2
Auf dem Rückweg vom Krankenhaus schaukelten sie erneut durch die Kurven, diesmal bergauf, der Lada-Jeep wirkte auch von innen nicht besonders modern oder schnittig und hatte auch keine guten Stoßdämpfer. Magdalena tat alles weh: ihr Kopf, ihre Pobacke, in die der Arzt seine Spritze gejagt hatte, ja selbst das Atmen. Sie strich das OP-Hemd glatt, das sie sich wie einen Rock um die Hüften geknotet hatte, ein angenehm luftiges Gefühl, dachte sie, vielleicht sollte ich doch irgendwann mal ein Kleid tragen. Den hilfsbereiten Rollerfahrer hatten sie gleich dabehalten, er hieß Giorgio und hatte sich Schienbein und Handgelenk gebrochen. Sie aber hatte der Arzt mit einer leichten Gehirnerschütterung, ohne Hosen und mit einem dick mit Mullbinden und Leukoplast verpackten Bein entlassen.
»Ihr habt Glück gehabt! Hättet ja auch unter ein entgegenkommendes Fahrzeug geraten können.« Matteo trommelte mit beiden Händen auf das Lenkrad und haute kurz auf die Hupe, als ihm ein Cinquecento weit auf seiner Fahrbahn entgegenkam. Wieder sah sie auf seinen Nacken, der gut zu erkennen war und nicht wie bei einigen Bodybuildern vor lauter Muskelsträngen zwischen Kopf und Schultern verschwand. Sein schwarzes Haar wurde an einigen Stellen schon etwas dünn.
»Es ist doch gar nicht viel passiert«, meinte Nina, die neben ihm saß und ermunternd zu Magdalena nach hinten schaute.
»Na ja, wenn du meinst«, murmelte Matteo. Ob sie sich sonst wohl auf Italienisch unterhalten und nur meinetwegen dieses seltsam gesungene Deutsch sprechen?, fragte sich Magdalena. Immer weiter ging es den Berg hinauf, die Kurven waren eng, fast streiften sie die gelb blühenden Hängepflanzen und die ohrenförmigen Auswüchse der Kakteen.
»Dieser Dottore Gavassa, wie der dich angeschaut hat, Nannini!«
»Ach, Matteo, der hat geschaut wie alle
»Ja eben! Er hat dich ja schon mit den Augen ausgezogen!«, knurrte er.
»Ohne ihn wären wir nicht schon wieder draußen. Wir haben noch nicht mal eine Stunde gebraucht, das war rekordverdächtig.« Nina wandte sich an Magdalena. »Jetzt finden wir erst mal deine Tasche. Und wohin sollen wir dich danach bringen? In welchem Hotel wohnt deine Reisegruppe?«
Matteo fuhr rasant in eine Linkskurve, Magdalena presste die Lippen zusammen und klammerte sich noch stärker an den Griff über der Tür. Sie wollte nicht mehr weinen, ihre Augen waren von ihrem Tränenausbruch in der Parkbucht noch geschwollen.
»Elba war nur ein Tagesausflug, unser Hotel ist in Forte dei Marmi, oben an der Versilia-Küste, dahin müssen wir noch heute Abend zurück. Der Bus fährt in einer knappen Stunde wieder auf die Fähre, also eigentlich in fünfzig Minuten. Schaffen wir das?« Matteos »mhmm« konnte alles bedeuten, Magdalena sagte lieber nichts mehr, sondern schaute aus dem Fenster auf die Bucht, die rechts unter ihnen zu sehen war.
 
Die Straße wurde eben, nach hundert Metern begann die schmutzig gelbe Mauer des Nachtclubs. Matteo lenkte den Wagen in die Parkbucht, machte den Motor aus und zog mit einem Ruck die Handbremse an.
»Willkommen hier oben bei uns im POLO!«, sagte er leise. Steifbeinig stieg sie aus. Der Motorroller stand nun an die Mauer gelehnt, wie Magdalena hatte auch er tiefe Schürfwunden davongetragen. Sie suchten alles ab, gingen am Straßenrand entlang, durchkämmten die abfallende Böschung und spähten in die Kronen der Bäume, die sich unter ihnen zu einem dichten grünen Teppich verbanden, doch ihre Tasche blieb unauffindbar.
»Warum muss die auch unbedingt grün sein?«, stöhnte Nina.
