40
Zurück in Procchio, steuerte Magdalena
zunächst die Bar Elba an, Sara begrüßte sie mit besorgtem
Blick und gerunzelter Stirn. »Was tust du hier so früh? Du bist
nicht gesund, nein, nein, du bist blass, das ist ein Virus, du
gehörst ins Bett, mein Mädchen!«
Ȁh, ja, das wollte ich gerade sagen, ich komme
heute Abend wahrscheinlich nicht!«
»Aber natürlich nicht! Geh schön wieder ins Bett,
und bevor du zurück nach Deutschland fährst, sagst du uns noch
einmal Auf Wiedersehen.«
»Ja.« Es könnte ganz schnell gehen, mit dem
Nach-Deutschland-Fahren, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Deine Freunde waren gestern da!« Magdalena spürte,
wie sie unter der Blässe des wenigen Schlafs noch blasser
wurde.
»Welche Freunde?«
»Na, der große, gut aussehende Mann und die blonde
Frau mit den Zöpfen! Haben nach dir gefragt.«
Großer, gut aussehender Mann, blonde Frau mit
Zöpfen? Sie meinte doch nicht etwa Matteo, Matteo und Nina. Gut
aussehend, war er gut aussehend?
»Ach, die beiden aus dem POLO.«
»POLO?« Die Kommunikation mit Sara
gestaltete sich heute etwas mühsam.
»Neben dem Club 64 liegt das POLO,
der Nachtclub, der dieses Jahr nicht aufgemacht wurde. Oben auf dem
Berg, wenn man Richtung Portoferraio fährt.«
»Ach ja, kenne ich! Meine Töchter sind im Club
64 immer tanzen gegangen. Es wurde meistens schrecklich spät,
manchmal kamen sie erst morgens wieder, ich habe mir jedes Mal
Sorgen gemacht …«
»Ich fahre da jetzt hoch, ins POLO.«
Magdalena ging schnell zur Tür.
»Du gehörst ins Bett, Mädchen!«
Gott sei Dank hatte sie ihre Handtasche wieder und
ihr Geld, sie brauchte jetzt ganz schnell einen caffè, zwei
cornetti mit Marmelade und am besten auch noch eine Dusche.
Seit gestern Abend klebte das Salz unangenehm auf ihrer Haut, denn
in Holgers Salon hatte sie sich nur an einem kleinen Spülbecken
notdürftig waschen können. Caffè und cornetti würde
sie in der Bar La Pinta bekommen, wo man ihr keine Fragen
über Magenverstimmungen stellte. Die Dusche musste warten.
Satt und mit besserer Laune klappte sie eine
Viertelstunde später vor der Bar ihr Handy auf. Drei Anrufe in
Abwesenheit. Matteo. Matteo. Matteo. Er hatte sie gestern in der
Bar gesucht, bestimmt machte er sich große Sorgen.
Sie versuchte Opa Rudi zu erreichen. Es war halb
neun, die Sommerferien waren längst zu Ende, vielleicht saß er
schon vor seinem Käffchen und seinen Leberwurstknäckebroten. Das
Telefon klingelte fünfmal, bis sie ihre eigene Ansage hörte: »Guten
Tag, wir sind im Moment nicht zu Hause …« Einen Augenblick lang war
sie versucht, sich selbst etwas aufs Band zu sprechen, ihrem
anderen Ich, das sie zu Hause wieder sein würde. Die Kartografin
mit dem geregelten Tagesablauf, die Person, die zweimal in der
Woche zum Schwimmen und jeden Dienstag
zum Italienisch für Fortgeschrittene II ging, obwohl - den Kurs
brauchte sie nun wirklich nicht mehr. »Hallo, Rudi«, sagte sie
schließlich, »mir geht es nicht so gut, ich habe mich da in eine
Sache verrannt, na ja, also mit einem Mann, dem Falschen, aber das
ist jetzt vorbei. Meinen Vater habe ich trotz deiner Hilfe auch
nicht gefunden. Ich bin in ein paar Tagen wieder da. Vielleicht
sogar schon morgen.« Aber vorher muss ich noch einmal in meinen
Zitronengarten, dachte sie. Sie konnte nicht einfach abreisen, ohne
die Bäume ein letztes Mal gesehen zu haben, die Palmen und Pinien,
den Lavendel. Die Erde, in der sie gewühlt hatte, den Staub, den
sie an dem Nachmittag eingeatmet hatte, als sie die trockenen
Gräser von der Kiesfläche geharkt hatte, die einmal die Bocciabahn
werden sollte. Die Oleandersträucher. Die Hängematte. Matteo.
