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Der Mann ließ sie oben an der Straße raus.
»Grazie!« Magdalena warf die Tür zu, barfuß, mit einem
nassen T-Shirt aber immerhin langen Hosen stand sie auf dem Asphalt
im Licht der Straßenlaterne, die die Kreuzung erhellte. Er bog nach
links, Richtung Portoferraio, aber da wollte sie nicht hin. Ins
POLO, überlegte sie kurz, nein, niemals. Ich muss ins Haus
und meine Sachen holen, bevor Roberto auftaucht! Sie hielt den
Daumen raus, es war genug Verkehr, um diese Zeit fuhren alle zum
Essen, zum Bummeln, zum Espressotrinken, irgendjemand würde sie
mitnehmen. Ein Wagen nach dem anderen fuhr vorbei, offensichtlich
machte sie nicht gerade den besten Eindruck. Ein weiteres Auto kam
vom Strand hochgefahren. Magdalena verspürte den dringenden Wunsch,
wegzulaufen und sich zu verstecken. Konnte das Roberto mit den
anderen beiden sein? Nein, ohne Beiboot waren sie nicht so schnell,
sie mussten erst mal den Anker lichten. Roberto, der Trottel, hatte
sich ja heute Nachmittag geweigert, es von ihr zu lernen. Segeln
konnten sie alle drei nicht, sie waren auch noch stolz darauf
gewesen, und mit reiner Motorkraft dauerte es mindestens zwei
Stunden, bis sie wieder in Portoferraio im Hafen einliefen. Der
Wagen hielt. Ein blondes Mädchen saß auf dem Beifahrersitz, langsam
glitt die Scheibe herunter.
»Tascha!«
»Na so wat, hallo! Du bist das, na komm,
steig ein, wat is’n passiert, wat stehs’te hier so abjerissen
mitten in der Nacht rum?«
Magdalena sprang auf die Rückbank.
»Ich freue mich so, dich zu sehen!« Sie beugte sich
vor und berührte Tascha an der Schulter, sie musste unbedingt
jemanden anfassen. Sie fuhren am POLO vorbei, vorbei am
Club 64, die Uhr über dem Radio zeigte noch nicht einmal
zehn.
»Haste am Strand die Zeit vergessen? Wir sind da
unten im Hotel, nobler Laden, sage ich dir! Dimitri ist ein Süßer!«
Der Mann neben ihr legte seine Hand auf Taschas nacktes Knie. Es
war der Typ mit dem vorspringenden Kinn aus der Diskothek,
wunderbar, es gibt doch noch wahre Liebe auf dieser Insel, dachte
Magdalena, und ihre Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben. Gut so,
sie konnte fast schon wieder lachen, hier in dieser dicken
Limousine hatte sie keine Angst mehr, sie wollte sich nur noch
rächen.
»Wo willste denn hin? Wir gehen in Marina di Campo
essen.«
»Ich muss nach La Pila, gegenüber vom Flughafen, da
wohne ich.« Mist, sie hatte keinen Schlüssel und auch kein Geld,
ihre Handtasche, Handy, Papiere, alles war an Bord geblieben.
Als sie nach Procchio hineinfuhren, wurde
Magdalena ganz seltsam zumute. Fast zwei Monate lang hatte sie dort
drüben in der Bar Elba Abend für Abend Tabletts geschleppt
und Tische abgewischt. Sie sah ihr Double unter den Arkaden stehen,
es hielt die blauen Karten in der Hand und schrieb die Bestellungen
auf einen Block. Dort müsste sie jetzt eigentlich stehen.
Saß sie wirklich hier im Auto? Vielleicht war das alles auch nur
ein sehr realistischer Traum gewesen, es gab keinen Beweis für das,
was ihr heute Abend passiert war. Sie umrundeten den Parkplatz,
sehnsüchtig schaute Magdalena auf die Autos und die Touristen
dahinter, die sich in Massen durch Procchios salotto
schoben. Irgendwie war ihr Leben in den letzten drei Stunden
komplett aus den Fugen geraten. Sie sah zwei Motorradpolizisten,
einen großen und einen kleinen, die gerade mit einem Eis in der
Hand auf ihre Maschinen zuschlenderten.
»Stopp!«, rief sie, prompt trat Dimitri auf die
Bremse, und Magdalena knallte von hinten gegen Taschas Sitz.
»’tschuldigung, aber ich wollte sehen, ob ich die
kenne …«
Sie waren es tatsächlich: Massimo und
Gian-Luca.
»Ich muss aussteigen, es tut mir leid, danke fürs
Mitnehmen. Ich wünsch dir alles Gute, Tascha!« Magdalena hörte sich
selbst bei ihren Worten zu. Sie meinte das alles wirklich ernst,
stellte sie erstaunt fest. Sie stieg aus und rannte barfuß auf die
carabinieri zu.
