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So«, Magdalena stellte sich neben die zwei
anwesenden Gäste an den Tresen und legte beide Hände erwartungsvoll
auf die Marmorplatte. Wo war Sara, die kleine nette Frau, die sie
eingestellt hatte? Sie war nicht zu sehen, nur Walter, ihr Mann,
der sie beim Hineinkommen mit einem angedeuteten Kopfnicken gegrüßt
hatte, lehnte hinter der Bar und schwieg. Magdalenas Armbanduhr
zeigte fünf vor halb neun, sie war mehr als pünktlich. Keine Regung
auf der anderen Seite. Walter polierte jetzt angestrengt ein Glas,
hielt es gegen das Licht, polierte weiter. Magdalena ging zur
Kuchentheke und wieder zurück, die zwei Männer am Tresen folgten
ihren Bewegungen mit dem Kopf wie bei einem Tennismatch. Sie ging
zur Tür, warf einen Blick hinaus auf »ihre« Tische unter der
Holzpergola. Alle unbesetzt. Sie wanderte wieder hinein.
»Allora«, versuchte sie es noch mal aufmunternd in Walters
Richtung, der nun das Geschirrtuch über die Schulter gelegt hatte
und vor sich hin starrte. Nutzlos strichen ihre Hände an den Seiten
ihrer Oberschenkel auf und ab, hinter den Tresen zu Walter traute
sie sich nicht. Warum sagte er ihr nicht, was zu tun war? Magdalena
floh in den Innenhof und begann zwischen den Tischen hin und her zu
gehen. Die Blüten der Passionsblume waren zusammengefaltet, ihr
Blau war in dem abendlichen Licht zu einem satten Violett geworden.
Sie musste unwillkürlich an Nina denken, Nina die
Kletterpflanze, die von allen bewundert wurde, die alles konnte.
Seit zwei Tagen hatte Magdalena nichts von ihr gehört, sie rief
nicht zurück und beantwortete keine ihrer SMS, bis auf die erste:
›Melde mich, wenn’s passt!‹ Melde mich, wenn’s passt, dachte
Magdalena schnaubend. Es passt wohl nicht, da ist eben jemand
wichtiger als die dumme Magdalena, die kann ja warten, die wird
schon noch da sein, wenn Frau Nina Nannini sich mal bequemt, den
Wohnwagen zu besichtigen! Magdalena schaute an sich herab. Was sie
sah, gefiel ihr, Ninas Kleiderauswahl war perfekt auf sie
abgestimmt. Sie wusste jeden Tag, was sie anziehen sollte, und
konnte fast alles miteinander kombinieren: lange weite Hosen, enge
Caprihosen, T-Shirts in hellen Farben, knappe Tops, kurze
Kleidchen, die über den Hosen zu tragen waren und ihr laut Nina
einen femininen Touch gaben, der sie zusammen mit ihrer neuen
Frisur einfach unwiderstehlich machte. Die Klamotten saßen, die
Haare auch, Projekt Magdalena erfolgreich beendet. Für eine ganz
normale Freundschaft ohne Katastropheneinsatz war Nina
offensichtlich nicht geschaffen.