Noch ehe sie weiter über diesen letzten Punkt
nachdenken konnte, trug der Roller sie schon nach oben in die
Berge, über die Bucht von Procchio.
In einer Hängematte kann man tatsächlich schlafen,
man muss nur müde genug sein, dachte Magdalena, als sie wieder
erwachte. Sie ließ ein Bein heraushängen und stieß sich mit dem Fuß
ab, die Hängematte schaukelte sanft. Die Sonne stand schon hoch,
die Kronen der Pinien schwankten vor dem Blau des Himmels. Sie
gähnte und fühlte, wie warm und schwer ihr Körper in der Stoffbahn
lag. Es war ein Phänomen: Anstatt sich Sorgen zu machen, wie sie
nach Deutschland kam, anstatt einen Flug zu buchen und mit dem Zug
schon längst unterwegs nach Pisa zu sein, verträumte sie hier die
Stunden. Es musste an dem Garten liegen, sie fühlte sich an diesem
Ort überraschend gut aufgehoben, ganz ruhig und irgendwie
glücklich. Nach einiger Zeit stand sie auf und schlüpfte in ihre
Schuhe. Langsam ging sie unter den Zitronenbäumen entlang bis zur
Mauer.
»Auf Wiedersehen, Mauer«, es klang überhaupt nicht
lächerlich, »auf Wiedersehen, Bäume …« Augenblick mal, was hatte er
denn da hinten schon wieder gemacht? Sie ging näher. Das Podest war
verschwunden, Matteo hatte die Holzverschalung abgerissen und das
Brunnenbecken freigelegt - eine flache Schale, groß wie ein
aufblasbares Kinderplanschbecken, in deren Mitte sich etwas erhöht
eine kleinere Schale befand. Kein Marmor, nichts Schickes, sondern
ein leicht angefressen aussehender, weicher Sandstein. Magdalena
ging noch näher. Er hatte, o nein, bitte nicht, er hatte Wasser
hineingelassen und Lotosblumen gepflanzt! Wie unangenehm. Wie
peinlich. Wie wundervoll! Die weißen Blüten bewegten sich fast
unmerklich, Bienen saßen auf den runden grünen Blättern und nippten
am Wasser. Das war die Überraschung, die er ihr in seiner Nachricht
auf dem Handy angekündigt hatte: Er hatte eine riesige Bienentränke
für sie gebaut … und sie ihr gestern zeigen wollen, während sie auf
dem Boot Garnelen auf verkochten Spaghetti aß, Roberto noch für
einen stilvollen Mann hielt und sich selbst für verwegen und
verführerisch. Magdalena wurde übel vor Abscheu, sie hätte sich am
liebsten übergeben. Was für eine Idiotin du bist, du hast alles
falsch gemacht, alles! Du hast die falschen Väter gesucht und den
richtigen Vater nicht gefunden, du warst in den falschen Mann
verliebt und hast den richtigen Mann versetzt. Sie bückte sich und
drehte den Hahn auf, der an einem eisernen Rohr aus der Erde ragte.
Die obere Schale lief über. Verdammt, jetzt plätscherte es auch
noch! Sie lief los.
Matteo lag auf dem Rücken in seinem Bett, über
sein Gesicht war ein Handtuch gebreitet, doch man konnte sehen,
dass er Kopfhörer aufhatte. Alle Türen waren geschlossen, die
anderen schliefen noch. »Matteo!« Er reagierte nicht, war er
überhaupt
wach? Sie beugte sich zu ihm hinab, was hörte er da? Sie lauschte
einer traurigen Melodie, die sie nicht kannte. Vorsichtig hob
Magdalena das Tuch an, seine Augen waren geschlossen, Tränen liefen
ihm über die glatten Wangen. Er hatte sich sogar rasiert, und er
weinte, Matteo weinte!
