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Es war Matteo, der sie entdeckte.
»Magdalena! Schön, dass ich dich doch noch sehe.
Aber was tust du hier, musst du nicht von Bord!? Wir legen gleich
ab!« Mit einer kleinen Reisetasche in der Hand kam er als einer der
Ersten die Stufen von den Parkplätzen herauf, doch Magdalena
schaute nur kurz zu ihm und blickte dann wieder aufmerksam auf die
anderen Passagiere. Wo war der Freund?
»Was ist mit dir los, was starrst du so? Hast du
heimlich eine von Mikkis Kräuterzigaretten geraucht? Du wirkst so
abwesend.«
»Nein, ja, ich habe ihn gesehen, neben dir, wo ist
er, der Mann, mit dem du eben geredet hast, dein Freund?«
Er guckte sie an, als verstünde er plötzlich kein
Deutsch mehr.
»Na, dein Freund! Der mit dem Auto!«
»Mein Freund? Der mit dem Auto?«
»Ach, Matteo, der Mann, mit dem du eben unten vor
dem Einsteigen geredet hast, wer war das?«
»Ach, du meinst Giovanni! Dem gehört das
Tintorello.«
»Aber hast du ihn dir denn nie richtig angeschaut!?
Er sieht doch genauso aus wie der Mann auf dem Foto neben meiner
Mutter, er ist der Mann auf dem Foto neben meiner Mutter,
das hätte dir doch auffallen müssen!« Sie ließ ihre Augen immer
noch suchend über die Passagiere gleiten.
»Bist du sicher, dass du keine Kräuter geraucht
hast? Giovanni?!«
»Ja klar, wie alt ist er?«
»Vielleicht Ende vierzig? Keine Ahnung, habe ihn
nie gefragt.«
»Na also, das passt doch. Wo ist er?«
»Keine Ahnung. Muss sich wohl von meiner Hand
losgerissen haben.«
Magdalena starrte ihn wütend an. Keine Ahnung,
keine Ahnung. Es war zum Verzweifeln. Kapierte er denn nicht, wie
wichtig dieser Mann für sie war?
»Ich muss ihn finden! Er ist doch mit dir auf die
Fähre gekommen.«
»Ja. Aber was ist mit dir? Du musst doch
gehen!«
»Ich muss gehen? Warum?« Ihre Stimme klang patzig.
Gut so. Sollte sie auch. Er wollte, dass sie verschwand, er war
froh gewesen, sie endlich los zu sein, keine zweideutigen
Situationen im Zitronengarten, keinen Ärger mit Nina mehr. Sie
hatte seine Erleichterung mit ihrem Auftauchen schlagartig
zunichtegemacht.
»Was ist mit dem Bus?« Magdalena zuckte zusammen,
ach verdammt, der Bus! Ohne den Menschenstrom aus den Augen zu
lassen, holte sie ihr Handy hervor und rief Stefan an.
»Ich komme nicht mit«, rief sie ins Telefon, »warte
nicht auf mich, es ist etwas Wunderbares passiert: Ich habe meinen
Vater gefunden!« Magdalena sah, wie Matteo neben ihr die Augen
verdrehte, sie wartete Stefans Reaktion nicht ab, sondern beendete
das Gespräch per Tastendruck. Matteo glaubte ihr nicht, und wenn
schon, sie hatte nur eine Stunde, und die Fähre war riesig, wenn
sie diesen Giovanni jetzt hier am Aufgang im Gedränge verpasste und
sie ihn vor der Ankunft in Portoferraio erwischen wollte, musste
sie sich beeilen.
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich bleibe hier stehen, bis er vorbeikommt!«
Matteo schaute sie von der Seite her an. »Aha, du
bleibst hier jetzt stehen. Du bist doch total neben den Schuhen, er
ist gar nicht von Elba, er kommt aus den Abruzzen und hat das
Tintorello erst seit zehn Jahren, wie kann er dein Vater
sein? Ich glaube kaum …«
»Aber ausschließen kannst du es auch nicht,
oder?«
»Nein, natürlich nicht«, gab Matteo zu. »Du fährst
also wieder zurück nach Elba und bleibst?«
»Vielleicht?!« Magdalena beobachtete seinen
Gesichtsausdruck, kam da Unbehagen auf, erschien die Falte zwischen
seinen Augenbrauen, wie immer, wenn er sich ärgerte?
