18
So«, Magdalena stellte sich neben die zwei anwesenden Gäste an den Tresen und legte beide Hände erwartungsvoll auf die Marmorplatte. Wo war Sara, die kleine nette Frau, die sie eingestellt hatte? Sie war nicht zu sehen, nur Walter, ihr Mann, der sie beim Hineinkommen mit einem angedeuteten Kopfnicken gegrüßt hatte, lehnte hinter der Bar und schwieg. Magdalenas Armbanduhr zeigte fünf vor halb neun, sie war mehr als pünktlich. Keine Regung auf der anderen Seite. Walter polierte jetzt angestrengt ein Glas, hielt es gegen das Licht, polierte weiter. Magdalena ging zur Kuchentheke und wieder zurück, die zwei Männer am Tresen folgten ihren Bewegungen mit dem Kopf wie bei einem Tennismatch. Sie ging zur Tür, warf einen Blick hinaus auf »ihre« Tische unter der Holzpergola. Alle unbesetzt. Sie wanderte wieder hinein. »Allora«, versuchte sie es noch mal aufmunternd in Walters Richtung, der nun das Geschirrtuch über die Schulter gelegt hatte und vor sich hin starrte. Nutzlos strichen ihre Hände an den Seiten ihrer Oberschenkel auf und ab, hinter den Tresen zu Walter traute sie sich nicht. Warum sagte er ihr nicht, was zu tun war? Magdalena floh in den Innenhof und begann zwischen den Tischen hin und her zu gehen. Die Blüten der Passionsblume waren zusammengefaltet, ihr Blau war in dem abendlichen Licht zu einem satten Violett geworden. Sie musste unwillkürlich an Nina denken, Nina die Kletterpflanze, die von allen bewundert wurde, die alles konnte. Seit zwei Tagen hatte Magdalena nichts von ihr gehört, sie rief nicht zurück und beantwortete keine ihrer SMS, bis auf die erste: ›Melde mich, wenn’s passt!‹ Melde mich, wenn’s passt, dachte Magdalena schnaubend. Es passt wohl nicht, da ist eben jemand wichtiger als die dumme Magdalena, die kann ja warten, die wird schon noch da sein, wenn Frau Nina Nannini sich mal bequemt, den Wohnwagen zu besichtigen! Magdalena schaute an sich herab. Was sie sah, gefiel ihr, Ninas Kleiderauswahl war perfekt auf sie abgestimmt. Sie wusste jeden Tag, was sie anziehen sollte, und konnte fast alles miteinander kombinieren: lange weite Hosen, enge Caprihosen, T-Shirts in hellen Farben, knappe Tops, kurze Kleidchen, die über den Hosen zu tragen waren und ihr laut Nina einen femininen Touch gaben, der sie zusammen mit ihrer neuen Frisur einfach unwiderstehlich machte. Die Klamotten saßen, die Haare auch, Projekt Magdalena erfolgreich beendet. Für eine ganz normale Freundschaft ohne Katastropheneinsatz war Nina offensichtlich nicht geschaffen.
Die Zeit verging, niemand kam, um nach ihr zu sehen, Magdalena zählte die Tische wieder und wieder. Sie entdeckte eine schmale Tür, die ihr bei ihrem Bewerbungsgespräch gar nicht aufgefallen war. Mit schwarzem Filzstift hatte jemand WC daraufgeschrieben. Nach ein paar weiteren ereignislosen Minuten folgte sie dem warmen Plätzchengeruch des laboratorio und spähte durch den Türspalt in den dämmrigen Raum. Die Arbeitsflächen waren silbrig blank, alles lag an seinem Platz, mehrere weiße Kittel hingen ordentlich an einer Hakenreihe, der große Quirl einer Rührmaschine schwebte vielversprechend über der leeren Schüssel in der Luft. Magdalena sah sich kurz um und schlüpfte dann in die Backstube. Ein rechteckiger Behälter voller Eiscreme stand schief auf der Arbeitsfläche neben der Tür. Sie rückte ihn mit einem Finger gerade, er war kalt, Wassertröpfchen hatten sich an dem Metall gebildet. Mit geblähten Nasenflügeln beugte sie sich hinab, sodass ihre Nasenspitze die braune Oberfläche fast berührte. Nussgeschmack, vermutete sie. Ihr Zeigefinger schwebte über der Masse. Nur einmal probieren. Mmmh. Köstlich. Wieder und wieder tauchte ihr Finger in die cremige Masse und füllte danach süß ihren Mund. Dann besah sie ihr Werk. Na prima, sie würde sofort rausfliegen, noch heute Abend, warum ging sie nicht lieber gleich? Es war warm hier drinnen, kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie versuchte die verwüstete Eiscreme-Landschaft zu glätten, ihre Finger wurden dabei eiskalt. Ging doch, wenn sie alles durchrührte, sah man es kaum.
