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Er hat sie gekannt, er hat sich sogar an
ihre Stimme erinnert, sie soll meiner ganz ähnlich gewesen sein …
die Neuigkeiten zerplatzten förmlich in ihrem Gehirn und wollten
als Sätze hinaus. Doch der, für den Magdalena sie formuliert hatte,
während sie den Roller konzentriert über die Inselstraßen lenkte,
war nicht da. Stumm schüttelte sie die Piniennadeln aus der
Hängematte, ging unter den Zitronenbäumen auf die Mauer zu und
strich mit den Händen daran entlang. Die Steine waren unbearbeitet
übereinandergeschichtet worden und bildeten ein eigenwilliges
Muster. Sie suchte die beiden Vorsprünge, die Matteo ihr vor zwei
Tagen gezeigt hatte, und kletterte hinauf. Das Fenster zwischen den
Zweigen zeigte ein dunkelblaues Meer, der Horizont war diesig, die
Luft feucht, vielleicht würde es heute Abend noch regnen. Bei Regen
kamen nicht so viele Leute in die Bar, wäre gar nicht schlecht, mal
ein bisschen weniger zu laufen. Ihr Magen knurrte, sie hatte seit
Mittag nichts mehr gegessen, und jetzt war es schon halb sechs. Um
diese Zeit war Matteo doch immer im Zitronengarten anzutreffen, wo
steckte er bloß? Sie rutschte ein wenig auf der Mauer herum, um
eine bequemere Position für ihren Hintern zu finden, und schaute
hinunter. Der Schlauch lag ordentlich zusammengerollt neben dem
kleinen Holzschemel unter den Bäumen, die sich anscheinend gut
erholt hatten von der Chemotherapie.
Magdalena hatte sich im Internet ausführlich über auftretende
Schädlinge bei Zitruspflanzen informiert. Die geflügelten Tierchen,
weiße Fliegen genannt, und die Schmierläuse mit ihren Flocken waren
besiegt. Blätter, die immer noch dufteten, wenn man sie ein
bisschen rieb, Blüten, grüne und gelbe Zitronen, alles hatte
überlebt. Magdalena packte ihre Handtasche aus, vielleicht
versteckte sich wenigstens noch ein Kaugummi darin. Handy,
Portemonnaie, das Foto zwischen den Seiten eines dünnen
italienischen Krimis, den sie gerade las und sogar halbwegs
verstand, kein Kaugummi. Sie hatte Durst, aber oben in der Wohnung
war offenbar niemand, keines der Autos hatte unten in der Parkbucht
gestanden. Außerdem hatte sie auch keine besonders große Lust, auf
Nina zu treffen. Dann würde sie eben jetzt doch nach Hause fahren.
Magdalena zögerte, meine Güte, ohne Matteo konnte sie anscheinend
gar nichts mehr tun, ohne seine Hand konnte sie noch nicht mal mehr
von einer nicht allzu hohen Mauer springen! Sie sprang. Und knickte
prompt mit dem Fuß um. Typisch. Langsam humpelte sie zum Ausgang,
es ging bestimmt gleich wieder, es tat nur ein bisschen weh. Also
auf nach Hause. Roberto konnte sie natürlich nichts von ihrem
Nachmittag bei Antonello Pucciano berichten, sie hatte ihm ja noch
nicht einmal von ihrer Vatersuche erzählt. Als sie den Roller von
seinem Ständer schubste, hielt ein Auto vor dem POLO, jemand
stieg aus, das Auto fuhr wieder davon. Matteo! Er hielt eine große
Papiertüte in der Hand, sah sie, kam herüber und klopfte
freundschaftlich auf ihren Helm.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
»Und wie!«
»Komm, wir fahren runter an den Strand, la
Biodola, oder nein, noch besser, le Ghiaie«, er schaute
in den dunkel werdenden Himmel, dicke Wolken türmten sich über dem
Meer auf, »da ist es um diese Zeit einzigartig. Warst du schon mal
da?«
»Nein.« Le Ghiaie, allein der Name war
komisch auszusprechen, die Vokale klebten unter dem Gaumen.