Behutsam ließ sie das Tuch wieder sinken, sie hatte
ihn verletzt, sie hatte ihm richtig wehgetan. Magdalena ging in der
Küche umher, was sollte sie jetzt noch zu ihrer Entschuldigung
vorbringen? Plötzlich räusperte sich das Handtuch und sprach: »Ich
habe mir gestern Sorgen gemacht, wo warst du?«
»Ich bin bei Roberto ausgezogen.«
Er streifte das Tuch ab und sah zu ihr hoch, dabei
sah er nicht verheult, sondern eher verdammt ärgerlich aus.
»Wurde auch Zeit! Und deswegen hast du mich
versetzt?«
»Ja. Und das tut mir sehr leid. Deine Überraschung
ist wirklich großartig, der Brunnen und die Lotosblumen und das
Plätschern …«
»Vergiss das Plätschern, das war nicht die
Überraschung, die ich meinte.« Er wischte mit dem Handrücken unter
seiner Nase entlang und winkte ab, fast dieselbe Geste, die Roberto
gemacht hatte: Hau ab.
»Matteo!«
»Was!!« Er setzte sich auf. Meine Güte, war er
aggressiv.
»Ich habe es einfach nicht gemerkt.« Magdalena hob
die Hände, wie sollte sie ihm erklären, was sie selbst nicht so
recht in Worte fassen konnte? »In den letzten Wochen habe ich immer
gedacht: Das muss ich Matteo erzählen … was Matteo wohl dazu sagen
wird … den ganzen Sommer über habe ich mich so gerne mit dir
unterhalten, wenn auch manchmal nur in meinem Kopf!«
»Aber gevögelt hast du mit einem anderen, oder etwa
auch nur in deinem Kopf?« Er trocknete sich das Gesicht mit dem
Handtuch ab. Sie blieb stumm, was sollte sie darauf schon sagen?
Er stand auf. Er sah richtig gut aus, hatte er abgenommen? Unter
seinem weißen T-Shirt sah man die Muskeln seiner Brust, kein
bisschen Bauchansatz mehr, die Jeans saßen lockerer als noch einige
Wochen zuvor. Weshalb lag er mit Jeans im Bett? Mensch, die Haare!
Die Haare waren weg, er hatte sie alle abrasiert und sah jetzt aus
wie Meister Proper, ein jähzorniger Meister Proper.
»Ich habe es einfach nicht gemerkt«, wiederholte
sie mit dünner Stimme.
»Was hast du nicht gemerkt?« Wenn er weiter so laut
brüllte, würde er alle aufwecken.»Weißt du, was?«, fuhr er fort.
»Ich habe keine Lust mehr zu warten, bis du etwas merkst!« Er
machte einen Schritt auf sie zu, er riecht, dachte sie, er riecht
nach Schweiß, und ich würde meine Nase gerne tiefer in diesen
Geruch wühlen, ich bin echt nicht normal.
»Und ich habe keine Lust mehr, mit einem Mann zu
tun zu haben, der sein Leben mit einem Mikro vor dem Mund in
Nachtclubs verbringt und jeden Abend aus Frust zu viel Whiskey
trinkt, weil er eigentlich etwas ganz anderes machen möchte!«,
zischte sie ihn an. Sie hatte ins Schwarze getroffen, er wusste
sofort, worauf sie anspielte. »Lass Nina da raus, meinen Frust habe
ich mir in den letzten Wochen bei dir geholt!« Er stand
jetzt dicht vor ihr.
Er kennt mich so gut, dachte Magdalena und wunderte
sich über das warme Gefühl, das ihren Bauch füllte. Ganz leicht war
diese Empfindung, mühelos, wie ein Kichern, ein Plätschern. Er kam
noch näher, als ob er sie küssen wollte, nein, das würde er nicht
tun.
Sein Mund war über ihrem, zu nah. Ohne Bartstoppeln
sah man noch besser, wie schön seine Lippen geschwungen
waren.
»Da fehlt ein Knopf«, sagte er mit rauer Stimme.
Magdalena
schaute an sich herab. Er hatte recht, an ihrer Jacke fehlte der
obere Knopf. In diesem Moment beugte Matteo sich vor und küsste sie
auf den Hals, knapp unter das rechte Ohr. Dann zog er seinen Kopf
wieder zurück.
