33
Er hat sie gekannt, er hat sich sogar an ihre Stimme erinnert, sie soll meiner ganz ähnlich gewesen sein … die Neuigkeiten zerplatzten förmlich in ihrem Gehirn und wollten als Sätze hinaus. Doch der, für den Magdalena sie formuliert hatte, während sie den Roller konzentriert über die Inselstraßen lenkte, war nicht da. Stumm schüttelte sie die Piniennadeln aus der Hängematte, ging unter den Zitronenbäumen auf die Mauer zu und strich mit den Händen daran entlang. Die Steine waren unbearbeitet übereinandergeschichtet worden und bildeten ein eigenwilliges Muster. Sie suchte die beiden Vorsprünge, die Matteo ihr vor zwei Tagen gezeigt hatte, und kletterte hinauf. Das Fenster zwischen den Zweigen zeigte ein dunkelblaues Meer, der Horizont war diesig, die Luft feucht, vielleicht würde es heute Abend noch regnen. Bei Regen kamen nicht so viele Leute in die Bar, wäre gar nicht schlecht, mal ein bisschen weniger zu laufen. Ihr Magen knurrte, sie hatte seit Mittag nichts mehr gegessen, und jetzt war es schon halb sechs. Um diese Zeit war Matteo doch immer im Zitronengarten anzutreffen, wo steckte er bloß? Sie rutschte ein wenig auf der Mauer herum, um eine bequemere Position für ihren Hintern zu finden, und schaute hinunter. Der Schlauch lag ordentlich zusammengerollt neben dem kleinen Holzschemel unter den Bäumen, die sich anscheinend gut erholt hatten von der Chemotherapie. Magdalena hatte sich im Internet ausführlich über auftretende Schädlinge bei Zitruspflanzen informiert. Die geflügelten Tierchen, weiße Fliegen genannt, und die Schmierläuse mit ihren Flocken waren besiegt. Blätter, die immer noch dufteten, wenn man sie ein bisschen rieb, Blüten, grüne und gelbe Zitronen, alles hatte überlebt. Magdalena packte ihre Handtasche aus, vielleicht versteckte sich wenigstens noch ein Kaugummi darin. Handy, Portemonnaie, das Foto zwischen den Seiten eines dünnen italienischen Krimis, den sie gerade las und sogar halbwegs verstand, kein Kaugummi. Sie hatte Durst, aber oben in der Wohnung war offenbar niemand, keines der Autos hatte unten in der Parkbucht gestanden. Außerdem hatte sie auch keine besonders große Lust, auf Nina zu treffen. Dann würde sie eben jetzt doch nach Hause fahren. Magdalena zögerte, meine Güte, ohne Matteo konnte sie anscheinend gar nichts mehr tun, ohne seine Hand konnte sie noch nicht mal mehr von einer nicht allzu hohen Mauer springen! Sie sprang. Und knickte prompt mit dem Fuß um. Typisch. Langsam humpelte sie zum Ausgang, es ging bestimmt gleich wieder, es tat nur ein bisschen weh. Also auf nach Hause. Roberto konnte sie natürlich nichts von ihrem Nachmittag bei Antonello Pucciano berichten, sie hatte ihm ja noch nicht einmal von ihrer Vatersuche erzählt. Als sie den Roller von seinem Ständer schubste, hielt ein Auto vor dem POLO, jemand stieg aus, das Auto fuhr wieder davon. Matteo! Er hielt eine große Papiertüte in der Hand, sah sie, kam herüber und klopfte freundschaftlich auf ihren Helm.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
»Und wie!«
»Komm, wir fahren runter an den Strand, la Biodola, oder nein, noch besser, le Ghiaie«, er schaute in den dunkel werdenden Himmel, dicke Wolken türmten sich über dem Meer auf, »da ist es um diese Zeit einzigartig. Warst du schon mal da?«
»Nein.« Le Ghiaie, allein der Name war komisch auszusprechen, die Vokale klebten unter dem Gaumen.
