilder des Abends noch einmal Revue passieren: der
dauergrinsende Dario, der nur seine Harley als Gesprächsthema
hatte, aber seine Zähne waren toll. Luciano, der eigentlich
Klempner war und dem Nina aus seinen riesigen Händen die Zukunft
gelesen hatte, Nicóla, hübsch, intelligent und ganz offensichtlich
in Nina verliebt. Wie alle anderen auch, außer Matteo vielleicht,
der den ganzen Abend kaum einmal neben ihr gesessen, sondern
dauernd abgeräumt und nachgeschenkt hatte. Magdalena hörte sich
seufzen. Warum hatte Nina sich verändert und wie? Von wo nach wo?
Sie kicherte und merkte, wie betrunken sie war. Von wo nach wo! Das
werde ich schon noch herausbekommen, dachte sie, das - und von wo
nach wo mein Vater meine Mutter getroffen hat und was für ein
Vergehen Nina begangen hat und ob ihre Brüste echt sind und …
überhaupt alles.