29
Wenn man von Procchio den Berg hinauffuhr, kam man nach zahlreichen Kurven und Steigungen zunächst am Club 64 vorbei. Hier standen immer ein paar Autos am Straßenrand, übrig geblieben von der vergangenen Nacht, ein großer Müllcontainer, Flaschen, Scherben, und der alte Mann mit der seltsamen Matrosenmütze und dem Besen, der dort alles wieder in Ordnung brachte, gehörte auch zum Inventar. Magdalena hatte ihn schon oft gesehen, sie grüßte ihn im Vorbeifahren, er grüßte würdevoll zurück.
Das POLO dagegen, einen halben Kilometer weiter, lag wie eine schlafende Prinzessin hinter immer dichter werdendem Grün. Der von Matteo frisch gemalte Schriftzug war schon wieder überwuchert. Anhand der Autos in der Parkbucht konnte Magdalena ungefähr sehen, wie die Belegung im POLO war. Parkte Ninas kleiner Lada davor, war Evelinas Fiat da, Mikkis schraddeliger Renault? Matteo hatte kein eigenes Auto, er benutzte mal dieses, mal jenes, man wusste also nie genau, wer von ihnen sich wirklich oben in der Wohnung über der Orangerie aufhielt. Magdalena fuhr langsamer. Ninas Lada stand heute parallel zur Mauer, genau an dem Platz, an dem sie vor sieben Wochen gelegen und sich den Auspuff von unten angeschaut hatte. Sieben Wochen schon! Die ersten Tage in Ninas Bett fielen ihr wieder ein, und plötzlich hatte sie es gar nicht mehr so eilig, nach Capoliveri zu fahren. Vielleicht könnte sie Nina überreden, mit ihr zu kommen, es hatte damals so verdammt viel Spaß gemacht, als sie mit dem Stapel Kopien auf den Beinen neben Nina im Wagen gesessen hatte, kreuz und quer von ihr über die Insel gefahren wurde und sie gemeinsam in allen Orten Laternenmasten und Plakatwände mit dem Foto zugepflastert hatten. Nina war unermüdlich, sie hatte jeden Mann über sechzehn angesprochen und in ein kurzes Gespräch verwickelt, wirklich jeden. Lachend und flirtend, aber dabei hoch konzentriert, den Jungen von dem Foto zu finden. Ich möchte sie wieder so intensiv bei der Suche sehen, dachte Magdalena, sie kann so lustig sein! So ernst, so komisch! Sie vermisste die Nina aus jener Zeit plötzlich sehr, ein ziehendes Gefühl, das nach Liebeskummer, Heimweh, Sehnsucht schmeckte. Schon war der Roller abgestellt, schon sprang sie die Stufen hinauf, ließ die Treppe Richtung Zitronengarten links liegen, erreichte atemlos die obere Stufe und klopfte an die Wohnungstür. Niemand öffnete. Es war elf Uhr vormittags, viel zu früh für Menschen, die bis drei, vier Uhr nachts arbeiteten, aber Nina konnte morgens nicht lange schlafen, sie stand lieber auf und hielt dann nachmittags nach dem Strandbesuch noch ein Schläfchen. So wie Roberto. Ach, Roberto, an den wollte sie nun gerade nicht denken.
 
Magdalena drückte vorsichtig die Klinke herunter, es war offen. Leise »permesso!?« rufend, trat sie ein. Kein Matteo auf dem Bett. Die Küche war leer, roch leicht nach gebratenem Fisch und stark nach Knoblauch, und über allem wehte der Geruch von Kaffee. Über dem Spülstein voller aufgetürmter Teller hing noch immer kein neuer Hängeschrank, die Löcher in der Wand schauten sie anklagend an. Magdalena grinste. Matteos Bett war ordentlich gemacht, die Decke strammgezogen. Vielleicht fuhrwerkte er schon im Zitronengarten herum. Herumfuhrwerken, auch so ein Ausdruck von Rudi, der sie zu Hause in Osterkappeln überhaupt nicht zu vermissen schien. Seine Mail, die sie eben unten in der Bar La Pinta noch gelesen hatte, berichtete nicht mal mehr vom Garten oder vom Stammtisch der Freiwilligen Feuerwehr, sondern nur noch von den ausfallenden Trainingsstunden, weil der Boxkeller unter Wasser stand. Er hatte es eilig gehabt, die Nachricht zu schreiben, weil er mit einer »Dame« in den neuen Markthallen verabredet war. Ein Käffchen trinken. Er schrieb Dame tatsächlich in Anführungsstrichen. Seit wann ging Rudolf in den neuen Markthallen mit »Damen« Käffchen trinken? Ihre Antwort fiel ebenso knapp aus:
 
Rudi,
ich brauche mehr Informationen! Bitte erinnere Dich, ist Heidi nach diesem Sommer noch mal nach ELBA gefahren? Jedes kleine Detail kann nützlich für mich sein.
Deine Magdalena
 