»Ecco qua!« Sie schreckte zusammen, hinter ihr stand ein bärtiger kleiner Mann, ach hier bist du! »Piacere, Franco«, stellte er sich vor. »Damit«, er drückte ihr einen Lappen in die Hand, »kannst du die Tische abwischen, und das hier schmeißen wir jetzt ganz schnell weg. Sara sagte, es hätte aus Versehen den ganzen Nachmittag draußen gestanden und dann wieder in der Kühlung, das kann man den Kunden natürlich nicht mehr zumuten.« Sein Italienisch war sauber akzentuiert und mühelos zu verstehen, er packte den Behälter und stellte ihn mit einem dumpfen Knall in das tiefe Spülbecken. »Lass einfach heißes Wasser drauflaufen«, schon war er wieder aus der Tür.
Ohne ein Wort geantwortet zu haben, verharrte Magdalena für einige Sekunden auf derselben Stelle, automatisch wischte sie sich mit dem Lappen die Hände ab. Dann rannte sie hinaus, schlängelte sich zwischen Tischen und Stühlen hindurch und schaffte es gerade noch rechtzeitig, die WC-Tür hinter sich zu schließen.
 
An diesem Abend stand Magdalena dank Franco keine Sekunde mehr müßig herum. Sie wischte die Tische und die klebrigen Getränkekarten mit Seifenwasser ab und versuchte, die Preise auswendig zu lernen. Sie ließ sich von Franco erklären, wie die kleine Spülmaschine zu befüllen war, und reinigte die Aschenbecher von den Tischen draußen mit einem Pinsel, der mit einem Band an einen extra für diesen Zweck bereitstehenden Mülleimer gebunden war. Ab zehn Uhr wurde es langsam voller.
Der Innenhof blieb bis auf zwei Tische leer, doch auf der Straße waren alle Tische schnell immer wieder besetzt. Die Gäste bestellten bei ihr Espresso und Eisbecher, seltener etwas wie Wein oder Bier. Magdalena verstand weniger, als sie erhofft hatte, sagte dennoch »Si, grazie!« und eilte mit ihren in Lautschrift aufgeschriebenen Notizen zu Franco. Un crodino, due aleatico, una media, due spritz, un decaffeinato, was immer das war, sie nahm, was Franco ihr auf das Tablett stellte, und versuchte sich zu erinnern, welcher Tisch was bekam. Wenn jemand zahlen wollte, musste sie Franco hinter der Kasse die Getränke aus dem Gedächtnis oder ihren krakeligen Aufzeichnungen diktieren, mit dem Bon lief sie zum Tisch, kassierte und brachte das Geld wieder zu Franco. Sie nahm sich vor, für morgen Abend ein anderes System zu erfinden. Was passierte, wenn alle Tische im Innenhof besetzt sein sollten? Das Chaos war vorprogrammiert. Um Mitternacht war Schluss, Walter war schon lange nach Hause gegangen, als Franco das Rollgitter halb hinunterließ. Magdalena trocknete die Einzelteile der Kaffeemaschine ab, die Franco ihr auf ein Geschirrhandtuch legte, füllte die Zuckerpäckchen in der Schüssel auf dem Tresen auf, sie wischte den Boden der Bar mit einem scharfen Putzmittel, das ihr die Tränen in die Augen trieb, dann durfte sie gehen.
Erschöpft vom vielen ungewohnten Laufen, schwang sie sich auf ihren Roller und fuhr in die Dunkelheit. Der Lichtkegel schreckte kleine Tiere auf und warf seltsame Schatten auf die Büsche, als sie über den unbefestigten Weg auf ihren Wohnwagen zuratterte. Am Duschhäuschen gab es kein Licht. Sollte sie in dieser dunklen Höhle mitten im Nichts noch mit eiskaltem Wasser duschen? Die Temperatur des Wassers war kein Problem, wenn es drauf ankam, war sie immer noch Opa Rudis abgehärtetes kleines Mädchen. Und dass dort jemand auf sie lauerte, war unwahrscheinlich. Flüchtig schnupperte Magdalena an ihrer Achselhöhle. Nötig wäre es, absolut, und ich habe ja auch keine Angst. Natürlich habe ich keine Angst. Aber ich werde auf die Dusche heute Abend verzichten können. Rasch sprang sie in den Wohnwagen und sperrte die Tür hinter sich ab. Die Gaslampen ließ sie aus, ihr Fauchen war ihr suspekt, sie sahen so aus, als ob sie nur auf einen unbeobachteten Moment warteten, um sich selbst in Brand zu stecken. Aber auch die Taschenlampe, die sie mit dem Lichtkegel nach oben auf den Tisch stellte, schuf eher eine gespenstische als eine gemütliche Atmosphäre. Im Dunklen zog sie den weichen Pullover über, aus dem sie sich morgen früh, sobald die Sonne auf den Wohnwagen knallte, wieder verschwitzt herausschälen müsste, und schlüpfte unter die Decke. Tavolo 5, due caffè, un’ acqua minerale gasata, un gelato al limone … gelato al limone … gelato al limone …
Bonk!