»Maddalena! In der Bar haben sie gesagt, du bist
krank!«
»Bin ich auch!« Sie zeigte wie zum Beweis auf ihre
nackten Füße.
»Eine Frage: Was passiert hier mit Leuten, die
Drogen nehmen?«
»Hä?!« Die beiden schauten sich an. »Ihr raucht
doch auch, oder?«
»Nein, nicht wirklich«, Massimo schüttelte den
Kopf, »dürfen wir ja gar nicht«, sagte er belehrend.
»Ach was? Ehrlich nicht?« Ihre Stimme klang
schrill.
»Vielleicht ab und zu mal eine canna, das
ist ja auch nicht so schlimm«, beeilte sich Gian-Luca zu
sagen.
»Koks?«
»Ouuh …« Sie schauten sich wieder an, jetzt
alarmiert. »Das ist schlecht, Maddalena, das ist nicht so lustig.
Lass mal lieber die Finger davon, ist gerade hier auf Elba gar
nicht angesagt, der neue sindaco …«
»Ich doch nicht, aber ich kenne jemanden,
der verkauft das Zeug in großem Stil.« Magdalena erzählte ihnen,
was auf dem Boot passiert war, und berichtete von ihrer Flucht. Die
Sache mit dem Sex ließ sie weg. So wie sie gerade aussah, würden
die beiden sich ohnehin ihren Reim darauf machen. Massimo konnte
seinen Blick kaum von ihren Brustwarzen abwenden, die sich unter
dem nassen T-Shirt abzeichneten und sich zudem auf seiner Augenhöhe
befanden.
»Wenn wir jemanden schicken, darfst du aber nicht
mehr dort im Haus sein, es wird sonst schwierig, dich aus der Sache
herauszuhalten. Die nehmen immer erst mal alle mit, die sie
vorfinden.«
»Ich gehe jetzt meine Sachen packen.«
»Du?«
»Allein?«
»Niemals!«
Unter Polizeischutz, auf dem Sozius von Massimos
Motorrad, wurde Magdalena zu ihrem ehemaligen Haus gebracht. Sie
parkten auf dem Kirchplatz. »Ich habe keinen Schlüssel!« Die
carabinieri wechselten unsichere Blicke, Magdalena konnte
den Zweifel in ihren jungen Gesichtern aufblinken sehen. »Hier,
dort drüben steht mein Roller!«
»War der nicht blau?«, murmelte Massimo Gian-Luca
zu. Glaubten sie etwa, sie wolle unter Polizeiaufsicht bei jemandem
einbrechen, nur um sich zu rächen?
»Vielleicht wisst ihr das nicht, aber Nina hat auch
etwas ähnlich Schlimmes mit ihm erlebt«, sagte sie ohne schlechtes
Gewissen. Irgendetwas Mieses musste Nina ja mit Roberto
erlebt haben.
Das überzeugte die beiden, mit neuem Elan
hantierten sie am Türschloss herum, aber weder die Kreditkarte noch
der
kleine Dietrich, den Massimo stolz an seinem Schlüsselbund
präsentiert hatte, half ihnen beim Öffnen der Tür. Verzweifelt
trippelte Magdalena eine Runde um die Motorräder, kleine Steinchen
piekten ihr in die Fußsohlen, sie lauschte nach einem Geräusch,
alles war ruhig, aber wie lange würde es noch dauern, bis Roberto
es geschafft hatte, vom Boot herunterzukommen und hier
aufzutauchen? Sie streichelte ihrem Roller über den vom Tau
benetzten Sattel. »Hier!«, schrie sie auf und schlug sich an die
Stirn. »Da steckt mein Schlüssel, da steckt schon den ganzen Tag
mein Schlüssel!«
Erleichtert schloss Magdalena die Haustür auf und
raffte im Vorbeigehen alles zusammen, was ihr gehörte: Wörterbuch,
Ladegerät fürs Handy, Sonnencreme, die italienischen Krimis. In
ihrem Kämmerchen nahm sie als Erstes die Fotos ihrer Mutter von der
Wand, dann holte sie ihre beiden Reisetaschen hinter den Vorhängen
des Regals hervor und begann, ihre Klamotten hineinzustopfen.
Hosen, T-Shirt-Stapel, die dünnen Strickjacken, die farbigen
Sommerkleidchen und die wunderschöne Unterwäsche. Sechs Paar
Schuhe, meine Güte, wie viel sich in der kurzen Zeit angesammelt
hatte. Bis auf die Kleider hatte sie fast alles zusammen mit Nina
gekauft. Doch an Nina wollte sie jetzt nicht denken. Matteo? An den
lieber auch nicht. Sie fühlte sich voller Ekel. Immer noch
verängstigt. Wie hatte sie da nur reingeraten können? Sie hatte
sich furchtbar leichtsinnig verhalten.