»Um genau zu sein: ein dunkles Flaschengrün«, sagte Magdalena.
»Ich habe eine Idee!« Begeistert klatschte Nina in die Hände. »Wir telefonieren dich einfach an, dann hören wir es klingeln!« Sie ließ sich von Magdalena die Nummer diktieren, dann gingen sie beide auf Zehenspitzen an der Mauer entlang und lauschten mit vorgereckten Köpfen: nichts.
»Ach«, Magdalena griff sich an die Stirn und entdeckte dabei die Beule wieder, die von dem Zusammenprall mit Giorgios Helm stammte, »das geht ja gar nicht, der Akku ist leer!« Nina streckte ihr ihr eigenes Handy entgegen. »Möchtest du jemanden anrufen?« Magdalena schüttelte den Kopf, sie wusste Stefans Nummer nicht auswendig.
»Ich muss die Tasche wiederhaben, ohne das Foto kann ich nicht gehen!«
Durch die Bäume drang kaum Licht auf den Boden. Magdalena starrte verzweifelt hinab - die staubig riechende Finsternis würde ihre Tasche nie freiwillig wieder hergeben. Natürlich hatte sie zu Hause Kopien von dem Foto, in ihrem Computer hatte sie es immer weiter vergrößert und vergeblich nach Details im Hintergrund durchleuchtet, aber das sagte sie nicht. Sie war plötzlich überzeugt, sie würde ihn niemals finden, wenn sie das Foto dort unten zwischen den Bäumen verloren gab. Sie suchten weiter.
»Ich steig’ runter!« Matteo ließ sich in das Dickicht herab. Er krallte sich an den Büschen und Bäumen fest, doch Sekunden später brach einer der Äste mit lautem Knacken, und er rutschte auf der vertrockneten Laubschicht einige Meter tiefer außer Sichtweite. Sie hörten ihn fluchen. Dann Stille. Kurze Zeit später kam er das steile Gefälle auf allen vieren wieder hochgeklettert. Schwer atmend zog er sich über die Mauer.
»Unmöglich. Wenn sie da runtergekugelt ist, werden wir sie kaum finden, jedenfalls nicht mehr heute. Das ist nicht unbedingt hell da drin, und draußen wird es auch bald dunkel.« Das Deutsch von Matteo war noch komischer als Ninas, eine Weile klang es ganz normal, bis er eins seiner lustigen Worte benutzte, das nicht passte. Matteo zeigte zum Himmel, wie um zu beweisen, dass die Sonne bereits hinter dem Berg verschwunden war.
»Das heißt also, die Tasche ist weg, für immer.«
Nina streichelte beruhigend Magdalenas Arm.
»Nein, nein! Wir finden sie!« Matteo zupfte an seinem T-Shirt und rieb an einem moosigen Fleck herum.
»Was ist da schon drin? Geld, EC-Karte, Handy, Ausweis? Kann man alles ersetzen.«
Magdalena schüttelte den Kopf und ließ sich mit abgespreiztem Bein langsam auf der Mauer neben der Mohnblume nieder.»In der Tasche ist das einzige Foto von meiner Mutter, das hier auf Elba aufgenommen wurde! Unten im Restaurant Alla mezza Fortuna, vor dem Napoleon-Wandbild.«
»Ah«, sagte Matteo, »qui Napoleone il grande non ha mai mangiato.«
»Genau das!«
»Touristenkram«, brummte Matteo.
»Nun lass sie halt erzählen! Matteo, du bist echt lästig heute«, rief Nina.
»Stimmt, Touristenkram«, sagte Magdalena. »Aber doch ganz lustig, weil überall sonst auf der Insel angeschlagen steht, hier hat er gesessen, diesen Brunnen hat er gebaut, diese Bäume gepflanzt. Die Leute lieben das, sie haben sich gegenseitig vor dem Schild fotografiert.«
»Du warst also schon oft auf Elba«, stellte Nina fest.
