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Wenn man von Procchio den Berg hinauffuhr,
kam man nach zahlreichen Kurven und Steigungen zunächst am Club
64 vorbei. Hier standen immer ein paar Autos am Straßenrand,
übrig geblieben von der vergangenen Nacht, ein großer
Müllcontainer, Flaschen, Scherben, und der alte Mann mit der
seltsamen Matrosenmütze und dem Besen, der dort alles wieder in
Ordnung brachte, gehörte auch zum Inventar. Magdalena hatte ihn
schon oft gesehen, sie grüßte ihn im Vorbeifahren, er grüßte
würdevoll zurück.
Das POLO dagegen, einen halben Kilometer
weiter, lag wie eine schlafende Prinzessin hinter immer dichter
werdendem Grün. Der von Matteo frisch gemalte Schriftzug war schon
wieder überwuchert. Anhand der Autos in der Parkbucht konnte
Magdalena ungefähr sehen, wie die Belegung im POLO war.
Parkte Ninas kleiner Lada davor, war Evelinas Fiat da, Mikkis
schraddeliger Renault? Matteo hatte kein eigenes Auto, er benutzte
mal dieses, mal jenes, man wusste also nie genau, wer von ihnen
sich wirklich oben in der Wohnung über der Orangerie aufhielt.
Magdalena fuhr langsamer. Ninas Lada stand heute parallel zur
Mauer, genau an dem Platz, an dem sie vor sieben Wochen gelegen und
sich den Auspuff von unten angeschaut hatte. Sieben Wochen schon!
Die ersten Tage in Ninas Bett fielen ihr wieder ein, und plötzlich
hatte sie es gar nicht
mehr so eilig, nach Capoliveri zu fahren. Vielleicht könnte sie
Nina überreden, mit ihr zu kommen, es hatte damals so verdammt viel
Spaß gemacht, als sie mit dem Stapel Kopien auf den Beinen neben
Nina im Wagen gesessen hatte, kreuz und quer von ihr über die Insel
gefahren wurde und sie gemeinsam in allen Orten Laternenmasten und
Plakatwände mit dem Foto zugepflastert hatten. Nina war
unermüdlich, sie hatte jeden Mann über sechzehn angesprochen und in
ein kurzes Gespräch verwickelt, wirklich jeden. Lachend und
flirtend, aber dabei hoch konzentriert, den Jungen von dem Foto zu
finden. Ich möchte sie wieder so intensiv bei der Suche sehen,
dachte Magdalena, sie kann so lustig sein! So ernst, so komisch!
Sie vermisste die Nina aus jener Zeit plötzlich sehr, ein ziehendes
Gefühl, das nach Liebeskummer, Heimweh, Sehnsucht schmeckte. Schon
war der Roller abgestellt, schon sprang sie die Stufen hinauf, ließ
die Treppe Richtung Zitronengarten links liegen, erreichte atemlos
die obere Stufe und klopfte an die Wohnungstür. Niemand öffnete. Es
war elf Uhr vormittags, viel zu früh für Menschen, die bis drei,
vier Uhr nachts arbeiteten, aber Nina konnte morgens nicht lange
schlafen, sie stand lieber auf und hielt dann nachmittags nach dem
Strandbesuch noch ein Schläfchen. So wie Roberto. Ach, Roberto, an
den wollte sie nun gerade nicht denken.
Magdalena drückte vorsichtig die Klinke herunter,
es war offen. Leise »permesso!?« rufend, trat sie ein. Kein
Matteo auf dem Bett. Die Küche war leer, roch leicht nach
gebratenem Fisch und stark nach Knoblauch, und über allem wehte der
Geruch von Kaffee. Über dem Spülstein voller aufgetürmter Teller
hing noch immer kein neuer Hängeschrank, die Löcher in der Wand
schauten sie anklagend an. Magdalena grinste. Matteos Bett war
ordentlich gemacht, die Decke strammgezogen. Vielleicht
fuhrwerkte er schon im Zitronengarten herum. Herumfuhrwerken, auch
so ein Ausdruck von Rudi, der sie zu Hause in Osterkappeln
überhaupt nicht zu vermissen schien. Seine Mail, die sie eben unten
in der Bar La Pinta noch gelesen hatte, berichtete nicht mal
mehr vom Garten oder vom Stammtisch der Freiwilligen Feuerwehr,
sondern nur noch von den ausfallenden Trainingsstunden, weil der
Boxkeller unter Wasser stand. Er hatte es eilig gehabt, die
Nachricht zu schreiben, weil er mit einer »Dame« in den neuen
Markthallen verabredet war. Ein Käffchen trinken. Er schrieb Dame
tatsächlich in Anführungsstrichen. Seit wann ging Rudolf in den
neuen Markthallen mit »Damen« Käffchen trinken? Ihre Antwort fiel
ebenso knapp aus:
Rudi,
ich brauche mehr Informationen! Bitte erinnere
Dich, ist Heidi nach diesem Sommer noch mal nach ELBA gefahren?
Jedes kleine Detail kann nützlich für mich sein.