»Was ist da so Besonderes, das ist ein Kieselstrand, oder?«
»Ja. Vom Namen her scheint es so. Du fährst.«
»Okay.« Magdalena ließ Matteo die Tüte im Sitz verstauen und hinten auf dem Soziussitz Platz nehmen, sein Gewicht brachte sie ein wenig ins Schwanken, doch während der Fahrt wurde es besser. Als sie den Berg hinunterrollten, spürte sie ihn an ihrem Rücken, er lehnte sich furchtlos mit ihr in die Kurven, gab dem Roller mehr Schwung, mehr Bodenhaftung. Ein paarmal drehte Magdalena den Kopf nach hinten, wollte anfangen zu erzählen, doch dann verwarf sie die Idee wieder. Es erschien ihr nicht angemessen, die Erkenntnisse des Nachmittags so in den Fahrtwind zu schreien.
In Portoferraio bedeutete Matteo ihr, kurz vor dem Fährhafen links abzufahren, und nach ein paar Hundert Metern tauchte rechts das Meer auf. Sie stellten den Roller an einem Rondell ab, Matteo nahm seine Tüte an sich, und dann standen sie auch schon am Strand. Weiße Kiesel erstreckten sich längs der weiten Bucht, die von zwei Felsvorsprüngen in die Zange genommen wurde, Magdalena sah den Verlauf der Küstenlinie exakt auf einer Karte vor sich. Die Sonne war hinter dem tief über dem Horizont zusammengedrängten Wolkenband verschwunden. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab, die Kiesel blendeten trotz des seltsamen Zwielichts, so weiß waren sie, dabei gefleckt wie Vogeleier. Sie setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging etwas wackelig über die runden Steine, die unter ihren Füßen wegzuglitschen schienen, der Knöchel tat noch weh. Das Wasser war dunkel, aber dennoch klar, die meisten Menschen um sie herum packten bereits Decken, Handtücher und Kühltaschen zusammen und brachen auf. Zwei Meter vom Wasser entfernt fragte Matteo: »Hier?« Magdalena nickte. Vorsichtig ließ sie sich auf den glatt geschliffenen Kieseln nieder. Matteo reichte ihr das erste von zwei in Servietten eingewickelten Päckchen, »da, iss!«, dann holte er zwei kleine Flaschen Cola aus der Tüte. Magdalenas Magen knurrte voll wütender Vorfreude. Sie wickelte die Servietten ab, bis eine schiaccina zum Vorschein kam, mit weit geöffnetem Mund biss sie in die Teigplatten, zwischen denen sich roher Schinken, Mozzarella, Rucola und Tomaten schichteten. Der Geschmack explodierte in ihrem Mund, gierig verschlang sie den Bissen, sie stöhnte: »Mann, das ist echt köstlich, wie machen die Elbaner das bloß?«, und wischte sich mit einer Serviette einen Klecks Mayonnaise vom Kinn. Von dem ersten Schluck Cola brusselte die Kohlensäure schmerzhaft in ihrer Speiseröhre.
»Jetzt würde ich gerne ganz laut rülpsen!«
»Tu’s doch.« Sie rülpste. Er betrachtete sie nachdenklich. »Das hätte ein italienisches Mädchen wohl kaum besser gemacht.« Magdalena zuckte mit den Schultern, sie grinsten sich an. Sie trank noch einmal, nun bekam sie Schluckauf.
»Dio«, sagte Matteo, »kannst du sonst noch was?«
»Ja, meine Zunge verdrehen, willst du es sehen?« Er wollte. Unterbrochen von ein paar Hicksern, zeigte sie ihm, wie sich ihre Zungenspitze im Mund fast einmal um sich selbst drehen konnte, im Gegenzug demonstrierte er ihr, dass er seinen Daumen bis an den Ellenbogen biegen konnte. Es sah gruselig aus, aber Magdalena war beeindruckt.
»Matteo«, sagte sie, immer noch hicksend, »ich habe dich doch neulich nach diesem Stiefel-Lied gefragt, das von Antonello Pucciano!« Wie schon vor ein paar Tagen in der Diskothek sang Matteo die erste Strophe sogleich mit gespielter Inbrunst. Jeder kennt das Lied in- und auswendig, dachte Magdalena stolz, und Antonellos große Liebe zu dem weißblonden Norweger ist auch nach Jahren noch herauszuhören, sogar in dieser Parodie von Matteo …
Sie erzählte ihm, was sie im Haus von Antonello, an seinem Krankenlager sitzend, erfahren hatte.