Die Zeit verging, niemand kam, um nach ihr zu
sehen, Magdalena zählte die Tische wieder und wieder. Sie entdeckte
eine schmale Tür, die ihr bei ihrem Bewerbungsgespräch gar nicht
aufgefallen war. Mit schwarzem Filzstift hatte jemand WC
daraufgeschrieben. Nach ein paar weiteren ereignislosen Minuten
folgte sie dem warmen Plätzchengeruch des laboratorio und
spähte durch den Türspalt in den dämmrigen Raum. Die Arbeitsflächen
waren silbrig blank, alles lag an seinem Platz, mehrere weiße
Kittel hingen ordentlich an einer Hakenreihe, der große Quirl einer
Rührmaschine schwebte vielversprechend über der leeren Schüssel in
der Luft. Magdalena sah sich kurz um und schlüpfte dann in die
Backstube. Ein rechteckiger Behälter voller Eiscreme stand schief
auf der Arbeitsfläche
neben der Tür. Sie rückte ihn mit einem Finger gerade, er war
kalt, Wassertröpfchen hatten sich an dem Metall gebildet. Mit
geblähten Nasenflügeln beugte sie sich hinab, sodass ihre
Nasenspitze die braune Oberfläche fast berührte. Nussgeschmack,
vermutete sie. Ihr Zeigefinger schwebte über der Masse. Nur einmal
probieren. Mmmh. Köstlich. Wieder und wieder tauchte ihr Finger in
die cremige Masse und füllte danach süß ihren Mund. Dann besah sie
ihr Werk. Na prima, sie würde sofort rausfliegen, noch heute Abend,
warum ging sie nicht lieber gleich? Es war warm hier drinnen,
kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf ihrer Oberlippe. Sie
versuchte die verwüstete Eiscreme-Landschaft zu glätten, ihre
Finger wurden dabei eiskalt. Ging doch, wenn sie alles durchrührte,
sah man es kaum.
»Ecco qua!« Sie schreckte zusammen, hinter
ihr stand ein bärtiger kleiner Mann, ach hier bist du!
»Piacere, Franco«, stellte er sich vor. »Damit«, er drückte
ihr einen Lappen in die Hand, »kannst du die Tische abwischen, und
das hier schmeißen wir jetzt ganz schnell weg. Sara sagte, es hätte
aus Versehen den ganzen Nachmittag draußen gestanden und dann
wieder in der Kühlung, das kann man den Kunden natürlich nicht mehr
zumuten.« Sein Italienisch war sauber akzentuiert und mühelos zu
verstehen, er packte den Behälter und stellte ihn mit einem dumpfen
Knall in das tiefe Spülbecken. »Lass einfach heißes Wasser
drauflaufen«, schon war er wieder aus der Tür.
Ohne ein Wort geantwortet zu haben, verharrte
Magdalena für einige Sekunden auf derselben Stelle, automatisch
wischte sie sich mit dem Lappen die Hände ab. Dann rannte sie
hinaus, schlängelte sich zwischen Tischen und Stühlen hindurch und
schaffte es gerade noch rechtzeitig, die WC-Tür hinter sich zu
schließen.
An diesem Abend stand Magdalena dank Franco keine
Sekunde mehr müßig herum. Sie wischte die Tische und die klebrigen
Getränkekarten mit Seifenwasser ab und versuchte, die Preise
auswendig zu lernen. Sie ließ sich von Franco erklären, wie die
kleine Spülmaschine zu befüllen war, und reinigte die Aschenbecher
von den Tischen draußen mit einem Pinsel, der mit einem Band an
einen extra für diesen Zweck bereitstehenden Mülleimer gebunden
war. Ab zehn Uhr wurde es langsam voller.
Der Innenhof blieb bis auf zwei Tische leer, doch
auf der Straße waren alle Tische schnell immer wieder besetzt. Die
Gäste bestellten bei ihr Espresso und Eisbecher, seltener etwas wie
Wein oder Bier. Magdalena verstand weniger, als sie erhofft hatte,
sagte dennoch »Si, grazie!« und eilte mit ihren in
Lautschrift aufgeschriebenen Notizen zu Franco. Un crodino, due
aleatico, una media, due spritz, un decaffeinato, was immer das
war, sie nahm, was Franco ihr auf das Tablett stellte, und
versuchte sich zu erinnern, welcher Tisch was bekam. Wenn jemand
zahlen wollte, musste sie Franco hinter der Kasse die Getränke aus
dem Gedächtnis oder ihren krakeligen Aufzeichnungen diktieren, mit
dem Bon lief sie zum Tisch, kassierte und brachte das Geld wieder
zu Franco. Sie nahm sich vor, für morgen Abend ein anderes System
zu erfinden. Was passierte, wenn alle Tische im Innenhof besetzt
sein sollten? Das Chaos war vorprogrammiert. Um Mitternacht war
Schluss, Walter war schon lange nach Hause gegangen, als Franco das
Rollgitter halb hinunterließ. Magdalena trocknete die Einzelteile
der Kaffeemaschine ab, die Franco ihr auf ein Geschirrhandtuch
legte, füllte die Zuckerpäckchen in der Schüssel auf dem Tresen
auf, sie wischte den Boden der Bar mit einem scharfen Putzmittel,
das ihr die Tränen in die Augen trieb, dann durfte sie gehen.
