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Allora! Dein letzter Abend!« Evelina
ließ ihre Faust mit der Pinzette auf den Tisch fallen, dass die
Espressotassen hüpften und Magdalena zusammenzuckte. Wenigstens die
Tassen waren heute Nachmittag heil geblieben. Evelina stand auf,
strich sich mit der Zeigefingerkuppe über die dünnen schwarzen
Linien ihrer Augenbrauen und ging dann in die dunkle Küche. Es war
zehn Uhr abends, sie hatten ausnahmsweise keine Gäste zum Essen
gehabt, und es hatte auch keine drei Gänge gegeben, sondern Pizza
aus einer Pizzeria in Portoferraio. Worauf auch? Bis auf zwei
Teller waren alle auf dem Boden zerschellt. Magdalena schaukelte
ihren Rest Rotwein im Glas und guckte vorsichtig zu Nina hinüber.
Während sie Stücke von pizza tonno gegen pizza
margherita über den Tisch tauschten, hatten sie sich
gegenseitig entschuldigt, tut mir leid wegen vorhin, mir auch,
selbst Matteo hatte sich zu einem, ach, vergessen wir das doch,
durchgerungen, ging ihr aber sonst aus dem Weg. Oder bildete sie
sich das ein? Er war mit Mikki nach Procchio hinuntergefahren, um
Zigaretten zu holen. Sie bildete sich wahrscheinlich auch ein, dass
Nina seit zehn Minuten auf dem Sofa mit so unglücklicher Miene vor
sich hin starrte, dass einem allein vom Zuschauen ganz elend werden
konnte. Magdalena zermarterte sich den Kopf. Vielleicht ganz gut,
dass Matteo nicht da war, so konnte sie nichts falsch machen. War
Nina
wirklich eifersüchtig und wartete bloß darauf, dass sie endlich
abreiste? Vielleicht musste sie ja nicht mehr mit hinüber in die
andere Diskothek, in die Nina und Evelina sie zum Abschied
schleppen wollten. Ein paar Hundert Meter vom POLO entfernt
lag ein weiterer Nachtclub, dessen Namen sie sich nicht merken
konnte. Doch schon kehrte Evelina mit ein paar Kleidungsstücken
über dem Arm zurück, die sie in hohem Bogen auf das Sofa neben Nina
warf. Magdalena nahm eins nach dem anderen mit spitzen Fingern
hoch: Erwarteten Evelina und Nina wirklich von ihr, dass sie den
einteiligen schwarzen Hosenanzug mit Armen und Beinen weit wie
Flügel, diverse durchsichtige Blusen, breite Goldgürtel und ein
kratziges Fünfzigerjahre-Lurexkleid in golddurchwirktem
Pistaziengrün anprobierte? Sie seufzte. Evelina war nicht gerade
schlank und dazu noch zehn Zentimeter kleiner als sie. Aber auch in
manche von Ninas Sachen passte sie nicht, obwohl sie die gleiche
Größe hatten, denn Magdalenas Schultern waren kräftiger, ihr Busen
dagegen kleiner.
»Ich dachte an den hier, der hat ziemlich lange
Beine, die muss ich erst noch umnähen lassen«, sagte Evelina. Nina
erwachte aus ihrer Starre, nach einem diskreten Blick auf Evelinas
Stampfer tauschte sie ein schwaches Zahnlückengrinsen mit
Magdalena. Wie schön, sie lächelt wieder, dachte Magdalena, es ist
fürchterlich, wenn sie eingefroren oder sauer auf mich ist. Dankbar
ging sie ins Bad, um sich umzuziehen.
Das hier ist wie Karneval, sagte sie stumm zu ihrem
Spiegelbild über dem Waschbecken, ich verkleide mich in eine
geflügelte Partymaus, vielen Dank für die Leihgabe, Evelina.
Sie überprüfte ihr Gesicht genauer. Hatten die
vergangenen Tage auf Elba sie verändert, war sie auf der Suche nach
ihrem italienischen Vater italienischer geworden? Der Spiegel gab
ihr eine eindeutige Antwort: Die Suche ist, wie wir alle wissen,
erfolglos geblieben, und du siehst aus wie immer!
