38
Der Mann ließ sie oben an der Straße raus. »Grazie!« Magdalena warf die Tür zu, barfuß, mit einem nassen T-Shirt aber immerhin langen Hosen stand sie auf dem Asphalt im Licht der Straßenlaterne, die die Kreuzung erhellte. Er bog nach links, Richtung Portoferraio, aber da wollte sie nicht hin. Ins POLO, überlegte sie kurz, nein, niemals. Ich muss ins Haus und meine Sachen holen, bevor Roberto auftaucht! Sie hielt den Daumen raus, es war genug Verkehr, um diese Zeit fuhren alle zum Essen, zum Bummeln, zum Espressotrinken, irgendjemand würde sie mitnehmen. Ein Wagen nach dem anderen fuhr vorbei, offensichtlich machte sie nicht gerade den besten Eindruck. Ein weiteres Auto kam vom Strand hochgefahren. Magdalena verspürte den dringenden Wunsch, wegzulaufen und sich zu verstecken. Konnte das Roberto mit den anderen beiden sein? Nein, ohne Beiboot waren sie nicht so schnell, sie mussten erst mal den Anker lichten. Roberto, der Trottel, hatte sich ja heute Nachmittag geweigert, es von ihr zu lernen. Segeln konnten sie alle drei nicht, sie waren auch noch stolz darauf gewesen, und mit reiner Motorkraft dauerte es mindestens zwei Stunden, bis sie wieder in Portoferraio im Hafen einliefen. Der Wagen hielt. Ein blondes Mädchen saß auf dem Beifahrersitz, langsam glitt die Scheibe herunter.
»Tascha!«
»Na so wat, hallo! Du bist das, na komm, steig ein, wat is’n passiert, wat stehs’te hier so abjerissen mitten in der Nacht rum?«
Magdalena sprang auf die Rückbank.
»Ich freue mich so, dich zu sehen!« Sie beugte sich vor und berührte Tascha an der Schulter, sie musste unbedingt jemanden anfassen. Sie fuhren am POLO vorbei, vorbei am Club 64, die Uhr über dem Radio zeigte noch nicht einmal zehn.
»Haste am Strand die Zeit vergessen? Wir sind da unten im Hotel, nobler Laden, sage ich dir! Dimitri ist ein Süßer!« Der Mann neben ihr legte seine Hand auf Taschas nacktes Knie. Es war der Typ mit dem vorspringenden Kinn aus der Diskothek, wunderbar, es gibt doch noch wahre Liebe auf dieser Insel, dachte Magdalena, und ihre Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben. Gut so, sie konnte fast schon wieder lachen, hier in dieser dicken Limousine hatte sie keine Angst mehr, sie wollte sich nur noch rächen.
»Wo willste denn hin? Wir gehen in Marina di Campo essen.«
»Ich muss nach La Pila, gegenüber vom Flughafen, da wohne ich.« Mist, sie hatte keinen Schlüssel und auch kein Geld, ihre Handtasche, Handy, Papiere, alles war an Bord geblieben.
 
Als sie nach Procchio hineinfuhren, wurde Magdalena ganz seltsam zumute. Fast zwei Monate lang hatte sie dort drüben in der Bar Elba Abend für Abend Tabletts geschleppt und Tische abgewischt. Sie sah ihr Double unter den Arkaden stehen, es hielt die blauen Karten in der Hand und schrieb die Bestellungen auf einen Block. Dort müsste sie jetzt eigentlich stehen. Saß sie wirklich hier im Auto? Vielleicht war das alles auch nur ein sehr realistischer Traum gewesen, es gab keinen Beweis für das, was ihr heute Abend passiert war. Sie umrundeten den Parkplatz, sehnsüchtig schaute Magdalena auf die Autos und die Touristen dahinter, die sich in Massen durch Procchios salotto schoben. Irgendwie war ihr Leben in den letzten drei Stunden komplett aus den Fugen geraten. Sie sah zwei Motorradpolizisten, einen großen und einen kleinen, die gerade mit einem Eis in der Hand auf ihre Maschinen zuschlenderten.
»Stopp!«, rief sie, prompt trat Dimitri auf die Bremse, und Magdalena knallte von hinten gegen Taschas Sitz.
»’tschuldigung, aber ich wollte sehen, ob ich die kenne …«
Sie waren es tatsächlich: Massimo und Gian-Luca.
»Ich muss aussteigen, es tut mir leid, danke fürs Mitnehmen. Ich wünsch dir alles Gute, Tascha!« Magdalena hörte sich selbst bei ihren Worten zu. Sie meinte das alles wirklich ernst, stellte sie erstaunt fest. Sie stieg aus und rannte barfuß auf die carabinieri zu.
»Maddalena! In der Bar haben sie gesagt, du bist krank!«
»Bin ich auch!« Sie zeigte wie zum Beweis auf ihre nackten Füße.
