36
Magdalena suchte das Zimmer nach ihrem BH
ab, endlich entdeckte sie ihn über dem Kopfende des Bettes,
lächerlich, wie hindrapiert hing er da. Im Film bedeuteten lässig
hingeworfene Dessous, ja, sie haben es getan. Roberto mochte es,
wenn sie ihn anließ, manchmal tat sie ihm den Gefallen, manchmal
nicht. Sie hakte ihn zwischen ihren Schulterblättern zu und drehte
sich vor dem schmalen Spiegel in Robertos Schrank. Heute Abend
würde sie Walter endlich sagen, dass sie in der Bar aufhörte, dass
sie zurück nach Deutschland musste. Diesen Vorsatz hatte sie in den
letzten Tagen an jedem Abend, wenn sie sich für die Arbeit fertig
machte, gefasst, doch dann hatte sie keinen Ton herausbekommen,
sondern begonnen, die Tische abzuwischen, die Chips aus dem
Innenhof zu fegen und den Obstsalat für Cristina zuzubereiten, um
für den bevorstehenden Ansturm gewappnet zu sein.
Die letzten Tage waren wie in Trance vergangen, in
der Hitze verrührten die Stunden sich zu einem Brei, zum Denken war
es zu heiß. Sie dachte nicht nach, warum auch, sie wusste, welche
Handgriffe zu tun waren. Selten, wenn ihr untätiges Gehirn ansprang
wie ein quietschender Deckenventilator, betrachtete sie sich selbst
in kurzen Momentaufnahmen, für mehr reichte es nicht. Sie sah sich
bei Fahrten auf dem Roller, hin zur Bar bei
Sonnenuntergang, zurück nach Hause unterm Sternenhimmel, beim
Duschen in Robertos Dusche mit Wasser, das in den letzten Wochen
immer bräunlicher und salziger geworden war, beim Anziehen vor dem
Spiegel, mit den weißen Streifen des Bikinis auf ihrer braunen
Haut, bei der Arbeit, die sie Tabletts schleppend, kassierend, mit
zehn parallel laufenden Bestellungen im Kopf zwischen Innenhof und
Tischen auf der Straße zubrachte. Nachts trank sie am Küchentisch
sitzend zwei kleine Flaschen »Du Démon«, französisches Bier, damit
sie leichter in den Schlaf gleiten konnte, mittags wachte sie mit
verklebten Lidern auf und fuhr nach Procchio oder Marina di Campo
an den Strand. Manchmal aß sie vorher sogar zusammen mit Roberto
einen Reissalat. Sie kaufte sich italienische Frauenzeitschriften,
die sie Wort für Wort las. Ihr Italienisch wurde besser, sie konnte
neben körnigen Paparazzi-Fotos lesen, wie die Schauspielerin hieß,
mit der Fußballstar Tonio Lucamante knutschend im Auto überrascht
worden war, und wusste, wie viele außereheliche Kinder der große
ehrenhafte Fernsehmoderator Pippo mittlerweile hatte. Nach dem
Strand verbrachte sie ein Stündchen mit Roberto in seinem Bett, sie
ließ sich von ihm wie auf einem Massagetisch durchkneten, biegen
und falten, wobei sie manchmal beide auf dem Boden landeten, dann
war es auch schon wieder Zeit, arbeiten zu gehen bis nachts um
zwei. Sie wischte freiwillig den Fußboden und half Franco, Getränke
aufzufüllen, um noch später in ihr Kämmerchen zurückzukehren.
Tagsüber hörte sie Radio Elba, sie wollte Stimmen um sich haben,
sie wollte nicht nachdenken. Wenn sie nicht nachdachte, vermisste
sie auch nichts.
Heute Nachmittag hatte sie etwas Besonderes vor,
auf das sie sich schon seit Tagen freute, sie war bei Antonello
eingeladen. Lange überlegte sie hin und her, was sie anziehen
sollte, wählte
schließlich das dunkelrote Kleid und schminkte sich ein bisschen
mehr als sonst.