Magdalena zog das Gummiband aus ihrem
Pferdeschwanz, nahm Evelinas Haarbürste und strich sich damit die
dunkelbraunen Haare ins Gesicht. Auch nicht besser, schnell band
Magdalena sie wieder zusammen. Im Zahnbürstenglas steckte ein
einzelner brauner Kajalstift von Nina. Er musste von Nina sein,
denn Evelinas Schminkzeug lagerte in einem riesigen, silbrig
lackierten Ufo und bestand, wie sie von einem heimlichen Blick
hinter abgeschlossener Klotür wusste, nur aus schwarz, schwarz,
schwarz. Mit irgendwas musste sie ihren Pandabärlook ja jeden
Morgen hinbekommen. Zaghaft führte Magdalena den Stift über ihre
blassen Brauen, strichelte ein wenig Braun darauf und umrahmte ihre
Augen, bis sie tränten. Sie war den Blödsinn nicht gewohnt, es sah
komisch aus. Um es noch deutlicher zu machen, holte sie
Wimperntusche aus Evelinas Schönheitskasten und tuschte sich dicke,
starre Fliegenbeine an die Augen. Jetzt ähnelte sie Hildegard Knef
auf diesem Plattencover mit dem Hut, das Oma Witta zwischen all
ihren Opernplatten versteckt hatte. Zufrieden tupfte sie klebriges
Lipgloss mit Kaugummigeschmack auf ihren Mund. Es sah aus, als
hätte sie gerade einen Paradiesapfel vom Jahrmarkt geküsst.
»Ja, meine lieben Herrschaften, sehen Sie mal genau
hin«, wisperte sie in den Spiegel, das hätte Reiseleiterin Susanne
in diesem Fall gesagt. Sie wischte sich die Farbe mit einem nassen
Kleenex so gut es ging wieder ab, öffnete den Reißverschluss und
stieg in den Anzug, den Evelina ihr gegeben hatte. Der Stoff war
angenehm dünn, ein leichter Schweißgeruch nach Evelina, vermischt
mit ihrem Parfüm, stieg unter den Achseln auf, als sie den
Verschluss von ihrem Nabel aufwärtszog.
»Ich gehe nicht mit, das passt nicht, ich sehe aus
wie eine Fledermaus!« Magdalena trat auf die Terrasse und
schlenkerte abwehrend mit den Ärmeln, die ihr weit über die Hände
fielen.
Nina machte immer noch ein bekümmertes Gesicht, doch ihr Blick
wanderte plötzlich lebhaft an Magdalena herauf und herunter, dann
sagte sie: »Das mit den Ärmeln gehört so, und ich finde, es steht
dir ganz hervorragend! Hast du dich geschminkt?«
Magdalena winkte ab, sie wusste nicht, ob sie Ninas
Geschmack trauen sollte. Sie kombinierte die unterschiedlichsten
Kleidungsstücke, doch was bei Nina passend angezogen aussah, würde
bei ihr katastrophal wirken: Heute Abend trug sie eine rot-weiß
karierte Bluse mit Puffärmeln, die gerade ihren Bauch bedeckte,
ihre braunen, glatten Beine steckten in sehr kurzen abgeschnittenen
Jeans und derben Bergsteigerschuhen.
»Ich gebe dir noch eine Jacke, die ziehst du
drüber, dann sieht es cool aus, wirklich!«
Evelina kam auf Magdalena zu, zog den
Reißverschluss unerbittlich ein ganzes Stück hinunter und zupfte an
ihrem Ausschnitt herum, Magdalenas Brüste waren nun halb
entblößt.
»Okeee?! Wir brauchen noch einen BH, der diese
Sachen mehr ans Licht bringt«, verstand sie von Evelinas
Nuschelitalienisch, die ihre Schultern nach hinten drückte, bis ihr
Busen ganz freilag und sie ihn mit beiden Händen bedecken musste.
»Hast du etwas an deinen Augen gemacht? Sie sehen viel
ausdrucksvoller aus, du solltest deine Wimpern färben, Augenbrauen,
Haare, alles färben. Und alzati, alzati, halte dich
aufrecht, du musst aufrechter stehen!« Gott sei Dank ist Matteo
nicht in der Nähe, dachte Magdalena zum zweiten Mal an diesem
Abend. »Ja, vielleicht die Wimpern, aber doch nicht die Haare«,
jetzt mischte Nina sich endlich ein, »die sind wunderschön dunkel,
wie Walnussholz, die muss und darf sie nicht färben!«
»Schuhe. Frisur. Schminken. Machst du das, Nina?«
Statt einer Antwort erhob Nina sich und brachte Magdalena ein Paar
spitze schwarze Wildlederpumps aus ihrem Zimmer, 38, sie
hatten dieselbe Größe. Magdalena machte einige vorsichtige
Schritte, die Absätze waren nicht sehr hoch, darauf konnte sogar
sie laufen.
»Na ja, die passen.« Sie gingen hinein, Magdalena
wollte sich gern im Spiegel anschauen, doch Nina drückte sie auf
einen Stuhl, der am Küchentisch stand, und begann ihr das Haar zu
bürsten.
