11
Allora! Dein letzter Abend!« Evelina ließ ihre Faust mit der Pinzette auf den Tisch fallen, dass die Espressotassen hüpften und Magdalena zusammenzuckte. Wenigstens die Tassen waren heute Nachmittag heil geblieben. Evelina stand auf, strich sich mit der Zeigefingerkuppe über die dünnen schwarzen Linien ihrer Augenbrauen und ging dann in die dunkle Küche. Es war zehn Uhr abends, sie hatten ausnahmsweise keine Gäste zum Essen gehabt, und es hatte auch keine drei Gänge gegeben, sondern Pizza aus einer Pizzeria in Portoferraio. Worauf auch? Bis auf zwei Teller waren alle auf dem Boden zerschellt. Magdalena schaukelte ihren Rest Rotwein im Glas und guckte vorsichtig zu Nina hinüber. Während sie Stücke von pizza tonno gegen pizza margherita über den Tisch tauschten, hatten sie sich gegenseitig entschuldigt, tut mir leid wegen vorhin, mir auch, selbst Matteo hatte sich zu einem, ach, vergessen wir das doch, durchgerungen, ging ihr aber sonst aus dem Weg. Oder bildete sie sich das ein? Er war mit Mikki nach Procchio hinuntergefahren, um Zigaretten zu holen. Sie bildete sich wahrscheinlich auch ein, dass Nina seit zehn Minuten auf dem Sofa mit so unglücklicher Miene vor sich hin starrte, dass einem allein vom Zuschauen ganz elend werden konnte. Magdalena zermarterte sich den Kopf. Vielleicht ganz gut, dass Matteo nicht da war, so konnte sie nichts falsch machen. War Nina wirklich eifersüchtig und wartete bloß darauf, dass sie endlich abreiste? Vielleicht musste sie ja nicht mehr mit hinüber in die andere Diskothek, in die Nina und Evelina sie zum Abschied schleppen wollten. Ein paar Hundert Meter vom POLO entfernt lag ein weiterer Nachtclub, dessen Namen sie sich nicht merken konnte. Doch schon kehrte Evelina mit ein paar Kleidungsstücken über dem Arm zurück, die sie in hohem Bogen auf das Sofa neben Nina warf. Magdalena nahm eins nach dem anderen mit spitzen Fingern hoch: Erwarteten Evelina und Nina wirklich von ihr, dass sie den einteiligen schwarzen Hosenanzug mit Armen und Beinen weit wie Flügel, diverse durchsichtige Blusen, breite Goldgürtel und ein kratziges Fünfzigerjahre-Lurexkleid in golddurchwirktem Pistaziengrün anprobierte? Sie seufzte. Evelina war nicht gerade schlank und dazu noch zehn Zentimeter kleiner als sie. Aber auch in manche von Ninas Sachen passte sie nicht, obwohl sie die gleiche Größe hatten, denn Magdalenas Schultern waren kräftiger, ihr Busen dagegen kleiner.
»Ich dachte an den hier, der hat ziemlich lange Beine, die muss ich erst noch umnähen lassen«, sagte Evelina. Nina erwachte aus ihrer Starre, nach einem diskreten Blick auf Evelinas Stampfer tauschte sie ein schwaches Zahnlückengrinsen mit Magdalena. Wie schön, sie lächelt wieder, dachte Magdalena, es ist fürchterlich, wenn sie eingefroren oder sauer auf mich ist. Dankbar ging sie ins Bad, um sich umzuziehen.
Das hier ist wie Karneval, sagte sie stumm zu ihrem Spiegelbild über dem Waschbecken, ich verkleide mich in eine geflügelte Partymaus, vielen Dank für die Leihgabe, Evelina.
Sie überprüfte ihr Gesicht genauer. Hatten die vergangenen Tage auf Elba sie verändert, war sie auf der Suche nach ihrem italienischen Vater italienischer geworden? Der Spiegel gab ihr eine eindeutige Antwort: Die Suche ist, wie wir alle wissen, erfolglos geblieben, und du siehst aus wie immer!