»Entschuldigung! Ich weiß nicht, was ich mir dabei
gedacht habe …«
Magdalena blieb stehen, sie musste sich
zusammenreißen, um sich nicht gegen ihn zu drängen, sie wollte
plötzlich, dass er ihre Brüste berührte, sie überall
berührte.
»Was du dir wobei gedacht hast?« Nina stand
in der Küche, mit verquollenen Augen, schmal wie Schlitze, schaute
sie zwischen Magdalena und Matteo hin und her.
Beide machten einen Schritt zurück.
»Nichts! Ich habe allerdings etwas herausgefunden,
das sie interessieren wird!«
Magdalena war etwas benommen, sie hielt sich an der
Tischkante fest, um sich gegen Matteos nächsten Satz zu
wappnen.
»Ich habe jemanden getroffen!«, sagte er da
schon.
»Hast du etwa Paolo gefunden!?«
»Nein, aber Tiziano, Tiziano Mazzei, der
Bürgermeister, weiß etwas! Ich habe ihm von dir erzählt, und er
meint, er kenne diesen Paolo.«
»Warum hast du ihm denn von ihr erzählt?« Nina ging
zum Kühlschrank und holte eine Flasche Cola heraus.
»Das spielt doch jetzt keine Rolle, oder? Aber wenn
du es unbedingt wissen willst: Wir haben uns über die immer noch
bestehende Lizenz für das POLO unterhalten, und er hat die
ganze Zeit nur abgeblockt. Da habe ich von Magdalena erzählt, dass
sie mir hilft, und auch von den Fotos, die sie überall aufgehängt
hat.«
»Aber warum hast du ihn nicht sofort gefragt, wo
Paolo
wohnt?«, stotterte Magdalena, als er mit der Hand auf sie
zeigte.
Matteo zuckte mit den Schultern. »Da gibt es wohl
etwas, das er dir selbst sagen möcht.« Magdalena stöhnte enttäuscht
auf, was für eine Sackgasse war das wohl wieder? Der Bürgermeister
konnte ja noch nicht mal das Foto gesehen haben.
»Wieso tust du des für sie, ist dir ihre
Leidenschaft für’n Roberto auf einmal egal?«
Ninas Stimme klingt panisch, dachte
Magdalena.
»Ich wohne nicht mehr bei Roberto«, sagte sie
schnell, »er … er ist ziemlich unangenehm geworden.«
»Ich mache das für sie, weil ich es will, genauso,
wie ich auch entschieden habe, für dich nichts mehr zu
machen, Nina!«
Nina ging auf Matteos Antwort nicht ein, sondern
wandte sich an Magdalena:
»Du bist so naiv, Magdalena, ich habe dir von
vornherein gesagt, dass der Roberto nix gratis tut. Er tut nie
etwas, ohne eine Gegenleistung zu fordern.«
»Stimmt, Roberto ist ein Scheißkerl, du hast mich
ernsthaft vor ihm gewarnt, Nina, und dafür danke ich dir. Leider
war ich zu dumm, um auf dich zu hören.«
»Und wenn du meinst, mich auf diese Weise in eine
Therapie zwingen zu können, Matteo, das kannst du gleich
vergessen!«
»Ich vergesse nie etwas!«
»Ich war gestern mit ihm auf einem Boot«, versuchte
Magdalena sich Gehör zu verschaffen. »Zwei andere Typen kamen dazu.
Wenn er mit dir das Gleiche vorgehabt haben sollte wie mit mir,
Nina, dann verstehe ich, warum du ihn so hasst!«
»Ich hass ihn nicht.« Aber Magdalena konnte sehen,
dass Nina ganz bleich geworden war.
»Letztes Jahr habe ich gedacht, es wäre dir egal,
wenn dir
einer etwas antut«, warf Matteo ein, »du hast dich wahllos mit
jedem eingelassen, du wolltest an irgendeiner Straßenecke Roms
zugrund gehen. Heute machst du das nicht mehr, aber in dir drin hat
sich nicht viel geändert. Du gehst kaputt an deiner Trauer und an
deinen Schuldgefühlen, Nina. Und nicht nur du allein, du nimmst
andere Menschen gleich mit. Lass dir helfen, oder ich bin
weg!«
Nina starrte Matteo böse an.