Als sie auf der Terrasse in einem zweiten
Liegestuhl neben Antonello lag, selbst gemachte Zitronenlimonade
trank und in den Garten schaute, fühlte sie sich seit Langem
endlich wieder völlig klar. Antonello erzählte noch einmal von dem
Sommer, in dem er Heidi kennengelernt hatte, er wiederholte die
Sätze, die Magdalena schon kannte, und sie konnte beobachten, wie
er hinter der straff gespannten Haut seiner Stirn nach neuen
Einzelheiten suchte, die wertvoll für sie sein könnten.
»Diese Skulpturen in deinem Garten gefallen mir
sehr«, sagte Magdalena, als Antonello zum dritten Mal von Heidis
blonden, ungekämmten Haaren anfing, »ich mag es, dass sie ein
bisschen versteckt stehen, wer hat die gemacht?« Antonello lächelte
entschuldigend und strich über die leichte Decke, unter der sein
magerer Körper verborgen war.
»Ich habe das Haus von einem polnischen Bildhauer
gekauft, zusammen mit einem Teil seiner Werke. Er ist Anfang der
Neunziger gestorben, Slawek Wajda hieß er, heute sind seine
Skulpturen richtig wertvoll. Der Torso mit den Flügeln vor dem
Haus, das halbe Gesicht, die beiden Figuren vorne beim Pool, die
sind alle von ihm, und im Atelier steht noch mehr. Edmondo soll
gleich mal eine kleine Führung für dich machen.«
In der Werkstatt schaute Magdalena sich mit
staunenden Blicken um, es war ein wunderschöner hoher Raum, der an
das Haus angebaut worden war, vor den Fenstern zum Garten waren
weiße Leinenrollos angebracht, die die grelle Nachmittagssonne
aussperrten. Auf breiten Simsen und in den Regalen drängten sich
Marmorbüsten, Köpfe, Gipsabgüsse und Fragmente antiker Skulpturen.
Zwischen Holzböcken mit halb fertigen Figuren standen zwei lange
Tische, Holzkisten und große,
unbehauene Steinblöcke, an den Wänden hingen Reliefs aus Gips.
Magdalena betrachtete andächtig die aufgereihten Meißel, Holzhammer
und Schlageisen mit abgeschrägten Spitzen, wischte dann über einen
der höhenverstellbaren Arbeitsböcke und betrachtete ihre
Fingerkuppe. Sauber.
»War lange keiner mehr zum Arbeiten hier,
oder?«
»Nach dem Letzten haben wir feucht durchgewischt
…«, sagte Edmondo und versuchte zu lachen.
»Antonello hatte in den vergangenen Jahren immer
junge Künstler zu Gast, er gab ihnen den Raum und die Zeit, etwas
zu erschaffen. Meistens ließen sie etwas zurück. Hier der Fuß von
Daniele Muto, heute ist er in Paris und stellt in der Galerie
d’Orsay aus. Oder da drüben, die beiden eingewickelten Torsi, ganz
frühes Werk von Boris Donato, schon mal von dem gehört?«
Edmondo wirkte nicht besonders enttäuscht, als
Magdalena verneinte.