»Nein, heute das erste Mal, für einen Tag.«
Elba an einem Tag, Palermo an einem Tag, ganz Italien an einem Tag, je schneller, desto besser. Es hatte außer dem Foto keinen Anhaltspunkt gegeben, sie hatte irgendwo mit ihrer Suche anfangen müssen. Ob im Norden oder im Süden, ganz egal. Die Restaurants interessierten sie, besonders die Beschaffenheit der Wände, beim Anblick von rot-weiß karierten Tischdecken wurden ihre Hände feucht. Das Land war voll davon. Was sie auf den hastigen Städtetouren nicht mitbekam, holte Magdalena sich aus ihren Reiseführern, die sie verschlang wie andere Leute Krimis. Geschichtliche Jahreszahlen, Ortsnamen, Sehenswürdigkeiten und Rubriken wie Kultur & Kulinarisches blieben ohne Anstrengung in ihrem Gehirn haften.
»Diese Touren eben, ach, ihr wisst ja.« Magdalena biss die Zähne zusammen, schon wieder war ihr nach Weinen zumute, anscheinend war sie völlig durcheinander.
»Also ganz ruhig, piano, piano«, beschwichtigte Nina sie. »Warum bleibst du nicht bis morgen, wir suchen in Ruhe noch mal den ganzen Urwald hier ab, und dann fährst du deiner Gruppe hinterher. Was ist das überhaupt für ein G’schäft, und wo sind die denn jetzt? Warten die nicht schon auf dich?«
»Die Firma heißt Treva-Touristik, der Busfahrer Stefan Glink, er macht immer Witze, um die Gruppe bei Laune zu halten.«
»Treva-Touristik, Busfahrer, Stefan Glink«, wiederholte Nina, als ob sie herausfinden wollte, welche Sprache Magdalena spräche. »Na, der macht sich doch bestimmt fürchterliche Sorgen, dass du nicht kommst. Los, telefonier ihn an!« Wieder hielt sie ihr das Handy vor das Gesicht. Aber Magdalena schüttelte den Kopf und wischte sich ihre Nase mit dem Handrücken ab. Das Taschentuch von Nina hatte sie irgendwo im Krankenhaus verloren.
»Soll der sich doch Sorgen machen, der hat mich vergessen, ist einfach ohne mich weggefahren!«
Matteo sah sie an und nickte, als ob er Stefan gut verstehen könnte.
»Vielleicht, weil ich ein paar Minuten zu spät war. Ich … ich habe nach jemandem gesucht.«
»Aber was machen die jetzt ohne dich, als Reiseleiterin?«
»Ich bin keine Reiseleiterin«, wehrte Magdalena ab, »ich fahre nur im Bus mit, zähle zehnmal am Tag die Gäste durch, damit wir keinen verlieren, koche Kaffee, schmiere Brötchen und mache Gulaschsuppe in der Mikrowelle warm.«
Auf dem Tagesausflug nach Elba hatte sie außerdem die Tickets für die Überfahrt im Hafenbüro in Piombino kaufen und die Gruppe durch die große Verladeluke auf die Fähre führen müssen, wo sie aufgescheucht umherirrte, bis jeder ein Plätzchen auf dem Sonnendeck gefunden hatte. Am Hafen von Portoferraio hatte dann die deutsche Reiseleiterin auf sie gewartet. Eine braun gebrannte Susanne, die jeden zweiten Satz mit »ja, meine lieben Herrschaften, sehen Sie mal genau hin« begann. Auch bei Panoramafahrten durch das Tiroler Land oder an der sizilianischen Küste entlang kamen Reiseleiterinnen an Bord. Sie saßen vorne beim Busfahrer auf dem drehbaren Beifahrersitz mit dem Mikrofon in der Hand und trugen den Gästen im oberen Stock die Geschichte des Landes vor. »Stefan hat ja Resi an Bord, die Neue, die ich gerade einarbeite. Die kann schon alles, was sie als Bord-Stewardess können muss.«
Resi war mindestens zwanzig Jahre älter als sie und hatte vorher in einem Café gearbeitet. Bereits beim Beladen des Busses hatte sie die kleinen Mineralwasserflaschen geschickt einsortiert (mit Kohlensäure, ohne Kohlensäure, gekühlt, ungekühlt) und die Schränke und Hohlräume unter den Bänken vorher ganz ohne Aufforderung mit einem feuchten Lappen ausgewischt. Sie plauderte gern mit den Gästen, kannte schon bald einige Vornamen und hatte sogar einen selbst gebackenen Käsekuchen dabei, der am ersten Tag der Fahrt schon kurz hinter Düsseldorf für 1,20 Euro pro Stück verkauft war. Sie hatten sich mit einem kleinen Augenverdreher zugelächelt, als Stefan mit seinem Spruch »oben reisen, unten speisen« auf den ersten Metern der Autobahn kurz hinter Rheine die Vorzüge des Bordbistro-Busses anpries. Resi würde Stefan nicht hängen lassen.