»Nina!«, rief sie leise. »Matteo? Mikki? Evelina?« Wo waren die denn alle? Ließen hier einfach die Tür auf, da konnte ja jeder klauen kommen. Die Terrasse: leer. Die Badezimmertür: angelehnt, niemand. Vorsichtig klopfte sie an Ninas Zimmertür und öffnete sie. Auch hier war niemand, Ninas Bett war gemacht, der Schrank mit einem weißen Tuch abgehängt, sodass noch nicht mal ihre bunten Kleider einen Farbklecks boten. Auf der Orangenkiste lag Ninas Tagebuch. Und das bleibt heute zu! Sie setzte sich auf das Bett. Hier hatte sie stundenlang gelegen und so herrlich geschlafen, sich endlich mal ausgeruht von dem täglichen Stress, ständig etwas Nützliches tun zu müssen. Auch Rudi schien sich ein wenig davon befreit zu haben. Schon vor einer Woche hatte er geschrieben, auf seinen Kumpel Horst keine Lust mehr zu haben, er sei es leid, ewig dieselben Leute zu sehen, und den Doppelkopfabend habe er mal für eine Weile begraben. Er hatte aber äußerst fröhlich dabei geklungen. Vielleicht ging es ihm sogar besser ohne seine Enkeltochter? Magdalena griff nach Ninas Tagebuchkalender, sie wollte ja gar nicht darin lesen, sie hatte sich geschworen, es nicht mehr zu tun. Darunter lagen zwei identische Bücher vom vorletzten und letzten Jahr. Warum hatte Nina sie aus dem Schrank geholt? Magdalena blätterte sich durch die Seiten, heute vor einem Jahr, am 15. Juli, was hatte Nina da gemacht? Sie blieb an einem späteren Eintrag hängen:
 
13. Oktober
Ich sammele Einfachheit, Überzogenes, Stimmungen, Erfindungen, Glück und Unglück, Allüren aller Art, egal was. Nur anders als das, was ich kenne, soll es sein, und mich retten, von Sekunde zu Sekunde. Ob Mann oder Frau, wenn in mir ein Gefühl des Mitleben-Wollens entsteht, lasse ich mich wie ein Schmarotzer von meinem Gasttier eine Weile mittragen, bis ich mich vollgesogen wieder fallen lasse. Das Paradoxe: Ich fühle mich wie ein Parasit, während alle Welt sich fragt, warum ich mich so selbstlos um die kümmere, die mir zufällig in die Arme laufen.
 
So sah Nina sich?! Ein Schmarotzer, ein Parasit, der von den Menschen profitierte, die ihm zufällig in die Arme liefen. Einer dieser Menschen war sie, Magdalena.
Schnell blätterte sie zurück zum 15. Juli, heute vor einem Jahr.
 
Mein Gott, ging es mir heute Morgen schlecht. Matteo hat alles weggemacht. Ich liebe ihn dafür und hasse ihn so sehr. Er hat mir nichts gesagt.
 
Das bedeutete, sie hatte gekotzt, und Matteo hatte alles weggewischt. Was hatte er ihr nicht gesagt?
Magdalena lauschte, sie hörte Schritte außen auf den Stufen. Die Antwort würde sie nun wohl nie erfahren, schnell legte sie die Kalenderbücher wieder übereinander, Kante auf Kante, so wie sie sie vorgefunden hatte, stand auf, strich das Laken glatt und huschte aus Ninas Zimmer. Da stand Nina auch schon in der Küche. Magdalena sagte: »Ciao!«, doch Nina hob kaum den Kopf. Mist, Mist, Mist, sie hatte gesehen, dass sie in ihrem Zimmer gewesen war.
»Ich habe nur geschaut, ob du noch schläfst.«
Keine Antwort. Nina packte Plastiktüten voller Lebensmittel auf den Küchentisch und legte vorsichtig ein paar Blumen daneben.
»Hättest du Lust, mit nach Capoliveri zu fahren, eine Runde auf dem Roller? Ich habe da eine heiße Spur entdeckt.«
»Das ist ja schön für dich.«
Großer Gott, sie klang wieder so eingefroren, trotzdem versuchte Magdalena es noch einmal: »Klingt komisch, aber neulich habe ich ein Lied gehört, da kam ein Mädchen drin vor, mit goldenen Stiefeln, und der, der das geschrieben hat …« Magdalena verstummte. Ganz bestimmt war das, was sie da eben in Ninas Zimmer getan hatte, nicht richtig gewesen, aber sie hatte doch Nina nichts weggenommen. Sie wollte sie bloß verstehen und wieder mit ihr auf die Suche gehen, wie vor einigen Wochen! Nina ging an Magdalena vorbei und verschwand in ihrem Zimmer. O bitte, sie hatte wahrscheinlich ein geheimes Zeichen, das sie jetzt kontrollierte, ein Haar zwischen den Seiten, oder … Nina kam wieder zurück.
»Ich glaube, er könnte mein Vater sein«, Magdalena lachte verlegen und schlenkerte mit den Armen, während sie auf den Boden schaute, »mal wieder …«
»Magdalena, weißt was?!«
Erwartungsvoll hob Magdalena den Kopf. Vielleicht hat sie doch nicht die Bücher überprüft, Nina ist keine Frau, die so etwas tut.
»Lass mich und mein Zeug einfach in Ruh, ja?«
Magdalena starrte Nina an, doch die widmete sich ihren Blumen. Mit hochrotem Kopf schlich sie aus der Tür.
Magdalenas Garten
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