»Dann kannst du dich besser um deinen neuen Kumpel,
den Bürgermeister, kümmern!«
»Du kannst eine tolle Freundin sein, Nina! Auch
wenn du gerade einmal nicht Erste Hilfe leistest, wirklich«, wollte
Magdalena vermitteln. »Aber immer wenn alles normal zwischen uns
war, hast du dich zurückgezogen. Und das hat mich wahnsinnig
gemacht! Nicht jeder, den du gernhast oder liebst, stirbt sofort,
und du bist kein Parasit und auch kein Schmarotzer.«
»Wenn ich in fremden Tagebüchern lesen tät, könnt
ich wahrscheinlich auch so ein gescheites Zeug über andere
daherreden.«
Magdalena schnappte nach Luft, sie spürte Matteos
ungläubigen Blick auf sich.
»Matteo, ich würde mir das noch mal überlegen,
vielleicht läuft sie ja in den nächsten Tagen wieder zu Roberto
zurück, vielleicht hat ihr die kleine Orgie besser gefallen, als
sie zugeben will.«
»Du bist ja krank, such dir einen Psychiater!«,
sagte Matteo, aber in seinem Kopf arbeitete es, das konnte
Magdalena sehen.
Evelina kam aus ihrem Zimmer geschlurft, sie trug
ein rosa Babydoll und mit Federn besetzte Pantoffeln in der
gleichen Farbe. Aus dem Pandabären war ein Flamingo geworden.
Niemand beachtete sie, denn Nina rief: »Nein! Das werde ich nicht
tun! Hör einfach auf, den Bodyguard zu spielen. Habe ich jemals
darum gebettelt? Nein, habe ich nicht! Vielleicht hättest du mich
früher vor deinem depressiven Freund warnen sollen!«
»Es wäre keine Orgie geworden, Nina, sondern eine
Gruppenvergewaltigung! Heute Morgen bin ich zu Roberto gegangen und
habe seine Hemden zerschossen«, rief Magdalena, sie zielte mit
einer imaginären Waffe auf Mikkis Tür und ahmte ein paar
Schussgeräusche nach. Die beiden hielten tatsächlich in ihrem
Streit inne und starrten sie an.
»Ich kann mich gegen meine Ängste verteidigen,
du aber nicht. Denn die bestehen bei dir nicht aus einem
stronzo wie Roberto, sondern sitzen in dir drin.« In diesem
Moment öffnete sich die Tür, und Mikki lugte hervor. Gemächlich hob
er die Hände, ein Joint steckte zwischen seinen Fingern. »Kinder,
lasst uns an den Strand fahren, ein Bad nehmen«, nuschelte
er.
»Fehlt’s dir jetzt total, Magdalena, oder weswegen
ballerst du bei dem Argentinier im Haus rum? Was, wenn sie deine
Fingerabdrücke finden?«, rief Matteo.
»Habe ich abgewischt.«
»Was heißt das«, fragte Nina leise, »was heißt das,
du hast beschlossen, für mich nichts mehr zu machen?« Sie ging ganz
dicht an Matteo heran.
»Das, was ich gesagt habe …«
»Werde ich jetzt auch noch von dir bestraft für
alles, was passiert ist?«, kreischte Nina plötzlich. »Bin ich
schuld, bin ich wirklich schuld? Monatelang hast du mir eingeredet,
dass ich nicht schuld bin, und nun bestrafst du mich!«
Nina packte ein großes Fleischmesser, das auf der
Küchentheke lag, und richtete es gegen alle, die im Raum
standen.
»Ihr. Wisst. Nichts.« Verächtlich presste sie die
Wörter hervor. Magdalena schaute kurz zu den anderen, Evelinas Mund
stand offen, Mikki knabberte an den Fingernägeln seiner freien
Hand, Matteo machte eine beschwichtigende Geste, wich aber nicht
zurück. Es war totenstill. »Ihr wisst nicht, wie das ist!«
Nina warf das Messer von sich, scheppernd landete
es auf dem Boden, dann stieß sie einen lauten, spitzen Schrei aus.
Sie sank auf die Knie und weinte und schrie, jetzt auf Italienisch,
ihr Gesicht war rot angelaufen und verzerrt.