»Bord-Stewardess! So nennt man euch?«, fragte Nina und ließ sich das Wort noch einmal auf der Zunge zergehen. Bei ihr klang es lustig, wie alles, was sie sagte.
»Und dazu die schönen Uniformen … wie eine Schaffnerin schaust du darin aus, leider ist nur noch die Hälfte erhalten.«
Magdalena nestelte an ihrer blau-rot gestreiften Weste herum und stellte fest, dass das weiße T-Shirt darunter an der linken Schulter dreckig und aufgescheuert war.
»Ich mache den Job ja nur ein paar Wochen im Jahr. Viele tragen die Uniform nur am Anreisetag und wenn es dann wieder zurückgeht. Sie ist nicht wirklich schön, aber eine Sache ist praktisch daran, so weiß ich wenigstens jeden Morgen, was ich anziehen soll.« Sie zog den OP-Kittel, der luftig um ihre Schenkel flatterte, ein bisschen weiter nach unten.
»Also gut, dann ist ja alles klar, du bleibst eine Nacht hier bei uns, und morgen fährst du schön gemütlich mit der Fähre und dem Zug deiner Gruppe hinterher nach Forte dei Marmi.«
»Das dauert Stunden, Nannini!«
»Ich weiß, aber wenn sie doch ohne ihre Tasche nicht fortkann.«
»Ohne das Foto!« Magdalena zog die Nase hoch. »Ich muss es einfach wiederhaben!« Abrupt stand sie auf, aber der Boden unter ihr schien Wellen zu haben, ihr wurde schwindelig, und das Gesicht von Matteo rutschte in den Himmel. Sie spürte seine hartgummiartigen Oberarme unter ihrem Kopf.
»Wir bringen sie hoch zu uns«, bestimmte Nina. Ihr Ton kam von weit her, duldete aber keine Widerrede.
»Zumindest die schönste Pflanze, die du in letzter Zeit gepflegt hast«, sagte Matteo. »Die andere ist ja auch gerade erst fort.« Was für Pflanzen?, dachte Magdalena. Ich mag Pflanzen. Matteos tiefe Stimme brummte angenehm an ihrem Rücken, sie konnte blaue Himmelsdreiecke durch die Zweige der Pinienkronen sehen. Immer mehr Stufen, es ging höher und höher. Sie schloss die Augen, es war ihr gleichgültig, wohin sie sie brachten. Matteo brummte weiter, jetzt auf Italienisch, sie hörte ihn schnaufen und Ninas Stimme hell zwitschern. Eine Tür wurde aufgestoßen, sie war so müde.
 
Als Magdalena die Augen aufschlug, lag sie auf einem Bett und blickte an die Zimmerdecke über sich. Ihr Mund lächelte noch über einen sich gerade verflüchtigenden Traum, als ihr ein Schreckensstoß in die Eingeweide fuhr und sie sich wieder erinnerte: an den Roller und die Fahrt auf der Bergstraße, das Auto von unten, an Nina und ihren kräftigen Freund, den Arzt im Krankenhaus und ihre Reisegruppe, die seit 18.00 Uhr an der Fähre auf sie wartete! Magdalena setzte sich auf, prompt meldete ihr linkes Bein sich mit einer Schmerzensfanfare, die ihr bis unter die Schädeldecke schoss. O verdammt, wie viel Uhr mochte es sein, Stefan und Resi mussten inzwischen gemerkt haben, dass ihr Zuspätkommen einen ernsthaften Grund hatte. Ließen sie die elbanische Polizei schon die Insel nach ihr absuchen? Sie musste Stefan sofort anrufen!
Aber was soll ich ihm sagen, wo ich bin?, dachte sie. Ohne den Kopf allzu viel zu bewegen, ließ Magdalena sich auf das Kissen zurücksinken. Obwohl es in dem Zimmer dämmrig war, konnte sie in dem grünlichen Licht, das durch die Fensterläden links von ihr sickerte, erkennen, dass alles um sie herum weiß war: die Wände, die Decke, auch das Laken, das ihren Körper bedeckte. Hinter der Tür hörte sie gedämpfte Stimmen. Als sie das Laken anhob, sah sie ihr linkes Bein wie ein gut verschnürtes Paket darunterliegen. Dumpf puckerte der Schmerz darin, und sie wagte nicht, den Verband zu berühren. Außerdem trug sie nichts weiter am Leib als ihre Unterwäsche - einen nicht gerade neuen Schlüpfer in Hellblau und einen angegrauten Sport-BH, den sie schon längst hatte aussortieren wollen.