Erschöpft vom vielen ungewohnten Laufen, schwang
sie sich
auf ihren Roller und fuhr in die Dunkelheit. Der Lichtkegel
schreckte kleine Tiere auf und warf seltsame Schatten auf die
Büsche, als sie über den unbefestigten Weg auf ihren Wohnwagen
zuratterte. Am Duschhäuschen gab es kein Licht. Sollte sie in
dieser dunklen Höhle mitten im Nichts noch mit eiskaltem Wasser
duschen? Die Temperatur des Wassers war kein Problem, wenn es drauf
ankam, war sie immer noch Opa Rudis abgehärtetes kleines Mädchen.
Und dass dort jemand auf sie lauerte, war unwahrscheinlich.
Flüchtig schnupperte Magdalena an ihrer Achselhöhle. Nötig wäre es,
absolut, und ich habe ja auch keine Angst. Natürlich habe ich keine
Angst. Aber ich werde auf die Dusche heute Abend verzichten können.
Rasch sprang sie in den Wohnwagen und sperrte die Tür hinter sich
ab. Die Gaslampen ließ sie aus, ihr Fauchen war ihr suspekt, sie
sahen so aus, als ob sie nur auf einen unbeobachteten Moment
warteten, um sich selbst in Brand zu stecken. Aber auch die
Taschenlampe, die sie mit dem Lichtkegel nach oben auf den Tisch
stellte, schuf eher eine gespenstische als eine gemütliche
Atmosphäre. Im Dunklen zog sie den weichen Pullover über, aus dem
sie sich morgen früh, sobald die Sonne auf den Wohnwagen knallte,
wieder verschwitzt herausschälen müsste, und schlüpfte unter die
Decke. Tavolo 5, due caffè, un’ acqua minerale gasata, un gelato
al limone … gelato al limone … gelato al limone …
Bonk!
Ein einzelner harter Schlag an der Tür. Obwohl sie
das Gefühl hatte, gerade erst ein paar Minuten geschlafen zu haben,
war Magdalena sofort hellwach. Ihre Glieder waren kraftlos und
eiskalt, und ihr Herz donnerte mit schnellen Stößen in ihrer völlig
trockenen Kehle. Ohne den Kopf zu heben, linste sie an dem blauen
Vorhang vorbei nach draußen. Der Himmel war schon dämmrig grau, die
Sonne noch nicht aufgegangen, halb fünf vielleicht. Wenn jetzt ein
Gesicht an der Scheibe auftauchen
sollte, würde sie sterben vor Angst, so viel war sicher. Magdalena
kniff die Augen schnell wieder zu und stellte sich tot. Was war das
für ein Geräusch gewesen? Eindeutig ein Hieb. Wahrscheinlich nur
ein Tier. Oder eine Männerfaust! Sie war das Tier, sie war ganz
allein hier draußen, die nächsten Häuser waren Hunderte von Metern
entfernt. Sie wagte nicht, noch einmal die Augen zu öffnen, und
hielt die Luft an. Sie saß in der Falle, musste raus, weg von hier.
Doch was wartete vor der Tür auf sie? Magdalena zwang sich
weiterzuatmen, die Minuten vergingen, alles blieb still. Dann stand
sie langsam auf und spähte aus allen drei Fenstern vorsichtig nach
draußen, sie sollten sie nicht sehen. Wer? Es war niemand da.