»Ich liebe Skulpturen aus Stein, aber ich könnte
nie selbst damit arbeiten, ich glaube, es fehlt mir an räumlicher
Vorstellungskraft.«
»Das geht Antonello und mir auch so, doch die
jungen Künstler bei uns wohnen und arbeiten zu lassen, hat immer
viel Leben in die Bude gebracht. Aber du bist jung, vielleicht
solltest du es einfach mal ausprobieren.« Er lachte und tätschelte
ihre Schulter: »Es ist schön, dass du ihn besuchen kommst, er war
ganz euphorisch deswegen und hatte einen guten Vormittag.«
Einen guten Vormittag, wiederholte Magdalena für
sich, Edmondo zählte Antonellos Lebenszeit mittlerweile in halben
Tagen und Stunden. Sie setzte sich wieder neben Antonello in den
Liegestuhl und redete lange mit ihm über den zugewachsenen Garten
des POLO, die Rettung der Zitronenbäume und die
Zufriedenheit und Ruhe, die das Staudenteilen und Bohnenaussäen
zu Hause in Osterkappeln in ihr bewirkte. Nachdem Edmondo ihr
einen auffordernden Blick zugeworfen hatte, stand sie auf, um sich
zu verabschieden. Magdalena erhielt von Antonello einen bemüht
kraftvollen Händedruck, Edmondo umklammerte wieder ihre Hand, als
wolle er sie nicht mehr hergeben. »Danke!«, flüsterte er mehrmals,
und: »Bis bald!«
Einige Tage hielt Magdalena sich mit der
Erinnerung an den Besuch über Wasser und freute sich auf ihr
nächstes Treffen mit dem schwulen Pärchen, doch dann unterwanderte
eine bisher unbekannte Dauertraurigkeit ihre Bemühungen und kroch
tief in sie hinein. Ihr automatisierter Tagesablauf bekam Lücken.
Sie konnte nicht mehr länger darüber hinwegsehen, sondern musste
sich eingestehen, dass sie die Zitronenbäume und die wunderbar
ruhige Atmosphäre des stillgelegten POLO vermisste, und auch
die Anstrengung, etwas zu tun, die verschwitzten Ruhepausen, die
erdigen Hände. Sie vermisste Matteo. Ninas Kochkünste und
aufmerksame Blicke. Alles. Sogar Evelina und ihre endlosen
Erzählungen über Männer.
Matteo und Nina, das war wie ein unauflösbarer
Doppelpack, wollte man den einen, bekam man den anderen dazu. Oder
eben keinen von beiden. Das, was Matteo ihr über Nina erzählt
hatte, machte Magdalena noch befangener als zuvor, doch sie
verstand sie jetzt besser. Nina war süchtig danach, jemandem zu
helfen, zu pflegen, zu heilen, etwas Kaputtes wieder ganz zu
machen, ein Unglück rückgängig zu machen, als wäre nichts
geschehen. Das hatte sie in ihrem Tagebuch eindeutig beschrieben.
Ninas letzte Antwort brannte noch immer in Magdalenas Gedächtnis:
»Magdalena, weißt du, was?! Lass mich und mein Zeug einfach in
Ruh’, ja?«
Warum hatte sie nicht lieber versucht, Ninas
Vertrauen zu gewinnen, statt heimlich herumzuschnüffeln?
Nina hatte Angst, Menschen zu sehr zu mögen, es
spielte keine Rolle, ob Mann oder Frau. Sie hatte furchtbare Angst,
jemanden, den sie liebte oder gernhatte, zu verlieren. Das
blockierte ihre Freundschaften, ihr Leben. Und das von Matteo
auch.
Dann sag ihr das doch mal, aber nein, du machst
einen Bogen um den Club 64 und um jeden Strand, an dem sie
sich aufhalten könnte.
Eine Woche später, nachdem ein heißer, endloser
Nachmittag in den frühen Abend übergegangen war, stand Magdalena
wieder vor dem Spiegel, sie seufzte und zupfte ihre luftige Hose
zurecht. Durch das viele Schlaf-Bier hatte sie zugenommen, ihre
zwischenzeitlich knochig gewordenen Hüften waren wieder von einer
dickeren Schicht umhüllt. Roberto mochte das, er kniff mit Wonne
hinein und nannte sie tonta. Das war Spanisch und hieß
wahrscheinlich »Tonne« oder etwas ähnlich Gemeines.