»Eine Frage: Was passiert hier mit Leuten, die Drogen nehmen?«
»Hä?!« Die beiden schauten sich an. »Ihr raucht doch auch, oder?«
»Nein, nicht wirklich«, Massimo schüttelte den Kopf, »dürfen wir ja gar nicht«, sagte er belehrend.
»Ach was? Ehrlich nicht?« Ihre Stimme klang schrill.
»Vielleicht ab und zu mal eine canna, das ist ja auch nicht so schlimm«, beeilte sich Gian-Luca zu sagen.
»Koks?«
»Ouuh …« Sie schauten sich wieder an, jetzt alarmiert. »Das ist schlecht, Maddalena, das ist nicht so lustig. Lass mal lieber die Finger davon, ist gerade hier auf Elba gar nicht angesagt, der neue sindaco …«
»Ich doch nicht, aber ich kenne jemanden, der verkauft das Zeug in großem Stil.« Magdalena erzählte ihnen, was auf dem Boot passiert war, und berichtete von ihrer Flucht. Die Sache mit dem Sex ließ sie weg. So wie sie gerade aussah, würden die beiden sich ohnehin ihren Reim darauf machen. Massimo konnte seinen Blick kaum von ihren Brustwarzen abwenden, die sich unter dem nassen T-Shirt abzeichneten und sich zudem auf seiner Augenhöhe befanden.
»Wenn wir jemanden schicken, darfst du aber nicht mehr dort im Haus sein, es wird sonst schwierig, dich aus der Sache herauszuhalten. Die nehmen immer erst mal alle mit, die sie vorfinden.«
»Ich gehe jetzt meine Sachen packen.«
»Du?«
»Allein?«
»Niemals!«
 
Unter Polizeischutz, auf dem Sozius von Massimos Motorrad, wurde Magdalena zu ihrem ehemaligen Haus gebracht. Sie parkten auf dem Kirchplatz. »Ich habe keinen Schlüssel!« Die carabinieri wechselten unsichere Blicke, Magdalena konnte den Zweifel in ihren jungen Gesichtern aufblinken sehen. »Hier, dort drüben steht mein Roller!«
»War der nicht blau?«, murmelte Massimo Gian-Luca zu. Glaubten sie etwa, sie wolle unter Polizeiaufsicht bei jemandem einbrechen, nur um sich zu rächen?
»Vielleicht wisst ihr das nicht, aber Nina hat auch etwas ähnlich Schlimmes mit ihm erlebt«, sagte sie ohne schlechtes Gewissen. Irgendetwas Mieses musste Nina ja mit Roberto erlebt haben.
Das überzeugte die beiden, mit neuem Elan hantierten sie am Türschloss herum, aber weder die Kreditkarte noch der kleine Dietrich, den Massimo stolz an seinem Schlüsselbund präsentiert hatte, half ihnen beim Öffnen der Tür. Verzweifelt trippelte Magdalena eine Runde um die Motorräder, kleine Steinchen piekten ihr in die Fußsohlen, sie lauschte nach einem Geräusch, alles war ruhig, aber wie lange würde es noch dauern, bis Roberto es geschafft hatte, vom Boot herunterzukommen und hier aufzutauchen? Sie streichelte ihrem Roller über den vom Tau benetzten Sattel. »Hier!«, schrie sie auf und schlug sich an die Stirn. »Da steckt mein Schlüssel, da steckt schon den ganzen Tag mein Schlüssel!«
Erleichtert schloss Magdalena die Haustür auf und raffte im Vorbeigehen alles zusammen, was ihr gehörte: Wörterbuch, Ladegerät fürs Handy, Sonnencreme, die italienischen Krimis. In ihrem Kämmerchen nahm sie als Erstes die Fotos ihrer Mutter von der Wand, dann holte sie ihre beiden Reisetaschen hinter den Vorhängen des Regals hervor und begann, ihre Klamotten hineinzustopfen. Hosen, T-Shirt-Stapel, die dünnen Strickjacken, die farbigen Sommerkleidchen und die wunderschöne Unterwäsche. Sechs Paar Schuhe, meine Güte, wie viel sich in der kurzen Zeit angesammelt hatte. Bis auf die Kleider hatte sie fast alles zusammen mit Nina gekauft. Doch an Nina wollte sie jetzt nicht denken. Matteo? An den lieber auch nicht. Sie fühlte sich voller Ekel. Immer noch verängstigt. Wie hatte sie da nur reingeraten können? Sie hatte sich furchtbar leichtsinnig verhalten.
Magdalena streifte das nasse T-Shirt und die Hose ab und zog sich Unterwäsche, Jeans und eine weiche Sweatshirtjacke über. Sie schluchzte mehrmals kurz hintereinander auf wie ein kleines Kind. Nur haarscharf war sie an der Katastrophe vorbeigeschrappt.