Zieh immer deine beste Unterwäsche an, wenn du in die Stadt gehst. Falls dir etwas passiert und du ins Krankenhaus kommst, musst du dich wenigstens nicht schämen. Ein Spruch von Oma Witta, die sie leider viel zu früh mit der Erinnerung an ihre guten Ratschläge allein gelassen hatte. Wer hat mich denn ausgezogen?, überlegte Magdalena. Nina vermutlich, hoffentlich hat sie vorher ihren Leibwächter aus dem Zimmer geschickt.
Magdalena war immer noch schwindelig, mit einer langsamen Drehung des Kopfes schaute sie sich um. Das Zimmer war winzig, das Fußende des Bettes stieß beinah schon an die Tür, an den Wänden hing kein einziges Bild, nicht einmal einen Nagel konnte sie entdecken. Dafür blieb ihr Blick an einem Kleiderschrank ohne Türen hängen, in dem sich bunte Kleidungsstücke auf ihren Bügeln aneinanderpressten, einige waren halb herausgezogen, schief, wie Vogelscheuchen. Vorsichtig richtete sie sich auf und knipste die kleine Nachttischlampe an, die auf einer Apfelsinenkiste neben dem Bett stand. Himmel, wie viele Klamotten! Wahrscheinlich war Nina eines dieser anstrengenden Gucci-Modepüppchen. Aber ein sehr nettes Modepüppchen, immerhin hatte sie einer wildfremden Person ihr Bett überlassen. In ihrem Kopf begann Magdalena die Kleidungsstücke nach Farben zu ordnen, alles Weiße nach links, dahinter die beigefarbenen Teile, die beiden gelben gehörten daneben, dann die hellorange Jacke, oder was immer das auch war, jetzt das dunklere Orange, als Nachbarin bekam es die karmesinrote Bluse mit den Flamencorüschen. Nur mit einiger Anstrengung konnte Magdalena ihr Hirn davon abhalten, den Berg Schuhe, der auf dem Boden lag, in der gleichen Weise zu sortieren. Zu Hause hatte sie die Buchrücken in allen Bücherregalen und auch die Shampoo- und Duschgelflaschen im Bad harmonisch nach Farben angeordnet. Opa Rudolf ließ sie gewähren, angeblich hatte sie schon als Dreijährige im Kindergarten die Jacken auf diese Weise sortiert und durcheinandergebracht.
Es klopfte an der Tür. Nina schob sich durch den schmalen Spalt, den das Bett ihr ließ, ins Zimmer. Sie umtänzelte das Schuhgebirge auf dem Boden und stellte einen Teller auf der Nachttischkiste ab. Magdalena blinzelte in das Zahnlückenlächeln, Nina war wunderschön.
»Wie geht es dir?«, flüsterte sie jetzt, wartete Magdalenas Antwort aber gar nicht ab. Ihr Anblick schien sie zu überzeugen, denn mit kräftigerer Stimme fuhr sie fort: »Ricotta-Spinat-Ravioli mit etwas zerlassener Butter, das Einzige, was Mikki einkauft, aber damit kennt er sich aus. Er kommt aus der Emilia-Romagna, dort sind die Weltmeister der Teigtaschen.«
Magdalena nickte stumm. Nina war so lieb zu ihr - warum eigentlich?
»Mikki ist unser DJ. Dünn wie ein Spargeltarzan, immer bekifft und immer hungrig.« Sie reichte Magdalena die Gabel. »Kannst du ruhig essen.« Magdalena aß, aber nicht ruhig, es duftete einfach zu köstlich. Gierig schob sie sich eine der Taschen in den Mund und bemühte sich dann, wenigstens gesittet zu kauen.
»Hast du denjenigen eigentlich gefunden?«
»Bitte?!« Der Bissen blieb Magdalena auf halbem Weg in der Speiseröhre stecken.