Vielleicht hatten sie sich hinter dem Wohnwagen im Schilf
versteckt. Langsam, ohne Geräusche zu machen, zog sie die lange
Hose mit dem weiten Schlag und das coole Jackett an, schlüpfte in
die flachen Ballerinas, in denen sie am schnellsten laufen konnte,
setzte ihren Helm auf, schnappte sich den Rollerschlüssel und
atmete tief durch. Wenn sie sterben müsste, war sie wenigstens gut
angezogen. Jetzt raus, auf den Roller, so schnell wie möglich
losfahren! Magdalena stürmte aus der Tür. Mit geballten Fäusten,
bereit, laut zu schreien, sah sie sich um, immer noch niemand zu
sehen, im Schilfrohr hinter dem Wagen knackte es. Mit zitternden
Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss, sprang auf, stieß
den Roller vom Ständer und jagte den Feldweg entlang. Erst als sie
auf der Straße nach Procchio war, bemerkte sie die kleinen
trockenen Schluchzer, die ihr alle fünf Sekunden entfuhren.
Magdalena stellte den Roller in der Parkbucht ab
und ging mit schweren Beinen die Stufen hinauf. Die grob behauenen
Natursteine der alten Orangerie leuchteten warm im rosa Licht des
Sonnenaufgangs. Auf der Tanzfläche angekommen, setzte sie
ihren Helm ab und fuhr sich durch die immer noch ungewohnt kurzen
Haare. Da oben schliefen noch alle, jemand hatte auf der Terrasse
vier schwarze T-Shirts über die Wäscheleine gehängt. Matteo. Sollte
sie sich in die Küche schleichen? Schon sah sie sich vor Matteos
Bett stehen und ihn beim Schlafen beobachten. Er hatte sie ja noch
gar nicht mit ihrer neuen französischen Frisur gesehen. Bist du
wahnsinnig, dachte sie, nachdem du ihn neulich so beschimpft hast,
ist deine Frisur bestimmt das Letzte, was ihn interessiert. Und
vielleicht schläft Nina ja auch wieder in seinem Bett oder, noch
schlimmer, eine andere Frau … Nein, keine andere Frau, hat er auf
der Fähre nicht gesagt, Nina hätte Vorrang in seinem Leben?
Gut, dann sollte es auch so bleiben!
Magdalena machte kehrt und ging über die Tanzfläche
in den hinteren Teil des Geländes, das immer noch verwildert
aussah, bis die Zitronenbäume vor ihr auftauchten. Etwas Rotblaues
hing wie eine Sperre zwischen den Pinien. Sie kletterte über die
umgeknickten Latten des Holzzauns und sah beim Näherkommen, dass es
eine Hängematte war, die jemand dort befestigt hatte. Matteo
natürlich. Magdalena ging daran vorbei und inspizierte die
Zitronenbäume, Matteo hatte die kleinen Plastikdosen, in denen das
Gift gewesen war, an die Bäume gehängt. Falls jemand auf die Idee
käme, sich einen Zitronensaft aus den Früchten pressen zu wollen,
baumelten dort jetzt als Warnung Totenköpfe. Die Blüten der
gesunden Bäume dufteten sogar noch, die anderen würden es
hoffentlich überstehen. Langsam ging sie zur Hängematte, klaubte
die herabgefallenen Piniennadeln vom Stoff und ließ sich vorsichtig
hineingleiten. Die Matte schwankte unter ihrem Gewicht, es war
schwer, es irgendwie bequem zu verteilen, doch dann lag sie
endlich. Magdalena kreuzte die Hände über der Brust, die Wände der
Hängematte umschlossen sie warm wie eine Muschel aus Stoff, ein
Vogel
begann zu zwitschern, ihr alter Bekannter, der sie mit seinen ewig
gleichen drei Tönen vor einigen Tagen unter dem Auto geweckt hatte.
Wie viele Tage war das her? Zwei Wochen? Magdalena kam nicht mehr
dazu, es nachzurechnen, sie schlief vorher ein.