Deine Magdalena
»Nina!«, rief sie leise. »Matteo? Mikki? Evelina?«
Wo waren die denn alle? Ließen hier einfach die Tür auf, da konnte
ja jeder klauen kommen. Die Terrasse: leer. Die Badezimmertür:
angelehnt, niemand. Vorsichtig klopfte sie an Ninas Zimmertür und
öffnete sie. Auch hier war niemand, Ninas Bett war gemacht, der
Schrank mit einem weißen Tuch abgehängt, sodass noch nicht mal ihre
bunten Kleider einen Farbklecks boten. Auf der Orangenkiste lag
Ninas Tagebuch. Und das bleibt heute zu! Sie setzte sich auf das
Bett. Hier hatte sie stundenlang gelegen und so herrlich
geschlafen, sich endlich mal ausgeruht von dem täglichen Stress,
ständig etwas Nützliches tun zu müssen. Auch Rudi schien sich ein
wenig davon befreit zu haben. Schon vor
einer Woche hatte er geschrieben, auf seinen Kumpel Horst keine
Lust mehr zu haben, er sei es leid, ewig dieselben Leute zu sehen,
und den Doppelkopfabend habe er mal für eine Weile begraben. Er
hatte aber äußerst fröhlich dabei geklungen. Vielleicht ging es ihm
sogar besser ohne seine Enkeltochter? Magdalena griff nach Ninas
Tagebuchkalender, sie wollte ja gar nicht darin lesen, sie hatte
sich geschworen, es nicht mehr zu tun. Darunter lagen zwei
identische Bücher vom vorletzten und letzten Jahr. Warum hatte Nina
sie aus dem Schrank geholt? Magdalena blätterte sich durch die
Seiten, heute vor einem Jahr, am 15. Juli, was hatte Nina da
gemacht? Sie blieb an einem späteren Eintrag hängen:
13. Oktober
Ich sammele Einfachheit, Überzogenes, Stimmungen,
Erfindungen, Glück und Unglück, Allüren aller Art, egal was. Nur
anders als das, was ich kenne, soll es sein, und mich retten, von
Sekunde zu Sekunde. Ob Mann oder Frau, wenn in mir ein Gefühl des
Mitleben-Wollens entsteht, lasse ich mich wie ein Schmarotzer von
meinem Gasttier eine Weile mittragen, bis ich mich vollgesogen
wieder fallen lasse. Das Paradoxe: Ich fühle mich wie ein Parasit,
während alle Welt sich fragt, warum ich mich so selbstlos um die
kümmere, die mir zufällig in die Arme laufen.
So sah Nina sich?! Ein Schmarotzer, ein Parasit,
der von den Menschen profitierte, die ihm zufällig in die Arme
liefen. Einer dieser Menschen war sie, Magdalena.
Schnell blätterte sie zurück zum 15. Juli, heute
vor einem Jahr.
Mein Gott, ging es mir heute Morgen schlecht.
Matteo hat alles weggemacht. Ich liebe ihn dafür und hasse ihn so
sehr. Er hat mir nichts gesagt.
Das bedeutete, sie hatte gekotzt, und Matteo hatte
alles weggewischt. Was hatte er ihr nicht gesagt?
Magdalena lauschte, sie hörte Schritte außen auf
den Stufen. Die Antwort würde sie nun wohl nie erfahren, schnell
legte sie die Kalenderbücher wieder übereinander, Kante auf Kante,
so wie sie sie vorgefunden hatte, stand auf, strich das Laken glatt
und huschte aus Ninas Zimmer. Da stand Nina auch schon in der
Küche. Magdalena sagte: »Ciao!«, doch Nina hob kaum den
Kopf. Mist, Mist, Mist, sie hatte gesehen, dass sie in ihrem Zimmer
gewesen war.
»Ich habe nur geschaut, ob du noch schläfst.«
Keine Antwort. Nina packte Plastiktüten voller
Lebensmittel auf den Küchentisch und legte vorsichtig ein paar
Blumen daneben.
»Hättest du Lust, mit nach Capoliveri zu fahren,
eine Runde auf dem Roller? Ich habe da eine heiße Spur
entdeckt.«
»Das ist ja schön für dich.«
Großer Gott, sie klang wieder so eingefroren,
trotzdem versuchte Magdalena es noch einmal: »Klingt komisch, aber
neulich habe ich ein Lied gehört, da kam ein Mädchen drin vor, mit
goldenen Stiefeln, und der, der das geschrieben hat …« Magdalena
verstummte. Ganz bestimmt war das, was sie da eben in Ninas Zimmer
getan hatte, nicht richtig gewesen, aber sie hatte doch Nina nichts
weggenommen. Sie wollte sie bloß verstehen und wieder mit ihr auf
die Suche gehen, wie vor einigen Wochen! Nina ging an Magdalena
vorbei und verschwand in ihrem Zimmer. O bitte, sie hatte
wahrscheinlich ein geheimes Zeichen, das sie jetzt kontrollierte,
ein Haar zwischen den Seiten, oder … Nina kam wieder zurück.
»Ich glaube, er könnte mein Vater sein«, Magdalena
lachte verlegen und schlenkerte mit den Armen, während sie auf den
Boden schaute, »mal wieder …«
»Magdalena, weißt was?!«
Erwartungsvoll hob Magdalena den Kopf. Vielleicht
hat sie doch nicht die Bücher überprüft, Nina ist keine Frau, die
so etwas tut.
»Lass mich und mein Zeug einfach in Ruh, ja?«
Magdalena starrte Nina an, doch die widmete sich
ihren Blumen. Mit hochrotem Kopf schlich sie aus der Tür.