»Was ist da so Besonderes, das ist ein
Kieselstrand, oder?«
»Ja. Vom Namen her scheint es so. Du
fährst.«
»Okay.« Magdalena ließ Matteo die Tüte im Sitz
verstauen und hinten auf dem Soziussitz Platz nehmen, sein Gewicht
brachte sie ein wenig ins Schwanken, doch während der Fahrt wurde
es besser. Als sie den Berg hinunterrollten, spürte sie ihn an
ihrem Rücken, er lehnte sich furchtlos mit ihr in die Kurven, gab
dem Roller mehr Schwung, mehr Bodenhaftung. Ein paarmal drehte
Magdalena den Kopf nach hinten, wollte anfangen zu erzählen, doch
dann verwarf sie die Idee wieder. Es erschien ihr nicht angemessen,
die Erkenntnisse des Nachmittags so in den Fahrtwind zu
schreien.
In Portoferraio bedeutete Matteo ihr, kurz vor dem
Fährhafen links abzufahren, und nach ein paar Hundert Metern
tauchte rechts das Meer auf. Sie stellten den Roller an einem
Rondell ab, Matteo nahm seine Tüte an sich, und dann standen sie
auch schon am Strand. Weiße Kiesel erstreckten sich längs der
weiten Bucht, die von zwei Felsvorsprüngen in die Zange genommen
wurde, Magdalena sah den Verlauf der Küstenlinie exakt auf einer
Karte vor sich. Die Sonne war hinter dem tief über dem Horizont
zusammengedrängten Wolkenband verschwunden. Sie nahm ihre
Sonnenbrille ab, die Kiesel blendeten trotz des seltsamen
Zwielichts, so weiß waren sie, dabei gefleckt wie Vogeleier. Sie
setzte die Sonnenbrille wieder auf und ging etwas wackelig über die
runden Steine, die unter ihren Füßen wegzuglitschen schienen, der
Knöchel tat noch weh. Das Wasser war dunkel, aber dennoch klar, die
meisten Menschen um sie herum packten bereits Decken, Handtücher
und Kühltaschen zusammen und brachen auf. Zwei Meter vom Wasser
entfernt fragte Matteo: »Hier?« Magdalena
nickte. Vorsichtig ließ sie sich auf den glatt geschliffenen
Kieseln nieder. Matteo reichte ihr das erste von zwei in Servietten
eingewickelten Päckchen, »da, iss!«, dann holte er zwei kleine
Flaschen Cola aus der Tüte. Magdalenas Magen knurrte voll wütender
Vorfreude. Sie wickelte die Servietten ab, bis eine
schiaccina zum Vorschein kam, mit weit geöffnetem Mund biss
sie in die Teigplatten, zwischen denen sich roher Schinken,
Mozzarella, Rucola und Tomaten schichteten. Der Geschmack
explodierte in ihrem Mund, gierig verschlang sie den Bissen, sie
stöhnte: »Mann, das ist echt köstlich, wie machen die Elbaner das
bloß?«, und wischte sich mit einer Serviette einen Klecks
Mayonnaise vom Kinn. Von dem ersten Schluck Cola brusselte die
Kohlensäure schmerzhaft in ihrer Speiseröhre.
»Jetzt würde ich gerne ganz laut rülpsen!«
»Tu’s doch.« Sie rülpste. Er betrachtete sie
nachdenklich. »Das hätte ein italienisches Mädchen wohl kaum besser
gemacht.« Magdalena zuckte mit den Schultern, sie grinsten sich an.
Sie trank noch einmal, nun bekam sie Schluckauf.
»Dio«, sagte Matteo, »kannst du sonst noch
was?«
»Ja, meine Zunge verdrehen, willst du es sehen?« Er
wollte. Unterbrochen von ein paar Hicksern, zeigte sie ihm, wie
sich ihre Zungenspitze im Mund fast einmal um sich selbst drehen
konnte, im Gegenzug demonstrierte er ihr, dass er seinen Daumen bis
an den Ellenbogen biegen konnte. Es sah gruselig aus, aber
Magdalena war beeindruckt.
»Matteo«, sagte sie, immer noch hicksend, »ich habe
dich doch neulich nach diesem Stiefel-Lied gefragt, das von
Antonello Pucciano!« Wie schon vor ein paar Tagen in der Diskothek
sang Matteo die erste Strophe sogleich mit gespielter Inbrunst.