»Unglaublich«, murmelte Matteo, seine schiaccina war immer noch unberührt, »unglaublich!«
»Den Jungen auf dem Foto kannte er auch, er soll Paolo heißen, na ja, er oder sein Freund, daran konnte Antonello sich nicht mehr so genau erinnern. Sie waren immer zu dritt unterwegs, die Jungs kamen jedenfalls beide aus Livorno!«
»Was bedeutet das jetzt für dich?«
»Was das bedeutet? Dass ich ihn fast gefunden habe!«
»Genau, jetzt musst du nur noch einen Paolo aus Livorno finden …«
»Ach verdammt, Matteo, sei doch nicht so pessimistisch. Antonello hat meine Mutter gekannt, er hat oft mit ihr geredet und gesagt, dass meine Stimme genauso klingt wie ihre damals!« Endlich hatte der Satz seinen Weg aus ihr heraus gefunden. Sie schniefte und hickste in kurzen Abständen, es hörte sich grauenhaft an.
Matteo schaute sie mitfühlend an. »Ein Paolo, ein Paolo aus Livorno also«, murmelte er, »auch wenn er hier gearbeitet haben sollte, ist er nach dem Sommer bestimmt wieder zurückgegangen. Im Winter gibt es nur sehr wenig Arbeit auf der Insel. War deine Mamma vielleicht später noch mal hier?«
»Könnte sein.«
»Das ist es! Das ist der Punkt, von dem es für uns losgeht!«
Für uns? Magdalena schaute ihn überrascht an, der Schluckauf setzte aus.
»Im Winter«, fuhr Matteo fort und machte eine bedeutsame Pause, bevor er weitersprach, »im Winter gibt es auf Elba nur sehr wenige Gäste von außerhalb, man wird sich viel eher an deine Mamma erinnern! Wenn die beiden Jungs auch noch hier waren und sie schon schwanger mit sichtbarem Bäuchlein … So eine Dreiertruppe behält man doch eher im Kopf.«
Magdalena schaute ihn an und nickte. Jetzt endlich biss auch er in seine schiaccina. Die Sonne, die sich bisher vergeblich einen Weg durch die Wolkenberge gesucht hatte, brach jetzt an einzelnen Stellen durch, das Meer, die Kiesel, alles wurde mit einer orangefarbenen Lasur aus Licht übergossen. Gleich würde sie hinter den Bergen verschwinden, um später als roter Ball im Westen der Insel vor Pomonte im Meer zu versinken.
»Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?«
»Ruf deinen Rodolfo-Opa an, ob er nicht mehr weiß! Zum Beispiel, ob sie noch mal auf Elba war und in welchem Ort.«
»Er redet nicht darüber.«
»Na ja, das kann man sogar verstehen. Aber nun muss es halt sein! Denn sein Schmerz ist nicht dein Schmerz. Er hat die Tochter verloren, die er zwanzig Jahre lang aufwachsen sah, du die Mamma, an die du dich nicht erinnerst. Sag ihm, dass diese Vatergeschichte extrem wichtig für dich ist!« Extrem wichtig für mich, wiederholte Magdalena in Gedanken und hörte mit einem Mal, wie laut die Steine kollerten, die von den kleinen Brandungswellen mitgerissen wurden. Vor und zurück. Vor und zurück. Sie konnten da nicht raus.
»Ich habe sie zu Hause immer mit diesem Thema verschont. Und als meine Oma starb, erst recht.«
»Weil es ihm wehtat? Dir doch aber auch!«
»Aber ich wollte ihnen nicht noch mehr zur Last fallen.«
»Haben sie dir das gesagt!? Dass du ihnen zur Last fällst?« Matteo sah aus, als ob er gleich jemanden schlagen wollte.