In der Küche lief das Radio, sie sah auf die Uhr,
erst kurz vor sechs. Noch zweieinhalb Stunden, die sie herumbringen
musste, bis sie in die Bar fahren konnte. »Mit goldenen Stiefeln an
den nackten Beinen, so sah ich dich am Strand, bald gingen wir Hand
in Hand …«, sang Antonello und brachte sie zum Lächeln, sie stellte
sich das weißblonde Haar und die ebenso behaarten Beine des
Norwegers vor. Thor. Thor aus Oslo. Uslu. Vorgestern hatte
sie mit Edmondo am Telefon über ihren nächsten Besuch bei Antonello
gesprochen, er wollte sie zurückrufen. Doch das hatte er nicht
getan. Gestern war nur die Mailbox angegangen. Die Stimme des
Radiosprechers wiederholte den Titel: »Antonello Pucciano mit
seinem berühmten Hit, Stivali d’Oro, der gestern im Alter
von nur zweiundfünfzig Jahren in seinem Haus in Florenz gestorben
ist.«
Haus in Florenz? Gestorben ist? Antonello war nicht
tot! Magdalena sah sein abgemagertes Jungengesicht vor sich, seine
kraftlose Hand auf dem Sofa, sah ihn auf der Terrasse liegen und
hörte, wie stolz er über die Künstler und ihre Skulpturen redete,
mit denen sein Garten bevölkert war. Er durfte nicht tot
sein.
Ich muss Edmondo anrufen, dachte sie, ließ den
Gedanken aber sofort wieder fallen. Was für eine Vorstellung, sie
konnte ihn doch jetzt nicht anrufen, nur weil im Radio solche
Nachrichten verbreitet wurden. Warum in seinem Haus in Florenz? War
das ein Ablenkungsmanöver? Sie musste sofort nach Capoliveri.
Ohne den Motor des Rollers anzulassen, rollte sie
den steilen Weg hinunter, über der einzigen Start- und Landebahn
des Flugplatzes hob die letzte Propellermaschine nach irgendwohin
ab, der Himmel glühte, als ob er brannte. Taumelig zog der Flieger
eine Linkskurve in das unendliche Himmelsrot. Antonello war nicht
tot, er konnte doch nicht so schnell gestorben sein, sie hatte ihn
doch noch besuchen wollen.
In Capoliveri angekommen, fuhr sie die kleine
Sackgasse zu Antonellos Haus hinunter, schon von Weitem sah sie das
geschlossene Tor, natürlich, das bewies noch gar nichts. Sie würde
klingeln, sie würde ihn sehen, seine Hand drücken. Dann erst
entdeckte sie die beiden in weißes Plastik gehüllten Sträuße.
Magdalena starrte auf die Blumen. Er war tot. Er war wirklich tot.
Der arme Edmondo war jetzt allein, er hatte Antonello so sehr
geliebt, dass er mit der Blumenvase in der Hand ihr erstes Gespräch
bewacht hatte. Früher als befürchtet hatte Antonello sich »aus dem
Staub gemacht«. Er war einer der wenigen Menschen, den sie kannte,
der mit Heidi gesprochen hatte, sie waren befreundet gewesen, der
schüchterne Junge aus Florenz vor seinem Coming-out und das
ungekämmte, schöne Mädchen
aus dem roten Zelt. Heidi hatte ihm Mut gemacht. »Meine Seele
bekam Flügel.«
Jetzt war er tot. Aber er hatte zufrieden über sein
Leben gesprochen. Es war gut. Ich war glücklich.
Wie werde ich wohl mein Leben am Ende
zusammenfassen?, überlegte Magdalena. Es war ganz okay? Hätte mehr
sein können? Sie konnte jeden Tag die falsche Entscheidung treffen
und ihr Leben damit in Schräglage bringen. Müsste sie vielleicht
irgendwann einmal sagen: Wenn ich auf Elba nicht die falsche
Entscheidung getroffen hätte? Wenn ich nie nach Elba gefahren wäre
… Falls ich auf Elba doch meinen Vater getroffen hätte? Alles
konnte falsch sein, alles konnte richtig sein.
Der rote Himmel war hoch wie eine gigantische
Kirchenkuppel.