Magdalena zog das Gummiband aus ihrem Pferdeschwanz, nahm Evelinas Haarbürste und strich sich damit die dunkelbraunen Haare ins Gesicht. Auch nicht besser, schnell band Magdalena sie wieder zusammen. Im Zahnbürstenglas steckte ein einzelner brauner Kajalstift von Nina. Er musste von Nina sein, denn Evelinas Schminkzeug lagerte in einem riesigen, silbrig lackierten Ufo und bestand, wie sie von einem heimlichen Blick hinter abgeschlossener Klotür wusste, nur aus schwarz, schwarz, schwarz. Mit irgendwas musste sie ihren Pandabärlook ja jeden Morgen hinbekommen. Zaghaft führte Magdalena den Stift über ihre blassen Brauen, strichelte ein wenig Braun darauf und umrahmte ihre Augen, bis sie tränten. Sie war den Blödsinn nicht gewohnt, es sah komisch aus. Um es noch deutlicher zu machen, holte sie Wimperntusche aus Evelinas Schönheitskasten und tuschte sich dicke, starre Fliegenbeine an die Augen. Jetzt ähnelte sie Hildegard Knef auf diesem Plattencover mit dem Hut, das Oma Witta zwischen all ihren Opernplatten versteckt hatte. Zufrieden tupfte sie klebriges Lipgloss mit Kaugummigeschmack auf ihren Mund. Es sah aus, als hätte sie gerade einen Paradiesapfel vom Jahrmarkt geküsst.
»Ja, meine lieben Herrschaften, sehen Sie mal genau hin«, wisperte sie in den Spiegel, das hätte Reiseleiterin Susanne in diesem Fall gesagt. Sie wischte sich die Farbe mit einem nassen Kleenex so gut es ging wieder ab, öffnete den Reißverschluss und stieg in den Anzug, den Evelina ihr gegeben hatte. Der Stoff war angenehm dünn, ein leichter Schweißgeruch nach Evelina, vermischt mit ihrem Parfüm, stieg unter den Achseln auf, als sie den Verschluss von ihrem Nabel aufwärtszog.
 
»Ich gehe nicht mit, das passt nicht, ich sehe aus wie eine Fledermaus!« Magdalena trat auf die Terrasse und schlenkerte abwehrend mit den Ärmeln, die ihr weit über die Hände fielen. Nina machte immer noch ein bekümmertes Gesicht, doch ihr Blick wanderte plötzlich lebhaft an Magdalena herauf und herunter, dann sagte sie: »Das mit den Ärmeln gehört so, und ich finde, es steht dir ganz hervorragend! Hast du dich geschminkt?«
Magdalena winkte ab, sie wusste nicht, ob sie Ninas Geschmack trauen sollte. Sie kombinierte die unterschiedlichsten Kleidungsstücke, doch was bei Nina passend angezogen aussah, würde bei ihr katastrophal wirken: Heute Abend trug sie eine rot-weiß karierte Bluse mit Puffärmeln, die gerade ihren Bauch bedeckte, ihre braunen, glatten Beine steckten in sehr kurzen abgeschnittenen Jeans und derben Bergsteigerschuhen.
»Ich gebe dir noch eine Jacke, die ziehst du drüber, dann sieht es cool aus, wirklich!«
Evelina kam auf Magdalena zu, zog den Reißverschluss unerbittlich ein ganzes Stück hinunter und zupfte an ihrem Ausschnitt herum, Magdalenas Brüste waren nun halb entblößt.
»Okeee?! Wir brauchen noch einen BH, der diese Sachen mehr ans Licht bringt«, verstand sie von Evelinas Nuschelitalienisch, die ihre Schultern nach hinten drückte, bis ihr Busen ganz freilag und sie ihn mit beiden Händen bedecken musste. »Hast du etwas an deinen Augen gemacht? Sie sehen viel ausdrucksvoller aus, du solltest deine Wimpern färben, Augenbrauen, Haare, alles färben. Und alzati, alzati, halte dich aufrecht, du musst aufrechter stehen!« Gott sei Dank ist Matteo nicht in der Nähe, dachte Magdalena zum zweiten Mal an diesem Abend. »Ja, vielleicht die Wimpern, aber doch nicht die Haare«, jetzt mischte Nina sich endlich ein, »die sind wunderschön dunkel, wie Walnussholz, die muss und darf sie nicht färben!«
»Schuhe. Frisur. Schminken. Machst du das, Nina?« Statt einer Antwort erhob Nina sich und brachte Magdalena ein Paar spitze schwarze Wildlederpumps aus ihrem Zimmer, 38, sie hatten dieselbe Größe. Magdalena machte einige vorsichtige Schritte, die Absätze waren nicht sehr hoch, darauf konnte sogar sie laufen.
»Na ja, die passen.« Sie gingen hinein, Magdalena wollte sich gern im Spiegel anschauen, doch Nina drückte sie auf einen Stuhl, der am Küchentisch stand, und begann ihr das Haar zu bürsten.