Ein einzelner harter Schlag an der Tür. Obwohl sie das Gefühl hatte, gerade erst ein paar Minuten geschlafen zu haben, war Magdalena sofort hellwach. Ihre Glieder waren kraftlos und eiskalt, und ihr Herz donnerte mit schnellen Stößen in ihrer völlig trockenen Kehle. Ohne den Kopf zu heben, linste sie an dem blauen Vorhang vorbei nach draußen. Der Himmel war schon dämmrig grau, die Sonne noch nicht aufgegangen, halb fünf vielleicht. Wenn jetzt ein Gesicht an der Scheibe auftauchen sollte, würde sie sterben vor Angst, so viel war sicher. Magdalena kniff die Augen schnell wieder zu und stellte sich tot. Was war das für ein Geräusch gewesen? Eindeutig ein Hieb. Wahrscheinlich nur ein Tier. Oder eine Männerfaust! Sie war das Tier, sie war ganz allein hier draußen, die nächsten Häuser waren Hunderte von Metern entfernt. Sie wagte nicht, noch einmal die Augen zu öffnen, und hielt die Luft an. Sie saß in der Falle, musste raus, weg von hier. Doch was wartete vor der Tür auf sie? Magdalena zwang sich weiterzuatmen, die Minuten vergingen, alles blieb still. Dann stand sie langsam auf und spähte aus allen drei Fenstern vorsichtig nach draußen, sie sollten sie nicht sehen. Wer? Es war niemand da. Vielleicht hatten sie sich hinter dem Wohnwagen im Schilf versteckt. Langsam, ohne Geräusche zu machen, zog sie die lange Hose mit dem weiten Schlag und das coole Jackett an, schlüpfte in die flachen Ballerinas, in denen sie am schnellsten laufen konnte, setzte ihren Helm auf, schnappte sich den Rollerschlüssel und atmete tief durch. Wenn sie sterben müsste, war sie wenigstens gut angezogen. Jetzt raus, auf den Roller, so schnell wie möglich losfahren! Magdalena stürmte aus der Tür. Mit geballten Fäusten, bereit, laut zu schreien, sah sie sich um, immer noch niemand zu sehen, im Schilfrohr hinter dem Wagen knackte es. Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss, sprang auf, stieß den Roller vom Ständer und jagte den Feldweg entlang. Erst als sie auf der Straße nach Procchio war, bemerkte sie die kleinen trockenen Schluchzer, die ihr alle fünf Sekunden entfuhren.
 
Magdalena stellte den Roller in der Parkbucht ab und ging mit schweren Beinen die Stufen hinauf. Die grob behauenen Natursteine der alten Orangerie leuchteten warm im rosa Licht des Sonnenaufgangs. Auf der Tanzfläche angekommen, setzte sie ihren Helm ab und fuhr sich durch die immer noch ungewohnt kurzen Haare. Da oben schliefen noch alle, jemand hatte auf der Terrasse vier schwarze T-Shirts über die Wäscheleine gehängt. Matteo. Sollte sie sich in die Küche schleichen? Schon sah sie sich vor Matteos Bett stehen und ihn beim Schlafen beobachten. Er hatte sie ja noch gar nicht mit ihrer neuen französischen Frisur gesehen. Bist du wahnsinnig, dachte sie, nachdem du ihn neulich so beschimpft hast, ist deine Frisur bestimmt das Letzte, was ihn interessiert. Und vielleicht schläft Nina ja auch wieder in seinem Bett oder, noch schlimmer, eine andere Frau … Nein, keine andere Frau, hat er auf der Fähre nicht gesagt, Nina hätte Vorrang in seinem Leben?
Gut, dann sollte es auch so bleiben!
Magdalena machte kehrt und ging über die Tanzfläche in den hinteren Teil des Geländes, das immer noch verwildert aussah, bis die Zitronenbäume vor ihr auftauchten. Etwas Rotblaues hing wie eine Sperre zwischen den Pinien. Sie kletterte über die umgeknickten Latten des Holzzauns und sah beim Näherkommen, dass es eine Hängematte war, die jemand dort befestigt hatte. Matteo natürlich. Magdalena ging daran vorbei und inspizierte die Zitronenbäume, Matteo hatte die kleinen Plastikdosen, in denen das Gift gewesen war, an die Bäume gehängt. Falls jemand auf die Idee käme, sich einen Zitronensaft aus den Früchten pressen zu wollen, baumelten dort jetzt als Warnung Totenköpfe. Die Blüten der gesunden Bäume dufteten sogar noch, die anderen würden es hoffentlich überstehen. Langsam ging sie zur Hängematte, klaubte die herabgefallenen Piniennadeln vom Stoff und ließ sich vorsichtig hineingleiten. Die Matte schwankte unter ihrem Gewicht, es war schwer, es irgendwie bequem zu verteilen, doch dann lag sie endlich. Magdalena kreuzte die Hände über der Brust, die Wände der Hängematte umschlossen sie warm wie eine Muschel aus Stoff, ein Vogel begann zu zwitschern, ihr alter Bekannter, der sie mit seinen ewig gleichen drei Tönen vor einigen Tagen unter dem Auto geweckt hatte. Wie viele Tage war das her? Zwei Wochen? Magdalena kam nicht mehr dazu, es nachzurechnen, sie schlief vorher ein.
Magdalenas Garten
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