»Du hast heute Nachmittag gesagt, du wolltest jemanden suchen. Und, hast du ihn oder sie gefunden?«
Sie schluckte: »Nein. Es war schwieriger, als ich dachte. Aber ich muss unbedingt Stefan Bescheid sagen, wo ich bin. Verdammt, ich kann noch nicht mal seine Nummer auswendig …!«
»Alles schon passiert!«, unterbrach sie Nina. »Schöne Grüße und gute Besserung von der Treva-Geschäftsleitung!« Sie lachte: »Die sind ja wirklich schnell. Noch während meines Anrufs haben sie ihn am Handy gehabt. Er weiß also Bescheid, war mit dem Bus bereits auf der Fähre. Und du sollst einen gelben, grünen, weißen Schein, irgend so einen Schein eben, vom Spital mitbringen, haben die gesagt, für die Versicherung.«
»Aber? Woher weißt du …?«
Wieder unterbrach Nina sie: »Ich habe die Treva-Touristik gegoogelt, da angerufen, von deinem Unfall erzählt und nach Stefan Glink gefragt. Sie haben mir sogar seine Telefonnummer gegeben, aber dieses Gespräch solltest du vielleicht lieber selbst führen …« Ihr Blick wanderte von Magdalenas Gesicht zu dem verpackten Bein, das sich wie die dickere von zwei großen Würsten unter dem Laken abzeichnete.
»Tut noch weh, oder?« Magdalena nickte mit vollem Mund. Nina stemmte die Hände resolut wie eine Krankenschwester in ihre schmalen Hüften und rief mit verstellter Stimme: »Alkohol, Kind, du brauchst deine Tabletten und Alkohol, bin gleich wieder da.« Sie legte ihr Handy neben Magdalenas Bein ab und verließ das Zimmer.
Nun erst recht hungrig, spießte Magdalena die nächste buttrig glänzende Teigtasche auf, und während sie hinter der Tür Gelächter hörte und der süßliche Geruch von angebratenen Zwiebeln darunter hindurchzog, wurde ihr klar, dass sie nicht Stefan, sondern ihren Großvater Rudolf anrufen wollte. Sie tippte seine Nummer ein und wartete, aber Opa Rudi war nicht da. Natürlich nicht, es war ja Donnerstag, da gab er sein berüchtigtes »sanftes« Boxtraining, ebenso wie am Montag, und auch der Rest der Woche lief bei ihm nach einem unumstößlichen Plan ab. Magdalena holte tief Luft, als sie ihre eigene Ansage auf dem Anrufbeantworter hörte, »Guten Tag, wir sind im Moment nicht zu Hause …« Mensch, Rudolf, wollte sie am liebsten schreien, du musst doch von Elba gewusst haben, du musst gewusst haben, dass es hier passiert ist. Warum hast du nie etwas gesagt, wenn ich dich danach gefragt habe? Doch ihr fehlten mit einem Mal die Worte, und sie stotterte nur etwas von ihrem verlorenen Handy, der verpassten Fähre und dem Plan, am nächsten Tag dem Bus mit dem Zug hinterherzufahren. »Morgen früh rufe ich dich an, und am Sonntagabend bin ich ja schon wieder zu Hause. Bis dann.« Sie legte auf. Wunderbar, sie hatte es wieder einmal geschafft, Italien aus ihrem Telefonat auszuklammern - keine Ortsnamen, keine italienischen Begriffe, sie befand sich in einem Niemandsland, das sie vor ihrem Großvater nicht erwähnte.
So, und weil es so großartig lief, könnte sie doch bei Florian gleich weitermachen mit dem Lügen. Aber nein, keine Nachricht für Florian. Sie hatten sich für den Zeitraum von einer Woche ein SMS-Verbot auferlegt, Funkstille, eine Pause zum Überlegen für sie beide. Florian hatte sich bis jetzt auch daran gehalten, und irgendwie kränkte sie das. Sie hätte ihm sofort zurückgeschrieben. In was für einen Schlamassel war sie da nur reingeraten. Sie war so verdammt schwach, was Männer anging. Aber die haben selbst Schuld, dachte sie zum tausendsten Mal. Ihre Freundin Sandra hatte sich bei ihr ein ganzes Jahr lang über ihren Freund Florian ausgeheult, und Florian wiederum beschwerte sich bei ihr über Sandra. Magdalena hörte zu, erteilte Ratschläge, kicherte und schimpfte mit Sandra über alle Männer, während sie Red Bull mit Wodka tranken, und wurde mit Florian an seinem Küchentisch bei Southern Comfort still und schwermütig. Am Ende dieses Jahres stellte sie fest, dass sie Southern Comfort wesentlich lieber mochte als Red Bull, dass Florian ziemlich gut küssen konnte und sie zu solch ehrlosen Handlungen tatsächlich fähig war. Sie rief Sandra immer seltener an und schämte sich nun schon seit zehn Monaten für ihre Affäre. So konnte es einfach nicht weitergehen.