Grüß Heidi von mir, Antonello, nein, küss sie von
mir, falls du sie siehst. Oh Dio, sie krümmte sich über dem
Lenker des Rollers, stoßweise pressten ihre Schluchzer die Luft aus
den Lungen, als sie endlich weinte. Hör auf!, befahl sie sich und
startete den Roller. Hör doch auf, sie ist schon so lange tot,
warum heulst du denn jetzt? Immer wieder neue Tränen wurden vom
Fahrtwind waagerecht über die Schläfen bis zu ihren Ohren geweht
und dort getrocknet.
Als sie den Roller hinter der Apotheke parkte, war
die Haut um ihre Augen vom Salz gespannt, aber sie fühlte sich
besser. Heute noch ein letztes Mal, Magdalena klappte die Sitzbank
über ihrem Helm zu, morgen sage ich Sara, dass ich im August nicht
mehr da bin.
Am nächsten Mittag, kurz bevor der Blumenladen
schloss, kaufte Magdalena ein Bund Iris und fünf Callas. Als sie in
die Bar kam, hörte sie Antonellos Lied aus den Lautsprechern. Sie
biss
die Zähne zusammen und warf einen Blick auf die Tageszeitung, die
neben dem Tresen auf einem Hocker lag. Dem Il Tirreno war
Antonello eine große Schlagzeile wert: Morto il grande Pucciano
a Firenze. Magdalena lächelte, es hätte ihn gefreut, der
grande Pucciano genannt zu werden.
»Guten Morgen, meine Liebe!« Sara schlurfte, so
schnell es ihre Hauspuschen zuließen, an ihr vorbei hinter die Bar,
um ein Tablett mit frischen Mandelhörnchen hinter das Glas der
Vitrine zu stellen.
»Willst du etwas trinken, Capúccio? Caffè
latte?« Saras Lächeln zeigte alle Zähne in vorstehender Pracht.
Ganz wie am ersten Tag, dachte Magdalena, ich mag ihren
toskanischen Akzent. Sie merkte, wie es schon wieder in ihr zu
flattern begann.
»Nein danke.« Sie wickelte das Papier ab und
überreichte Sara die Iris.
»Für mich? Warum? Ach, aber du musst doch nicht
weinen, was ist los?«
Magdalena schniefte.»Ich muss zurück nach
Deutschland, schon bald, es tut mir leid, ich will euch nicht im
Stich lassen, am Wochenende ist schon der erste August, und
…«
»Ah, nein, nun mal keine Tränen, ich verstehe, ich
verstehe, kein Grund, sich Sorgen zu machen! Wir werden schon
jemanden finden!« Sara kam mit den Blumen hinter dem Tresen hervor,
Walter guckte ihr stumm dabei zu. Wieso lächelt der so, als ob er
bereits alles hätte kommen sehen?, fragte sich Magdalena.
»Machen wir es so, dein letzter Tag ist Donnerstag,
übermorgen, am Freitag ist der erste August. Es wird schwer, eine
tedesca wie dich zu ersetzen, aber es wird schon gehen.« Sie
lächelte wieder. »Ach, hier ist noch etwas für dich angekommen.«
Sie übergab ihr einen braunen Umschlag, der kam von Opa Rudi,
erkannte Magdalena, er schickte ihr jede Woche
ihre Post. Alles. Werbung, die Handyrechnung, die Aufforderung,
zum Zahncheck bei ihrem Zahnarzt vorbeizukommen. Und einen
kleineren, dickeren Umschlag, auf dem in säuberlicher Schrift
»Maddalena - Bar Elba - Procchio - Isola d’Elba« untereinander
stand, mehr nicht, er war dennoch angekommen. Neugierig öffnete
Magdalena ihn. Ein kleines Buch rutschte heraus. Sprüche von Oscar
Wilde. Auf Italienisch. Ein Geschenk von Antonello, vorn auf die
erste Seite hatte er »per Maddalena - con affetto, Antonello
Pucciano« hineingeschrieben. Magdalena spürte, wie etwas in
ihrer Brust aufging, sie atmete ein und wusste, dass sie dieses
Büchlein von Oscar Wilde nie in die Hand nehmen würde, ohne sich an
diesen Geruch von affetto, Liebe, Wärme und Kuchenduft zu
erinnern.