Magdalena streifte das nasse T-Shirt und die Hose
ab und zog sich Unterwäsche, Jeans und eine weiche Sweatshirtjacke
über. Sie schluchzte mehrmals kurz hintereinander auf wie ein
kleines Kind. Nur haarscharf war sie an der Katastrophe
vorbeigeschrappt.
»Es war keine Vergewaltigung, jetzt beruhig dich
mal«,
flüsterte sie sich zu, »vaffanculo, Roberto!« Es half ein
wenig. Magdalena ging in die Küche. »Hier«, sagte sie zu Massimo
und hielt ihm eine Plastiktüte hin, »such im Bad bitte alles
zusammen, was mir gehören könnte!« Keine Minute länger als nötig
wollte sie in diesem Haus bleiben. Mit den gepackten Taschen
standen sie zwanzig Minuten später wieder auf dem Vorplatz.
»Moment«, sagte sie, bevor sie die Tür ins Schloss
zog, und ging noch einmal hinein. Sie zog die Besteckschublade ganz
weit heraus, nahm die schwarze, flache Kiste an sich und hüllte sie
in eine braune Papiertüte, aus der sie vorher ein hart gewordenes
Stück Brot schüttelte.
»So, jetzt haben wir alles.« Sie stopfte die
Papiertüte in eine der Reisetaschen und sah Gian-Luca dabei zu, wie
er sie hinten auf ihrem Roller mit einem Spanngurt befestigte. Die
andere Tasche würde sie vorn zwischen ihre Füße stellen. »Ich habe
über Funk mit meinem Vorgesetzten gesprochen, morgen früh um acht
solltest du besser nicht hier sein …«
»Du bist fantastisch, Gian-Luca!« Sie drückte ihm
einen Kuss auf die Wange, die er ihr bereitwillig hinhielt. Er
lächelte verlegen.
»Du natürlich auch, Massimo, tausend Dank!« Sie
beugte sich zu ihm hinunter.
»Wo wirst du heute schlafen?«, fragte Massimo.
Darüber hatte sie auch schon nachgedacht. Bei einem von den beiden?
Wahrscheinlich wohnten sie noch zu Hause, und ihr Erscheinen würde
eine italienische Mamma, wahrscheinlich sogar eine ganze Familie in
höchste Alarmstufe versetzen. Ausgeschlossen. Nina? Fiel auch aus.
In der Hängematte im Zitronengarten? Sie wollte Matteo nicht
begegnen, außerdem hatte sie Angst, alleine draußen zu sein. Blieb
nur noch Holger. Er hatte oft späte Kunden und räumte danach seinen
Laden auf,
bevor er schließlich zu ihr in die Bar kam, um seinen Espresso zu
trinken.
»Bei einem Freund auf einem rosa Sofa«, sagte
sie.
Sie hatte Glück, im Laden war noch Licht.
Magdalena blieb mit ihren Taschen vor der Tür stehen und klopfte.
Holger schaute auf, seine Miene war nicht sonderlich überrascht,
als er ihr öffnete.
»Bist du auf der Flucht?«
»Ja!«
»So schlimm?«
Sie nickte. »Ich muss heute bei dir
übernachten.«
»Okay. Erzähl!«
In wenigen Sätzen erklärte sie ihm, was passiert
war.
»Was für eine Geschichte!«, sagte er ein ums andere
Mal.
»Gut, dass du da vom Boot runtergekommen bist,
Schätzele! Aber wo packen wir dich heute Nacht hin? Ich würde dir
gerne mein Bett anbieten, aber ich habe schon Besuch.« Er zuckte
theatralisch mit den Schultern.»Ein alter Freund aus Deutschland,
ach, nervig irgendwie. Kommt hier an, hat kein Geld, sagt, mach dir
keine Umstände, aber was tut er? Er fordert, fordert, fordert. Die
Insel ist ihm zu voll, der Cappuccino zu teuer, die Männer nicht
hübsch genug, die Szene zu klein.« Er hielt inne. »Aber was
quatsche ich dich damit voll…? Du brauchst ein Bett, Sicherheit,
einen Raum, den du abschließen kannst. Bleibt nur die gute alte
Chaiselongue.«
»Danke, Holger, mi hai salvato la vita!« Sie
zuckte zusammen, wie ekelhaft, du hast mir das Leben gerettet, das
war der erste Satz, den Roberto zu ihr gesagt hatte. Na und, sie
würde sich von Roberto nicht den Rest ihres Lebens und ihrer Sätze
diktieren lassen!
»Morgen früh muss ich dich allerdings um halb
sieben wecken,
der Klempner kommt endlich wegen des Heißwasserboilers, die fangen
hier ja alle noch früher an als in Deutschland. Wegen der Hitze und
so.«
»Halb sieben ist perfekt!«
Holger grinste, wurde aber wieder ernst, als er
ihren Blick sah. »Es gibt dann auch einen Espresso!«