 
Nina kam mit einer Tablettenschachtel, einem Glas und einer Rotweinflasche zurück. Das hatte sie also mit Alkohol gemeint. Magdalena hatte schon befürchtet, sie wollte ihre Schürfwunden mit einem Wattebausch und irgendeiner brennenden Flüssigkeit behandeln - eine Vorstellung, die ihr Bein sogleich noch stärker hatte schmerzen lassen.
»Trink!« Nina goss ihr ein. Magdalena nahm einen Schluck und spürte, wie der Rotwein warm ihre Kehle hinunterrann.
»Und hier, die zwei nimmst du noch, dann kannst du gut schlafen. Das ist doch alles Quatsch, von wegen keine Tabletten mit Alkohol … grad dann kommen die gut!« Magdalena spülte die beiden grünen Pillen widerspruchslos mit einem weiteren Schluck Wein hinunter.
»Also?« Die Hände locker an der rechten Hüfte ineinanderverschränkt, lehnte Nina in ihrem rosa Kleidchen am Schrank. Magdalena starrte gedankenverloren auf Ninas Brüste, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten. Sie wusste natürlich, was Nina meinte: Sie wollte etwas über das Foto aus der Handtasche hören. War das der Deal, Ninas Bett gegen ihre Geschichte? Das »Also?« hing auffordernd in der Luft.
»Na ja, ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll«, sagte Magdalena ausweichend. »Meistens erzählen die Leute eher mir etwas, und ich höre zu. Ich scheine diese Menschen irgendwie anzuziehen, die aus der Reisegruppe, aber auch im Supermarkt oder auf der Straße, da erzählen die mir einfach mal so eben ihr Leben. Passiert dir das auch?«
Nina schüttelte den Kopf. »Heute ist es einmal andersrum, und ich höre dir zu«, sagte sie. »Wie war das also mit deiner Mutter?«
Magdalena seufzte. »Meine Mutter.« Dann schwieg sie einen Augenblick, nahm einen weiteren Schluck Wein und biss fest auf den Rand des Glases. Es ging seltsamerweise nicht kaputt.
»Das Foto habe ich ungefähr vor zwei Jahren gefunden«, begann sie, »in einem Schrank in Opa Rudis Holzwerkstatt. Da waren auch andere Fotos von ihr und eben dieses einzige mit dem Mann neben sich, so ein ganz junger, sie war ja selbst noch keine zwanzig, und … ich weiß es ja nicht genau, und das hört sich für dich jetzt bestimmt komisch an …«
»Trink halt noch etwas, und dann red einfach!«
Magdalena nippte an dem Wein und begann. »Meine Mutter starb, als ich ein Jahr und sechs Monate alt war, ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Mein Opa war Hausmeister in einer Schule, ist er immer noch.« Magdalena hielt ein paar Gedenksekunden für die zehn Jahre inne, in denen Oma Witta noch lebte und die sie zu dritt in dem alten Backsteinhaus neben der Osterkappelner Grundschule verbracht hatten, bevor es dann so verdammt leer und still bei ihnen wurde.
Nina setzte sich zu Magdalena auf das Bett, sie roch gut nach Handcreme. Ohne zu fragen und ohne sie dabei aus den Augen zu lassen, nahm Nina ihr das Glas aus der Hand und trank einen kräftigen Schluck daraus.