»Ich habe ein ganzes Jahr nicht geschlafen, ich
hatte ein wunderbares Kind und einen tollen Mann, ich habe sie
geliebt, aber ich war müde und kaputt und habe nur zwei Tage Urlaub
gemacht, nur zwei Tage, um mich auszuschlafen! Ist das denn
verboten?!«
Sie holte keuchend Luft, dann brachen wieder einige
Worte aus ihr hervor, sie spuckte und röchelte, der Rotz lief ihr
über den anklagend geöffneten Mund, sie zerrte an ihren
Haaren.
»Sergio!«, konnte Magdalena verstehen. »Wer hat dir
das Recht gegeben, sie mitzunehmen? Sie war mein Kind! Du hast sie
mir weggenommen, du hast sie mitgenommen, meine Sofia!« Matteo
umklammerte seine Oberarme, als müsse er sich zwingen, Nina nicht
zu berühren. Evelina ging vorsichtig auf sie zu, auch Magdalena
versuchte sich ihr zu nähern, doch bevor sie bei ihr waren, schrie
Nina: »Ich war so egoistisch, ich werde mich immer dafür hassen«,
und kroch mit gesenktem Kopf auf allen vieren unter den Tisch, wo
sie sich wie ein Embryo auf der Seite zusammenrollte und liegen
blieb. Nur ein tiefes Schluchzen war noch zu hören. Evelina
schlüpfte aus ihren Pantöffelchen, tappte zu ihr, beugte sich unter
den Tisch und streichelte über Ninas Schultern. Nina aber fing
sofort wieder an zu schreien, ihre langen Beine scherten über den
Boden und traten nach Evelina. Magdalena zuckte zurück, und auch
Evelina nahm wieder Abstand. Ratlos standen sie um Nina herum,
wie um ein ehemals zahmes, jetzt tollwütiges Tier, und hörten
ihren Schreien zu. »Ich habe nichts mehr, kapiert ihr das denn
nicht?! Nichts mehr!« Nina kauerte wieder auf allen vieren, die
Stirn auf den Boden gelegt.
»Sofia«, wimmerte sie irgendwann nur noch,
»Sofia!«
In diesem Moment ging die Haustür auf, und zwei
Köpfe spähten in die Küche. »Rudolf!«, sagte Magdalena
schwach.
»Kind!« Er räusperte sich: »Rosemarie, das ist
meine Enkelin Magdalena!«
Hand in Hand standen die beiden in der Tür. Opa
Rudolf in sommerlicher Wanderkluft mit kurzärmeligem kariertem
Hemd, Rosemarie, ähnlich gekleidet, noch kleiner als er und
drahtig, schaute mit unerschrockenen Mausaugen von einem zum
anderen. Bevor Magdalena etwas sagen konnte, tat Rosemarie ein paar
Schritte in den Raum, duckte sich und war mit erstaunlicher
Gelenkigkeit zu Nina unter den Tisch gekrabbelt. Überrascht sah
Magdalena, dass Nina sich von ihr aufrichten und in den Arm nehmen
ließ. Ninas Kopf lag nun an ihrer Brust, sie hechelte unregelmäßig
und durchnässte Rosemaries dunkelblaues
Nordic-Walking-T-Shirt.
»Wir stehen schon eine Weile vor der Tür und waren
uns nicht ganz sicher, ob wir hier richtig sind«, sagte Rudi mit
gedämpfter Stimme. »Aber die Dame in der Bar Elba hat es uns
eigentlich recht anschaulich erklärt …«
Ein leises Summen drang unter dem Tisch hervor.
Rosemarie hielt Nina fest gepackt und wiegte sie in einem
beschwörenden Rhythmus. Minutenlang sahen ihr alle dabei zu.
»Setz dich doch«, sagte Magdalena endlich zu Rudi
und brachte ihm einen Plastikstuhl, der an der Wand gestanden
hatte. In ihren Ohren schrillte ein hoher Ton, sie atmete ein,
dennoch hatte sie das Gefühl, keinen Sauerstoff in ihre Lungen zu
bekommen.
»Es tut mir leid, aber ich muss mal kurz raus
hier!«
Mit großen Schritten floh sie aus der Haustür, die
Treppe hinunter, in den Zitronengarten.