Jeder kennt das Lied in- und auswendig, dachte Magdalena stolz, und
Antonellos große Liebe zu dem weißblonden
Norweger ist auch nach Jahren noch herauszuhören, sogar in dieser
Parodie von Matteo …
Sie erzählte ihm, was sie im Haus von Antonello, an
seinem Krankenlager sitzend, erfahren hatte.
»Unglaublich«, murmelte Matteo, seine
schiaccina war immer noch unberührt, »unglaublich!«
»Den Jungen auf dem Foto kannte er auch, er soll
Paolo heißen, na ja, er oder sein Freund, daran konnte Antonello
sich nicht mehr so genau erinnern. Sie waren immer zu dritt
unterwegs, die Jungs kamen jedenfalls beide aus Livorno!«
»Was bedeutet das jetzt für dich?«
»Was das bedeutet? Dass ich ihn fast gefunden
habe!«
»Genau, jetzt musst du nur noch einen Paolo aus
Livorno finden …«
»Ach verdammt, Matteo, sei doch nicht so
pessimistisch. Antonello hat meine Mutter gekannt, er hat oft mit
ihr geredet und gesagt, dass meine Stimme genauso klingt wie ihre
damals!« Endlich hatte der Satz seinen Weg aus ihr heraus gefunden.
Sie schniefte und hickste in kurzen Abständen, es hörte sich
grauenhaft an.
Matteo schaute sie mitfühlend an. »Ein Paolo, ein
Paolo aus Livorno also«, murmelte er, »auch wenn er hier gearbeitet
haben sollte, ist er nach dem Sommer bestimmt wieder
zurückgegangen. Im Winter gibt es nur sehr wenig Arbeit auf der
Insel. War deine Mamma vielleicht später noch mal hier?«
»Könnte sein.«
»Das ist es! Das ist der Punkt, von
dem es für uns losgeht!«
Für uns? Magdalena schaute ihn überrascht an, der
Schluckauf setzte aus.
»Im Winter«, fuhr Matteo fort und machte eine
bedeutsame Pause, bevor er weitersprach, »im Winter gibt es auf
Elba nur sehr wenige Gäste von außerhalb, man wird sich viel eher
an
deine Mamma erinnern! Wenn die beiden Jungs auch noch hier waren
und sie schon schwanger mit sichtbarem Bäuchlein … So eine
Dreiertruppe behält man doch eher im Kopf.«
Magdalena schaute ihn an und nickte. Jetzt endlich
biss auch er in seine schiaccina. Die Sonne, die sich bisher
vergeblich einen Weg durch die Wolkenberge gesucht hatte, brach
jetzt an einzelnen Stellen durch, das Meer, die Kiesel, alles wurde
mit einer orangefarbenen Lasur aus Licht übergossen. Gleich würde
sie hinter den Bergen verschwinden, um später als roter Ball im
Westen der Insel vor Pomonte im Meer zu versinken.
»Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?«
»Ruf deinen Rodolfo-Opa an, ob er nicht mehr weiß!
Zum Beispiel, ob sie noch mal auf Elba war und in welchem
Ort.«
»Er redet nicht darüber.«
»Na ja, das kann man sogar verstehen. Aber nun muss
es halt sein! Denn sein Schmerz ist nicht dein
Schmerz. Er hat die Tochter verloren, die er zwanzig Jahre lang
aufwachsen sah, du die Mamma, an die du dich nicht erinnerst. Sag
ihm, dass diese Vatergeschichte extrem wichtig für dich ist!«
Extrem wichtig für mich, wiederholte Magdalena in Gedanken und
hörte mit einem Mal, wie laut die Steine kollerten, die von den
kleinen Brandungswellen mitgerissen wurden. Vor und zurück. Vor und
zurück. Sie konnten da nicht raus.
»Ich habe sie zu Hause immer mit diesem Thema
verschont. Und als meine Oma starb, erst recht.«
»Weil es ihm wehtat? Dir doch aber auch!«
»Aber ich wollte ihnen nicht noch mehr zur Last
fallen.«
»Haben sie dir das gesagt!? Dass du ihnen zur
Last fällst?« Matteo sah aus, als ob er gleich jemanden
schlagen wollte.