»Es war keine Vergewaltigung, jetzt beruhig dich mal«, flüsterte sie sich zu, »vaffanculo, Roberto!« Es half ein wenig. Magdalena ging in die Küche. »Hier«, sagte sie zu Massimo und hielt ihm eine Plastiktüte hin, »such im Bad bitte alles zusammen, was mir gehören könnte!« Keine Minute länger als nötig wollte sie in diesem Haus bleiben. Mit den gepackten Taschen standen sie zwanzig Minuten später wieder auf dem Vorplatz.
»Moment«, sagte sie, bevor sie die Tür ins Schloss zog, und ging noch einmal hinein. Sie zog die Besteckschublade ganz weit heraus, nahm die schwarze, flache Kiste an sich und hüllte sie in eine braune Papiertüte, aus der sie vorher ein hart gewordenes Stück Brot schüttelte.
»So, jetzt haben wir alles.« Sie stopfte die Papiertüte in eine der Reisetaschen und sah Gian-Luca dabei zu, wie er sie hinten auf ihrem Roller mit einem Spanngurt befestigte. Die andere Tasche würde sie vorn zwischen ihre Füße stellen. »Ich habe über Funk mit meinem Vorgesetzten gesprochen, morgen früh um acht solltest du besser nicht hier sein …«
»Du bist fantastisch, Gian-Luca!« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, die er ihr bereitwillig hinhielt. Er lächelte verlegen.
»Du natürlich auch, Massimo, tausend Dank!« Sie beugte sich zu ihm hinunter.
»Wo wirst du heute schlafen?«, fragte Massimo. Darüber hatte sie auch schon nachgedacht. Bei einem von den beiden? Wahrscheinlich wohnten sie noch zu Hause, und ihr Erscheinen würde eine italienische Mamma, wahrscheinlich sogar eine ganze Familie in höchste Alarmstufe versetzen. Ausgeschlossen. Nina? Fiel auch aus. In der Hängematte im Zitronengarten? Sie wollte Matteo nicht begegnen, außerdem hatte sie Angst, alleine draußen zu sein. Blieb nur noch Holger. Er hatte oft späte Kunden und räumte danach seinen Laden auf, bevor er schließlich zu ihr in die Bar kam, um seinen Espresso zu trinken.
»Bei einem Freund auf einem rosa Sofa«, sagte sie.
 
Sie hatte Glück, im Laden war noch Licht. Magdalena blieb mit ihren Taschen vor der Tür stehen und klopfte. Holger schaute auf, seine Miene war nicht sonderlich überrascht, als er ihr öffnete.
»Bist du auf der Flucht?«
»Ja!«
»So schlimm?«
Sie nickte. »Ich muss heute bei dir übernachten.«
»Okay. Erzähl!«
In wenigen Sätzen erklärte sie ihm, was passiert war.
»Was für eine Geschichte!«, sagte er ein ums andere Mal.
»Gut, dass du da vom Boot runtergekommen bist, Schätzele! Aber wo packen wir dich heute Nacht hin? Ich würde dir gerne mein Bett anbieten, aber ich habe schon Besuch.« Er zuckte theatralisch mit den Schultern.»Ein alter Freund aus Deutschland, ach, nervig irgendwie. Kommt hier an, hat kein Geld, sagt, mach dir keine Umstände, aber was tut er? Er fordert, fordert, fordert. Die Insel ist ihm zu voll, der Cappuccino zu teuer, die Männer nicht hübsch genug, die Szene zu klein.« Er hielt inne. »Aber was quatsche ich dich damit voll…? Du brauchst ein Bett, Sicherheit, einen Raum, den du abschließen kannst. Bleibt nur die gute alte Chaiselongue.«
»Danke, Holger, mi hai salvato la vita!« Sie zuckte zusammen, wie ekelhaft, du hast mir das Leben gerettet, das war der erste Satz, den Roberto zu ihr gesagt hatte. Na und, sie würde sich von Roberto nicht den Rest ihres Lebens und ihrer Sätze diktieren lassen!
»Morgen früh muss ich dich allerdings um halb sieben wecken, der Klempner kommt endlich wegen des Heißwasserboilers, die fangen hier ja alle noch früher an als in Deutschland. Wegen der Hitze und so.«
»Halb sieben ist perfekt!«
Holger grinste, wurde aber wieder ernst, als er ihren Blick sah. »Es gibt dann auch einen Espresso!«
Magdalenas Garten
gers_9783641048662_oeb_cover_r1.html
gers_9783641048662_oeb_toc_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ded_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c01_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c02_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c03_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c04_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c05_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c06_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c07_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c08_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c09_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c10_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c11_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c12_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c13_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c14_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c15_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c16_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c17_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c18_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c19_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c20_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c21_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c22_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c23_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c24_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c25_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c26_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c27_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c28_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c29_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c30_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c31_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c32_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c33_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c34_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c35_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c36_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c37_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c38_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c39_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c40_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c41_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c42_r1.html
gers_9783641048662_oeb_elg_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ack_r1.html
gers_9783641048662_oeb_cop_r1.html