»›Vater unbekannt‹ steht in meiner Geburtsurkunde. Meine Mutter ist schwanger aus einem Italienurlaub zurückgekommen, von Elba, das weiß ich seit heute ziemlich sicher …«
Nina lächelte ungläubig und gab Magdalena das Glas zurück. »Da gab es Durchschläge und Formulare vom Jugendamt, Anträge zur Vaterschaftsfeststellung und solche Sachen - aber nichts, sie hat es nicht gesagt! Hat weiter in Freiburg studiert, Englisch und Philosophie, und ist mit mir in die Vorlesungen gegangen, das hat anscheinend ganz gut geklappt, bis sie dann leider …« Nina legte ihr eine Hand auf den Oberarm und drückte so fest, dass es fast wehtat, die andere Hand schlug sie sich vor den Mund.
»Sag mir nicht, wie sie gestorben ist, bitte!«, murmelte sie und stand auf. »Ich kann so etwas nicht hören.« Ninas Stimme wurde immer lauter. »Ich sehe es sofort vor mir und kriege die Bilder dann nicht mehr aus meinem Kopf, ich pack das einfach nicht!« Magdalena rieb sich den Arm und räusperte sich verlegen. Ein Fahrradunfall, wie es sie hundertfach gegeben hatte, ein abbiegender Lkw, ein toter Winkel. Die Rückspiegel, die diesen tödlichen Unfall hätten verhindern können, gab es immer noch nicht in Deutschland, während sie in anderen Ländern längst Pflicht waren …
»Wer mein Vater ist, hat meine Mutter selbst meinen Großeltern angeblich niemals verraten …«
»Und du glaubst, es ist der, der neben ihr auf dem Foto vor dem Napoleon-Schild steht. Und jetzt suchst du ihn!«
Magdalena schaute Nina überrascht und beinahe ein wenig bewundernd für ihre Fähigkeit an, die Dinge so schnell und klar auf den Punkt zu bringen. Das würde ich auch gerne können, dachte sie, immer die richtigen Schlüsse ziehen. Sie seufzte. Nina deutete das Geräusch falsch: »Nicht weinen, schlaf jetzt erst mal, wir finden das Foto, das verspreche ich dir! Ich leg mich dann heute Nacht neben dich.« Nina zog ein gestreiftes Kissen aus den Tiefen des Kleiderschranks hervor und warf es rechts von Magdalena auf die einladend breite Matratze.
»Wir haben noch nicht geöffnet, sonst würden dich die Bässe von unten aus dem Bett werfen. Zahnbürste steht im Bad. Buona notte!« Sie lächelte, stakste wie ein hochbeiniger Flamingo durch die Schuhsammlung und zog die Tür hinter sich zu. Magdalena ordnete in ihrer Vorstellung blitzschnell die hellblauen Espadrilles, die nachtblauen Sandaletten, türkisblauen Stöckel und die grünen Clogs nebeneinander an. Ihr Hirn konnte die Sortiererei einfach nicht bleiben lassen, am liebsten wäre sie auch noch aufgestanden und hätte das Zimmer und die Klamotten genauer untersucht. Deine Scheißneugier ist echt widerlich, beschimpfte sie sich unhörbar, mach lieber das Licht aus! Im Halbdunkel trank sie den Wein aus und legte sich zurück auf das Kissen, Zähneputzen würde sie heute ausfallen lassen. Die Geräusche um sie herum lullten sie allmählich ein: die Grille vor dem Fenster, das Rauschen der Pinien, das sie sich vielleicht nur einbildete, das leise Stimmengemurmel vor ihrer Tür. Komisch, dachte sie, bevor sie einschlief, ich liege auf Elba in einem fremden Bett, habe nur noch meine Unterwäsche am Leib und bin doch ganz ruhig. Verzeih mir, Rudi, auch wenn du nichts davon wissen willst: Jetzt geht es mal um mich. Ich bin endlich hier und werde ihn morgen finden, den Italiener, den unscharfen Mann im Halbschatten, den sie geliebt hat und der mein Vater ist!
Magdalenas Garten
gers_9783641048662_oeb_cover_r1.html
gers_9783641048662_oeb_toc_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ded_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c01_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c02_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c03_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c04_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c05_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c06_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c07_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c08_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c09_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c10_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c11_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c12_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c13_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c14_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c15_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c16_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c17_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c18_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c19_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c20_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c21_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c22_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c23_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c24_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c25_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c26_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c27_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c28_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c29_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c30_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c31_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c32_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c33_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c34_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c35_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c36_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c37_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c38_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c39_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c40_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c41_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c42_r1.html
gers_9783641048662_oeb_elg_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ack_r1.html
gers_9783641048662_oeb_cop_r1.html