»Nein, niemals, aber eine Nachbarin hat mal gesagt, ich würde meinen Großeltern das Leben schwer machen, ich sei ein unbändiges Kind! Diesen Spruch habe ich nie vergessen.«
»Unbändig? Das hätte ich gerne gesehen!« Matteo grinste. »Wie warst du denn so? Was hast du den ganzen Tag gemacht?«
»Och«, Magdalena nahm einen Kiesel und warf ihn zu den anderen ins Wasser, »ich war viel unterwegs, meistens kroch ich irgendwo in dem Schulgebäude rum, neben dem wir wohnten.«
»Wo dein Vater, äh, Großvater, Hausmeister war.«
Magdalena nickte, ohne Matteo anzusehen. »Aber ich habe auch stundenlang gelesen. Oben, an der Turmuhr, war ein guter Platz, kurz bevor sie die halben Stunden schlug, fing sie immer an zu surren, für mich, zur Warnung.«
»Ich glaube, du warst ganz mager und schon als kleines Mädchen eine unruhige Seele.« Magdalena schaute ihn wieder nicht an, sie fand es immer noch unangenehm, so viel über sich selbst zu reden.
»Ich habe meine Eltern nicht geschont«, sagte Matteo. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich unser Geschäft nicht übernehmen würde nach der Lehre.«
»Lehre als …?«
»Lehre als Elektriker, meine Eltern hatten ein Lampengeschäft, Toaster, Wasserkocher, Kleinkram. Bin dann nach Rom gegangen, in die Cinecittà. Irgendwann konnten meine Eltern mir aber doch verzeihen, denn ich habe meiner Mamma immer Autogramme mitgebracht. Die kannte die Schauspieler zwar meistens gar nicht, war aber trotzdem stolz.« Und da hast du auch Nina wieder getroffen, dachte Magdalena, davon magst du jetzt aber bestimmt nicht erzählen. Und ich mag auch nicht fragen!
Sie trank den letzten Rest Cola aus, krempelte ihre Hosen bis über die Knie und streifte ihre Segeltuchschuhe von den Füßen. Vorsichtig betastete sie ihren Knöchel, war er nicht schon etwas dicker als der andere? Sie stand auf und ging ein paar Schritte über die Kiesel in das erstaunlich warme, orange glitzernde Wasser. Schwankend überwand sie den ersten Meter und blieb dann auf den rutschigen Steinen stehen.
»Ach«, Matteo schlug sich mit der Hand gegen die Stirn, »das hätte ich ja beinah vergessen, darum sind wir ja überhaupt hier.« Er stand auf und zupfte ein paar Stücke von dem brotartigen Teig ab und warf sie direkt neben Magdalena ins Wasser.
»Was tust du?«, rief sie, doch dann merkte sie es schon, auf einmal wimmelte es neben ihr von Fischen, Mengen von Fischen, und das waren keine kleinen Stichlinge, wie sie sie früher manchmal im Buddenbach entdeckt hatte, sondern richtig ausgewachsene Brocken. Sie schnappten neben ihr nach dem Brot, wühlten die Wasseroberfläche auf, glitschten um ihre Beine und hatten überhaupt keine Angst vor ihr! Es waren mindestens zwanzig.
»He!«, lachte sie. »Was soll das denn werden, eine Fischmassage?« Kaum war das Brot alle, betupften die Fische mit ihren Mündern Magdalenas Haut.
»Die knabbern an mir herum!«, rief sie. Noch nie hatte sie so zarte Berührungen gespürt, es war schön, aber auch ein kleines bisschen eklig.
»Ich glaube, ich weiß, was ich jetzt tue«, rief sie Matteo zu und watete wieder aus dem Wasser, »Rudi soll mir am Telefon schwören, dass er definitiv nicht mehr weiß als das, was er mir bisher gesagt hat. Bei seinem Boxer-Ehrenwort, damit hat er mich früher immer drangekriegt, über dem albernen Boxer-Ehrenwort gab es nichts mehr! Wenn er sich weigert, drohe ich ihm, nie mehr zurückzukommen. Was hältst du davon!?«
»Telefonier ihm!« Matteo hielt ihr sein Handy hin. Magdalena lachte, sie würde »ihm« telefonieren!
Magdalenas Garten
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