»Gut. Nina wird sich freuen.«
»Nina wird sich nicht freuen, das weiß ich
auch! Ich werde sie nicht belästigen, und dich auch nicht, ich
suche mir ein Hotel.«
Sie merkte, dass er an ihr herabschaute. »Das
T-Shirt und die Schuhe …«
»Ja, die hat sie mir heute Nachmittag
geschenkt.«
»Sag ich doch, sie mag dich, aber sie hat
Angst.«
»Wovor?«
»Das kann ich dir nicht erzählen, weil ich
versprochen habe, es für mich zu behalten.«
Magdalena stöhnte, unablässig scannten ihre Augen
die heraufkommenden Menschen ab. »Ich finde ihn nicht mehr!«
»Vielleicht erscheint dir mein Verhalten seltsam,
aber Nina hat nun mal Vorrecht in meinem Leben.«
»Um dich zu beruhigen: In meinem Leben hat
mein Vater Vorrecht, wie du es nennst, okay?«
»Na gut, ich helfe dir suchen, aber überfall ihn
nicht gleich, überlass das Reden lieber mir. Ich kenne ihn, er ist
manchmal etwas emotional, um nicht zu sagen
esplosivo.«
»Gut.« Magdalena nickte dankbar, sie würde vor
Aufregung sowieso kein vernünftiges Wort herausbekommen.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Als sie ihn
endlich alleine an einem der runden Tische in der Nähe der Bar im
Salone Grande auf Deck II entdeckten, fiel Magdalena in eine
ehrfürchtige Erstarrung, die man als Trance bezeichnen konnte.
Matteo schubste sie mit dem Ellbogen leicht vor sich her.
»Guten Tag musst du ihm schon sagen!«
»Ich trau mich nicht!«, wisperte sie. Eine Sekunde
lang standen sie wie zwei verloren gegangene Kinder vor dem
Tisch.
»Giovanni«, sagte Matteo, »ich will dich nicht
stressen, aber vielleicht können wir uns bei Gelegenheit mal einen
Augenblick in Ruhe unterhalten …«
»Äh, ja?« Der so Angesprochene schaute irritiert
von seiner Zeitung auf, er schien Magdalena gar nicht zu
bemerken.
»Weißt du, was, ich komme am besten in den nächsten
Tagen mal zu dir ins Tintorello.«
»Okay«, sagte Giovanni gleichgültig und nickte
Matteo zu.
Magdalena erwachte aus ihrem Traumzustand. Was
sollte das denn, warum rückte Matteo nicht mit seinem Anliegen
heraus? Wieso fragte er ihn nicht direkt, er hatte noch nicht
einmal ihren Namen erwähnt. Sie befürchtete gleich zu platzen. »Ich
bin deine Tochter, Heidis Tochter! Ihr habt euch gekannt und
geliebt damals, neunzehnhundertneunundsiebzig, und dann ist sie
schwanger geworden, und deswegen bin ich …«
Eine Frau mit zwei asiatisch aussehenden
Kleinkindern hatte sich an den Tisch geschoben, sie schaute mit
offen stehendem Mund zwischen Giovanni und Magdalena hin und her
und sah dabei nicht besonders intelligent aus.
»… deine Tochter!« Magdalena nickte.
Wenn aus dem Jungen von dem Foto ein Mann geworden
war, dann der, der hier vor ihr saß. Augenbrauen, Nase, alles
…
In diesem Augenblick brach Giovanni in Gelächter
aus, so schrill und verächtlich, dass alle Passagiere des Decks
sich nach ihnen umwandten. Sein Mund war zu einem bitteren,
rechteckigen Grinsen verzerrt, daraus drangen Laute, die Magdalena
nicht verstand, weil Matteo sie schon am Arm mit sich zog.