Magdalena kletterte mit wackeligen Knien auf die
Mauer, dort oben würde sie vielleicht ruhiger werden. Das Meer war
heute hellblau und mit weißen Schaumstippen bedeckt, Windstärke
sechs bis sieben war da draußen, schätzte sie. Der Brunnen war
angeschaltet. Du mit deinem Plätschern, hatte Matteo gesagt, jetzt
war der Garten von dem Geräusch erfüllt, und sie konnte es kaum
ertragen. Sie hatte alles kaputt gemacht. Matteo wusste jetzt Dinge
von ihr, die sie ihm lieber verheimlicht hätte. Unnötige Details
über Roberto, die Waffe, ihr Schnüffeln in den Tagebüchern. Sie
hatte ihm im Zorn gesagt, was sie von ihm und Nina hielt.
Hoffentlich kam er nicht hinter ihr her.
Aber da war er schon, sie konnte seine Schritte von
allen anderen unterscheiden. Er tat, als sähe er sie nicht, griff
prüfend nach den Ästen der Zitronenbäume, kontrollierte sie auf
Schädlinge, langsam wanderte er von Baum zu Baum. Sie wollte zu ihm
hinunterspringen, blieb aber sitzen.
»Ich habe Tiziano gesagt, dass du ihn treffen
willst!«, sagte er endlich zu der Mauer.
»Dann werde ich ihn eben treffen«, rief sie zu ihm
hinab.
»Du musst nicht! Mach, was du willst!«
»Danke, das tue ich ohnehin!«
»Ach, das hätte ich gar nicht gemerkt.«
War er nur gekommen, um sie zu beleidigen? Er war
ein Einzelgänger, wenn sie nicht mehr da wäre, würde er noch
wochenlang allein hier im Garten herumfuhrwerken und sich um die
Pflanzen kümmern.
»Was hat er gesagt, er kennt Heidi, war er mit ihr
…zusammen?« Kein Wort schien mehr passend.
»Das, was ich wusste, habe ich ihm erzählt, er war
… er reagierte etwas verstört.«
»Kein gutes Zeichen, wenn Männer verstört
sind.«
Magdalena hangelte sich rückwärts von der Mauer und
tastete mit den Füßen nach den Vorsprüngen. Es sah bestimmt
furchtbar ungeschickt aus, er sollte ihr nicht dabei zusehen. Aber
natürlich beobachtete er sie und kam zu allem Überfluss auch noch
auf sie zu.
»Er kommt heute Abend bei uns vorbei, wenn du auch
kommen willst, bitte, musst du selber wissen.« Es klang nicht
gerade einladend. Magdalena zuckte mit den Schultern, sie wollte
ihm nicht den Gefallen tun, aufgeregt nachzufragen. Wenn der
sindaco etwas wusste, würde sie es aus ihm
herausbekommen.
»Und das mit Roberto und dir ist tatsächlich
vorbei?« Aha, es interessierte ihn.
»Natürlich!«, beeilte sie sich zu sagen. »Ich hab
doch erzählt, dass ich heute sämtliche Hemden in seinem Schrank
erschossen habe!«
Matteo nickte. »Woher kannst du eigentlich
schießen?«
»Er hat es mir beigebracht.«
»Du spinnst, na ja, vielleicht hättest du die Waffe
lieber mitnehmen sollen, damit du später einen Grund hast, noch
einmal zu ihm zu gehen?«
Sie schüttelte entrüstet den Kopf.
»Doch, das wäre doch nett gewesen, du bringst sie
ihm zurück, und dann ratscht ihr ein bisschen, und dann schießt ihr
ein bisschen, und dann ›fegt‹ ihr, so wie sich’s gehört!«
»Du meinst, ich würde noch mal mit ihm ins Bett?
Spinnst du jetzt?«
»Erfahrung!«
Batsch! Sie hatte ihm eine geknallt.