»Danke, Sara! Bis heute Abend.« Mit der linken Hand
befreite sie die Farbkopie von Heidi und dem unbekannten Paolo, die
noch immer neben der Musikanlage hing, von ihrem Klebestreifen und
steckte sie in das Buch. Draußen bahnte sie sich einen Weg durch
die Touristen, die unter den Arkaden entlangschlenderten, bis zu
ihrem Roller.
Vor Antonellos Haus war niemand zu sehen, die
große Pforte aus Holz war fest verschlossen, am Tor lagen
inzwischen mehrere in Zellophan verpackte Sträuße, dazwischen stand
ein rotes Grablicht. Magdalena zählte die Sträuße, acht waren es.
Besonders überschwänglich erinnerte Capoliveri sich nicht an seinen
Sänger. Sie hätte gern einen ganzen Berg von Blumen gesehen, wie
bei Lady Di. Sie legte ihre Callas dazu und bedauerte, keine Vase
mitgebracht zu haben. In der Hitze werden sie sofort vertrocknen.
Aber was macht das schon für einen Unterschied, ob nun heute oder
morgen, das ist eigentlich egal, ging ihr durch den Kopf, sie
verwesen wie Antonello, wie Heidi vor vielen Jahren in ihrem Sarg.
Wieder fing sie an zu weinen. Sie
setzte sich unter die überhängenden Bougainvilleen in den
Schatten, im Schneidersitz, direkt auf den Boden, der mit lila
Blütenblättern übersät war, und legte das Büchlein und das kopierte
Foto vor sich hin.
»Ach, Heidi«, sagte sie zu dem Gesicht ihrer
Mutter, während sie sich die Tränen abwischte, »kaum habe ich
jemanden gefunden, der dich kannte, ist er auch schon tot.«
Immerhin kennst du mich jetzt ein bisschen besser, schienen die
Augen ihrer Mutter zu antworten. »Ja, ich bin überrascht, dass
du die Beziehung beendet hast, nicht er. Er hat sogar
angerufen und Briefe geschickt. Du warst eine harte Nuss, härter,
als ich dachte …« Magdalena suchte nach einer weiteren Antwort in
Heidis Augen, aber sie lächelte diesmal nur.
Ein violettes Blütenblatt segelte hinunter auf das
Foto. Genau zwischen die beiden Köpfe. Ein Zeichen! Magdalena
schnaubte, schade, dass sie nicht an solche Dinge glaubte. Sie
stand auf, pflückte ein paar frische Blüten von einem Zweig und
legte sie um das Foto herum. Sie wollte daran glauben können, wie
tröstlich wäre das jetzt! Antonello gab aus dem Himmel Zeichen und
führte sie zu ihrem Vater. Also, Antonello, ich wäre bereit. Sie
rückte die Blüten zurecht und setzte sich wieder in den
Schneidersitz. Wie ein Hippiemädchen aus den Siebzigern, ging es
ihr durch den Kopf. Na ja, vielleicht ein bisschen alt für ein
Hippiemädchen, und das klingelnde Handy passt auch nicht ganz dazu.
Sie nahm es aus ihrer Handtasche. Eine neue Nachricht, von? Matteo!
Wieso Matteo? Er schrieb nie, er hatte sie auch noch nie
angerufen.
Eine Beziehung sollte man niemals per SMS beenden,
aber eine Freundschaft darf man vielleicht auf diese Art
wiederbeleben. Kommst Du morgen Nachmittag in den Garten? Habe eine
Überraschung für Dich.
Freundschaft? Überraschung? Aber natürlich, hastig
tippte sie ihre Antwort. Komme gerne!
Danke, Antonello, das war schon mal sehr nett von
dir! Was sagte denn Oscar Wilde dazu? Sie schlug das Büchlein an
einer beliebigen Stelle auf:
»Wir liegen alle in der Gosse, aber einige von uns
betrachten die Sterne.«