15
Magdalena stieg die Stufen hoch, leise knackten die langen Nadeln der Pinien unter ihren spitzen grünen Schuhen, genau wie heute am Spätnachmittag, als sie das POLO mit Nina zusammen verlassen hatte. Es schien Jahre her zu sein. Jetzt waren ihre Schritte zögernder, ihr Blick auf die Agaven und die Rosmarinbüsche nicht mehr so selbstverständlich. Warum hatte Matteo überhaupt darauf bestanden, sie hier abzuliefern, bevor er seinen rothaarigen Freund nach Procchio brachte, um sie dann wieder im POLO abzuholen?
»Du wirst Nina sowieso irgendwann wiedersehen, warum nicht jetzt? Sie würde sich übergangen fühlen, nachdem sie dir so geholfen hat. Sie ist extra in solchen Dingen.«
Magdalena setzte sich auf die oberste Stufe, unter den Pinien war es schon fast dunkel, die Tanzfläche schimmerte wie ein zugefrorener See. ›Extra‹, das war ein seltsamer Ausdruck für die Wechselbäder von warmer Freundschaft und kalter Ablehnung, in die sie von Nina in den letzten Tagen getaucht worden war.
Der Bus war längst in Forte dei Marmi, was würde Stefan der Treva-Touristik über sie erzählen? Mit ihrem Verhalten auf der Fähre hatte sie bestimmt weitere Minuspunkte gesammelt. Und der Ditfurther Verlag? Wie viele Tage Urlaub hatte sie überhaupt noch? Wo würde sie jetzt wohnen? Und warum das alles? Weil sie ein unsensibler Klotz war, weil sie einem Gesicht hinterhergerannt war, einem Giovanni aus den Abruzzen. Matteos Versuch der Schadensbegrenzung war mehr als zaghaft gewesen, er war ärgerlich auf sie, sehr ärgerlich.
Nach einigen Minuten stand sie auf und machte sich daran, die letzten schmalen Stufen zur Wohnung hochzusteigen, dort drüben auf der Tanzfläche standen die zwei Tische, an denen sie gegessen hatten, ein paar heruntergebrannte Kerzen lagen neben den Windlichtern aus Glas, die von Nina jeden Abend erneuert wurden. Magdalena holte tief Luft und befahl ihrem Atem, sich zu beruhigen. Dann klopfte sie. Vielleicht ist auch keiner von ihnen da, hoffentlich ist keiner von ihnen da.
»Avanti!«
Ninas Stimme klang fröhlich, etwas in Magdalena sackte zusammen und wurde ganz weich vor Freude, sie öffnete die Tür. Das Erste, was ihr auffiel, war der Geruch. Noch bevor sie sie sah, war das Parfüm zu ihr hinübergewabert. Zu viel Vanille, Moschus, Zuckerwatte, zu viel von allem, doch nicht in der Lage, den Schweißgeruch zu überdecken, der von dem dicken Mädchen, das auf dem Küchenstuhl hing und ihr seine nackten Füße entgegenstreckte, ausging.
»Tach.« Sie grinste sie verschwörerisch an. »Auch Deutsche? Ick bin Natascha, kannst mich Tascha nennen.« Magdalena wollte sie weder so noch sonst wie nennen, sie wollte umkehren, jetzt sofort, denn sie meinte in Ninas Augen exakt den Blick erkannt zu haben, den sie befürchtet hatte: Was will die denn wieder hier?
Schnell schaute sie auf Nataschas Handrücken, auf dem sich ein Speckpolster wölbte, anstelle ihrer Knöchel sah man kleine Grübchen in der prallen Haut. Natascha griff damit nach einem Stück Brot, das neben einem großen Teller mit Schinkenscheiben, Oliven und Käse auf dem Tisch lag, und seufzte.
»Weißte, wat ick jetzt gerne hätte?« Das dicke Mädchen wartete ihre Antwort nicht ab. »’ne echte Scheibe Schwarzbrot. Und’n Solei. Hab ick immer welche von zu Hause stehen. So’n großes Glas, stellt mir mein Dad immer hin. Echt lecker.« Magdalena nickte, ihr war ganz flau.
»Magdalena! Was ist passiert?!« Die Besorgnis in Ninas Stimme hörte sich echt an. Magdalena zuckte mit den Achseln: »Ich bin in Piombino nicht ausgestiegen, sondern mit der Fähre einfach wieder zurückgefahren.«
Kannst-mich-Tascha-nennen blickte zwischen ihr und Nina hin und her: »Bist wohl auch so abgebrannt wie ich? Habe da ein kleines Problemchen, bin schon drei Wochen hier und total fertig.«
Für etwas zu essen hatte es aber anscheinend noch gereicht. Verstohlen musterte Magdalena Taschas dicke Brüste, ihre fetten Oberarme und die strohigen blonden Haare auf ihrem Kopf.
»Geh doch erst mal duschen«, schlug Nina vor, »ich hab dir ein Handtuch hingelegt.« Tascha erhob sich, schlüpfte geziert in ihre ausgetretenen Lackpumps und trollte sich ins Bad, als ob es das Normalste der Welt wäre.
»Als ich vom Hafen zurückfuhr, stand sie an der Straße und trampte«, raunte Nina Magdalena zu, »ich wollte sie nur ein kurzes Stück mitnehmen, aber sie hat überhaupt kein Geld mehr und weiß nicht, wohin. Heute kann ich sie auf keinen Fall wieder wegschicken.«
Will Nina dieses Wesen etwa in ihrem Bett schlafen lassen!? Sie ist dreckig und ungepflegt, dachte Magdalena und schämte sich sofort für ihre egoistischen, üblen Gedanken. Na ja, dreckig warst du auch, erinnere dich! Was hat Matteo Nina zugemurmelt, als er deine 57 Kilo die Treppe hochschleppte? Sie erinnerte sich nicht mehr genau, irgendetwas von einer Pflanze, die sie pflegen könne. Nina holt sich dauernd Leute ins Haus, die ihre Hilfe brauchen, kaum bin ich weg, setzt sie sich die fette Tascha in die Küche.