»Scheißerfahrung, die du da hast.«
Wütend packte er ihre Handgelenke. »Mach das nicht
noch einmal!«
»Doch! Wenn du so einen Müll daherredest. Und du
tust mir übrigens weh!«
Er ließ sie nicht los. »Gleich merkst du, was
wehtun heißt!« Sie funkelten sich an, Magdalena zerrte, wollte weg
von ihm, doch seine Finger umklammerten sie wie eiserne Schellen,
sie kam nicht los. Plötzlich küssten sie sich, wild, wütend, er
hielt ihre Handgelenke noch immer umschlossen. Sie drängten sich
aneinander, die ganze Wut schien zwischen Magdalenas Beinen heiß zu
zerfließen, endlich ließ er ihre Arme los, ihre Zungen lösten sich
nicht voneinander, als er sie hochhob. Er küsste wunderbar,
unbeschreiblich. Sie schlang die Beine um ihn, suchend schaute
Matteo sich um, keines der dünnen Zitronenbaumstämmchen würde ihnen
standhalten. Er trug sie bis zu der Mauer, stemmte sie dagegen,
sodass sich die Steine in ihren Rücken bohrten, und presste sich an
sie, die Schnalle seines Gürtels war direkt zwischen ihren Beinen.
Sie hielt sich an seinen Schultern fest, zog dann seinen rasierten
Kopf noch dichter an sich heran und versank in seinem warmen,
weichen Mund.
»Verzeih mir!« Schwer atmend ließ er sie irgendwann
vorsichtig los, bis ihre Füße wieder Halt fanden.
»Was soll ich dir verzeihen, daran waren wir ja
wohl beide beteiligt.«
Magdalena zupfte den Faden aus der Jacke, an dem
einmal ein Knopf gehangen hatte. Er hätte nicht aufhören sollen,
sie zu küssen, jetzt würde sie wieder mit dem Denken
anfangen.
»Magdalena, da ist noch etwas, was ich dir sagen
muss.«
Sie sah ihm in die Augen und zog dabei unauffällig
ihr Höschen unter der Hose zurecht, es war ganz nass und fast
völlig zwischen ihren Pobacken verschwunden. Er hatte es bemerkt
und grinste kurz, bevor er wieder ernst wurde.
»Solltest du nicht bei Nina sein?«
»Ich habe einen Doktor angerufen, einen Freund von
mir, der kommt gleich und wird sie erst mal mitnehmen. Er hat eine
Praxis für solche Fälle, Burnout, Borderline … und wie das alles
heißt. Aber ich hoffe, sie fährt bald nach Rom und geht endlich zu
dieser Beratung, zu der ich sie immer überreden wollte. Du hast das
ganz richtig gesagt eben, sie merkt, dass sie keine Freundschaften
aushalten kann und Angst hat, einen anderen Menschen zu gern zu
haben. Das muss sie erst mal jemandem erzählen und
verarbeiten.«
»Und wenn nicht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht ihr
Hirte …«
Magdalena lächelte. »Was musst du mir sagen?«
»Na ja, Tiziano, der Bürgermeister, mach dir da
nicht so große Hoffnungen …«
»Mache ich mir nicht, aber hast du dir seine Zähne
angeschaut?«
»Wie bitte?«
»Seine Zähne, hat er spitze, lange Eckzähne oder
nicht?«
»Cavolo, ich hatte wirklich etwas
Wichtigeres zu tun, als ihm in den Mund zu gucken. Er lacht auch
nicht so oft, jedenfalls nicht mit mir. Ich war dabei, über die
Lizenz vom POLO zu verhandeln, und die Sache schien grad
absolut ins Stocken zu geraten, als ich ihm eher zufällig die
Geschichte von dir und dem Foto erzählte. Da wurde er auf einmal
ganz zappelig, ganz verstört eben, und hat plötzlich angeboten,
sich noch mal mit mir zu treffen. Er will auch mit dir
sprechen.«
»Ach, das ist aber nett! Ganz hervorragend ist das,
du benutzt mich und die ach so interessante Geschichte meiner
Mutter, um dein Ding hier durchzuziehen!«
»Wenn du es so sehen willst, dann sieh es so! Das
war nicht meine Absicht!«
»Nicht deine Absicht, aha. Aber vielleicht
Berechnung?«
Sie war wieder auf dem besten Wege, etwas, was ihr
lieb war, zu zerstören. »Wenn du meinst, es geht dir dann besser,
nenn es eben Berechnung!«
Ohne sie noch einmal anzuschauen, ging er in seinem
wiegenden Gang davon.