»Nein, niemals, aber eine Nachbarin hat mal gesagt,
ich würde meinen Großeltern das Leben schwer machen, ich sei ein
unbändiges Kind! Diesen Spruch habe ich nie vergessen.«
»Unbändig? Das hätte ich gerne gesehen!« Matteo
grinste. »Wie warst du denn so? Was hast du den ganzen Tag
gemacht?«
»Och«, Magdalena nahm einen Kiesel und warf ihn zu
den anderen ins Wasser, »ich war viel unterwegs, meistens kroch ich
irgendwo in dem Schulgebäude rum, neben dem wir wohnten.«
»Wo dein Vater, äh, Großvater, Hausmeister
war.«
Magdalena nickte, ohne Matteo anzusehen. »Aber ich
habe auch stundenlang gelesen. Oben, an der Turmuhr, war ein guter
Platz, kurz bevor sie die halben Stunden schlug, fing sie immer an
zu surren, für mich, zur Warnung.«
»Ich glaube, du warst ganz mager und schon als
kleines Mädchen eine unruhige Seele.« Magdalena schaute ihn wieder
nicht an, sie fand es immer noch unangenehm, so viel über sich
selbst zu reden.
»Ich habe meine Eltern nicht geschont«, sagte
Matteo. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich unser Geschäft nicht
übernehmen würde nach der Lehre.«
»Lehre als …?«
»Lehre als Elektriker, meine Eltern hatten ein
Lampengeschäft, Toaster, Wasserkocher, Kleinkram. Bin dann nach Rom
gegangen, in die Cinecittà. Irgendwann konnten meine Eltern
mir aber doch verzeihen, denn ich habe meiner Mamma immer
Autogramme mitgebracht. Die kannte die Schauspieler zwar meistens
gar nicht, war aber trotzdem stolz.« Und da hast du auch Nina
wieder getroffen, dachte Magdalena, davon magst du jetzt aber
bestimmt nicht erzählen. Und ich mag auch nicht fragen!
Sie trank den letzten Rest Cola aus, krempelte ihre
Hosen bis über die Knie und streifte ihre Segeltuchschuhe von den
Füßen. Vorsichtig betastete sie ihren Knöchel, war er nicht schon
etwas dicker als der andere? Sie stand auf und ging ein paar
Schritte über die Kiesel in das erstaunlich warme, orange
glitzernde
Wasser. Schwankend überwand sie den ersten Meter und blieb dann
auf den rutschigen Steinen stehen.
»Ach«, Matteo schlug sich mit der Hand gegen die
Stirn, »das hätte ich ja beinah vergessen, darum sind wir ja
überhaupt hier.« Er stand auf und zupfte ein paar Stücke von dem
brotartigen Teig ab und warf sie direkt neben Magdalena ins
Wasser.
»Was tust du?«, rief sie, doch dann merkte sie es
schon, auf einmal wimmelte es neben ihr von Fischen, Mengen von
Fischen, und das waren keine kleinen Stichlinge, wie sie sie früher
manchmal im Buddenbach entdeckt hatte, sondern richtig
ausgewachsene Brocken. Sie schnappten neben ihr nach dem Brot,
wühlten die Wasseroberfläche auf, glitschten um ihre Beine und
hatten überhaupt keine Angst vor ihr! Es waren mindestens
zwanzig.
»He!«, lachte sie. »Was soll das denn werden, eine
Fischmassage?« Kaum war das Brot alle, betupften die Fische mit
ihren Mündern Magdalenas Haut.
»Die knabbern an mir herum!«, rief sie. Noch nie
hatte sie so zarte Berührungen gespürt, es war schön, aber auch ein
kleines bisschen eklig.
»Ich glaube, ich weiß, was ich jetzt tue«, rief sie
Matteo zu und watete wieder aus dem Wasser, »Rudi soll mir am
Telefon schwören, dass er definitiv nicht mehr weiß als das, was er
mir bisher gesagt hat. Bei seinem Boxer-Ehrenwort, damit hat er
mich früher immer drangekriegt, über dem albernen Boxer-Ehrenwort
gab es nichts mehr! Wenn er sich weigert, drohe ich ihm, nie mehr
zurückzukommen. Was hältst du davon!?«
»Telefonier ihm!« Matteo hielt ihr sein Handy hin.
Magdalena lachte, sie würde »ihm« telefonieren!