»Diese Haare«, murmelte sie, »damit müsste man etwas ganz anderes machen …« Magdalena legte den Kopf zurück, es war angenehm, wie zart und doch sicher Nina ihre Haare berührte. Sie bündelte sie zum Pferdeschwanz, drehte sie zu einem Knoten und befestigte sie mit einer großen silbernen Spange an Magdalenas Hinterkopf. Dann klippste sie einzeln herunterhängende Strähnen mit kleinen Spängchen fest. Gänsehaut rieselte Magdalenas Nacken hinunter.
»Warum hast du eigentlich keine Löcher in den Ohren? Alle italienischen Frauen haben Löcher in den Ohren, ich kenne keine ohne. Silberne Kreolen würden jetzt sehr gut dazu ausschauen. Ma!« Das ma! kannte Magdalena schon, immer, wenn man nicht weiterwusste, wenn es nichts mehr zu sagen gab, wurde es eingesetzt.
»Da brauchen wir gar nicht viel bei der tollen Haut«, sagte Nina mehr zu sich als zu ihr, wühlte in ihrem Schminktäschchen nach einem dicken Pinsel und fuhr Magdalena damit kurz über die Wangenknochen.
»Es tut mir leid, dass wir deinen Vater nicht gefunden haben«, sagte sie leise, »ich habe dir das so fest versprochen, und dann hat es irgendwie doch nicht geklappt…das wollte ich dir noch vor deiner Abreise sagen! Schau mal nach oben!«
»Aber du hast mir so viel geholfen.« Magdalena schaute gegen die Decke, während Nina mit großer Ernsthaftigkeit an ihren Wimpern herumtuschte. »Du bist mit den Fotokopien und mir tagelang über die Insel gefahren, um sie überall aufzuhängen, du hast einen obszönen Anruf auf deinem Handy ertragen müssen, und weißt du noch, in Porto Azzurro, am Hafen, der Typ, der uns da gefolgt ist?« Nina stieß nur lachend Luft durch die Nase. Magdalena atmete ihren Duft ein, Kaffee, Handcreme und das blassblaue Parfüm, das auf ihrem Orangenkistennachttisch stand und irgendwie sauber, wie nach vom Wind getrockneter Wäsche roch.
»Und oben in Capoliveri, wo wir mittags diese leckere Pizza an dem Platz gegessen haben, diese zugeklappte, wie hieß die noch?«
»Calzone.«
»Genau, und auch in der letzten Ecke im Nordosten waren wir, in Cavo. Überall hängen die Fotokopien jetzt. Ein gutes Gefühl … Wirklich, du hast mehr als genug getan!«
»Nein, denn wir haben nicht einmal Olmo Spinetti getroffen. Mach mal die Augen zu!«
»Olmos Restaurant ist eben immer noch zu«, sagte Magdalena mit geschlossenen Augen, »du hast doch jeden Tag nachgeschaut und außerdem versucht, ihn per Handy zu erreichen. Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.«
»Lass mal.« Nina schwieg für die nächsten Minuten. »Fatto!«, rief sie dann und brachte Magdalena eine glitzernde Jacke mit einem Sheriffstern am Revers aus ihrem Zimmer.
»Da, sich den ganzen Abend wie eine Fledermaus zu fühlen, ist furchtbar anstrengend.« Magdalena streifte sie über, die langen Ärmel schauten aus den Jackenärmeln hervor, dann stöckelte sie mit Nina vor den großen Schrankspiegel in Evelinas Zimmer.
»Na?!« Magdalena lachte, sie sah absolut verkleidet aus, da musste sie sich keine Sorgen machen, man würde sie nicht erkennen. Doch mit ihrem Gesicht war etwas anderes passiert, sie ging näher an den Spiegel heran. Es war freigelegt, wie ein Blatt Papier, und Nina hatte etwas daraufgemalt, was sonst nicht da gewesen war: Augen, die hell unter den dunklen Wimpern hervorstachen, hohe Brauen, die ihr etwas Fragendes gaben, und einen Mund. Probeweise rieb sie ihre Lippen aneinander, sie waren cremig und schmeckten nach teurer Kosmetik. Ihr Mund war geschwungener, wie sollte man das beschreiben? Fraulich, genau, sie hatte plötzlich einen fraulichen Mund. Magdalena lächelte: »Was hast du am ersten Tag zu mir gesagt? Wie ein Model für Natur…wie war das?« Nina knuffte sie in die Seite: »Komm, du Naturseifengesicht, gehen wir rüber!«
»Muss das sein?«
»Ja! Du sollst dich amüsieren!«
Es klang traurig und bedrohlich zugleich.
Magdalenas Garten
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