»Diese Haare«, murmelte sie, »damit müsste man
etwas ganz anderes machen …« Magdalena legte den Kopf zurück, es
war angenehm, wie zart und doch sicher Nina ihre Haare berührte.
Sie bündelte sie zum Pferdeschwanz, drehte sie zu einem Knoten und
befestigte sie mit einer großen silbernen Spange an Magdalenas
Hinterkopf. Dann klippste sie einzeln herunterhängende Strähnen mit
kleinen Spängchen fest. Gänsehaut rieselte Magdalenas Nacken
hinunter.
»Warum hast du eigentlich keine Löcher in den
Ohren? Alle italienischen Frauen haben Löcher in den Ohren,
ich kenne keine ohne. Silberne Kreolen würden jetzt sehr gut dazu
ausschauen. Ma!« Das ma! kannte Magdalena schon,
immer, wenn man nicht weiterwusste, wenn es nichts mehr zu sagen
gab, wurde es eingesetzt.
»Da brauchen wir gar nicht viel bei der tollen
Haut«, sagte Nina mehr zu sich als zu ihr, wühlte in ihrem
Schminktäschchen nach einem dicken Pinsel und fuhr Magdalena damit
kurz über die Wangenknochen.
»Es tut mir leid, dass wir deinen Vater nicht
gefunden haben«, sagte sie leise, »ich habe dir das so fest
versprochen, und dann hat es irgendwie doch nicht geklappt…das
wollte ich dir noch vor deiner Abreise sagen! Schau mal nach
oben!«
»Aber du hast mir so viel geholfen.« Magdalena
schaute gegen die Decke, während Nina mit großer Ernsthaftigkeit an
ihren Wimpern herumtuschte. »Du bist mit den Fotokopien und
mir tagelang über die Insel gefahren, um sie überall aufzuhängen,
du hast einen obszönen Anruf auf deinem Handy ertragen müssen, und
weißt du noch, in Porto Azzurro, am Hafen, der Typ, der uns da
gefolgt ist?« Nina stieß nur lachend Luft durch die Nase. Magdalena
atmete ihren Duft ein, Kaffee, Handcreme und das blassblaue Parfüm,
das auf ihrem Orangenkistennachttisch stand und irgendwie sauber,
wie nach vom Wind getrockneter Wäsche roch.
»Und oben in Capoliveri, wo wir mittags diese
leckere Pizza an dem Platz gegessen haben, diese zugeklappte, wie
hieß die noch?«
»Calzone.«
»Genau, und auch in der letzten Ecke im Nordosten
waren wir, in Cavo. Überall hängen die Fotokopien jetzt. Ein gutes
Gefühl … Wirklich, du hast mehr als genug getan!«
»Nein, denn wir haben nicht einmal Olmo Spinetti
getroffen. Mach mal die Augen zu!«
»Olmos Restaurant ist eben immer noch zu«, sagte
Magdalena mit geschlossenen Augen, »du hast doch jeden Tag
nachgeschaut und außerdem versucht, ihn per Handy zu erreichen. Ich
weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Lass mal.« Nina schwieg für die nächsten Minuten.
»Fatto!«, rief sie dann und brachte Magdalena eine
glitzernde Jacke mit einem Sheriffstern am Revers aus ihrem
Zimmer.
»Da, sich den ganzen Abend wie eine Fledermaus zu
fühlen, ist furchtbar anstrengend.« Magdalena streifte sie über,
die langen Ärmel schauten aus den Jackenärmeln hervor, dann
stöckelte sie mit Nina vor den großen Schrankspiegel in Evelinas
Zimmer.
»Na?!« Magdalena lachte, sie sah absolut verkleidet
aus, da musste sie sich keine Sorgen machen, man würde sie nicht
erkennen. Doch mit ihrem Gesicht war etwas anderes passiert, sie
ging näher an den Spiegel heran. Es war freigelegt, wie ein Blatt
Papier, und Nina hatte etwas daraufgemalt, was sonst nicht da
gewesen war: Augen, die hell unter den dunklen Wimpern
hervorstachen, hohe Brauen, die ihr etwas Fragendes gaben, und
einen Mund. Probeweise rieb sie ihre Lippen aneinander, sie waren
cremig und schmeckten nach teurer Kosmetik. Ihr Mund war
geschwungener, wie sollte man das beschreiben? Fraulich, genau, sie
hatte plötzlich einen fraulichen Mund. Magdalena lächelte: »Was
hast du am ersten Tag zu mir gesagt? Wie ein Model für Natur…wie
war das?« Nina knuffte sie in die Seite: »Komm, du
Naturseifengesicht, gehen wir rüber!«
»Muss das sein?«
»Ja! Du sollst dich amüsieren!«
Es klang traurig und bedrohlich zugleich.