»Was wird Matteo dazu sagen?«
»Was wird er schon sagen? Nichts. Bei dir hat er ja auch nichts gesagt!« Stimmt, und trotzdem finde ich es blöd, dass du dich sofort wieder um jemand anderen kümmern musst, wollte Magdalena am liebsten sagen. Aber das würde sich mehr als kleinlich und eifersüchtig anhören.
»Erzähl! Was war los?«, unterbrach Nina ihre Gedanken.
»Ich wollte gerade runter von der Fähre, da habe ich meinen Vater drüben in Piombino einsteigen sehen, also ich dachte wenigstens, er wäre es.« Magdalena spürte auf einmal den fehlenden Schlaf der letzten Nacht in den Beinen. Sie setzte sich, stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Sie hörte Nina am Herd hantieren. »Und da fährst du ganz spontan wieder mit rüber, das finde ich - na ja, mutig.« Es klang, als ob sie etwas anderes hätte sagen wollen.
Magdalena hob den Kopf: »Was ist daran mutig? Es war dumm und peinlich, denn er war es natürlich nicht. Es war ein gewisser Gianni, dem das Tirello oder so gehört, der hat sich zunächst kaputtgelacht und mich dann ziemlich beschimpft.«
»Doch nicht etwa Giovanni! Vom Tintorello!? Und den hast du gefragt? Oh Dio!! Der ist unfruchtbar, das weiß halb Elba.«
»Halb Elba vielleicht, aber Matteo wusste es nicht.«
»Matteo?«
»Der stand mit ihm zusammen an der Fähre.«
Nina sog zischend Luft durch die Zähne ein. »Oje. Da hast du Giovanni gefragt, ob er dich mit deiner Mutter gezeugt hat …«
»Noch schlimmer, ich habe es sogar behauptet! Ich bin deine Tochter, habe ich zu ihm gesagt, ich Idiotin!«
»Da hast du, ohne es zu wissen, ordentlich in einer Wunde herumgebohrt!«
Magdalena betrachtete ihre Schuhe und nickte. Es war, als wäre sie mit diesen spitzen Absätzen darin herumgewatet, in einer Wunde, die nach Unfruchtbarkeit und ungewollter Kinderlosigkeit roch. Sein gequältes Lachen, die schräg geschnittenen, glänzenden Augen seiner Adoptivkinder und den entsetzten Blick seiner Frau würde sie nie vergessen.
»Es war megapeinlich! Aber ich werde weitersuchen!«
Jetzt frage ich mich allerdings schon wieder, wie ich mir das vorgestellt habe … Sie spürte, wie die Enttäuschung sich immer weiter in ihre Magenwände fraß. Die Küche war besetzt, Mikkis Zimmer, Evelinas Zimmer, Ninas Bett - alles war besetzt, hier war kein Platz mehr für sie, das hatte sie schon bei ihrer Abreise deutlich empfunden.
»Also, ich gehe dann mal, ich suche mir ein Hotel.« Magdalena nahm ihren Korb, ging zur Tür und zählte die Sekunden. Einundzwanzig, zweiundzwanzig - Nina stand in ihrem Rücken, nichts, sie rief sie nicht zurück. Dreiundzwanzig. Magdalena wollte heulen. Sie wollte etwas kaputt machen. Warum war sie nicht mit Stefan mitgefahren? Opa Rudolf wartete zu Hause mit seinem Eintopf auf sie, ihr Zimmer, die schöne ruhige Küche im Hausmeisterhäuschen, das war die Sicherheit, die sie brauchte, alles andere war Unsinn. Keine drei Stunden waren vergangen, doch schon hatte Nina mit ihr abgeschlossen. Kaum am Hafen abgesetzt, hatte sie sie sofort vergessen und fünf Minuten später in der dicken Tascha bereits ein neues erbarmungswürdiges Geschöpf gefunden, das sie aufpäppeln musste.
Soll ich tatsächlich weitersuchen? Ist das wirklich die Lösung, plötzlich alles umzuschmeißen, nur um hinter den falschen Gesichtern herzulaufen, nur um jemanden zu finden, dem ich bis jetzt ziemlich egal gewesen bin, der gar nichts von meiner Existenz mitbekommen hat? Das unbeteiligte Schulterzucken der Leute, denen sie das Foto gezeigt hatten, fiel ihr wieder ein. Sie hatte die ganze Insel mit Fotokopien des mittlerweile arg verknickten Fotos und Ninas Handynummer gepflastert, und es war nichts passiert. Sie hatte überhaupt keine Chance. Und was ist mit dem Gemüsemann und Olmo Spinetti, die gibt es ja auch noch! Magdalena stieß einen verächtlichen Lacher aus. Ein greiser Gemüsemann und der Besitzer eines geschlossenen Restaurants schafften es immer noch, sie mit Hoffnung zu erfüllen.
»Warte mal - Magdalena, Magdalena!«
Magdalena stellte den Korb ab und drehte sich um, sie wollte Nina umarmen, verschränkte aber nur die Arme vor der Brust.
»Das Wichtigste für dich ist es, ihn zu finden, oder?« Draußen, hinter Ninas Kopf, sah sie den schwarzen Hosenanzug auf der Wäscheleine, den sie heute Mittag ausgewaschen hatte, seine weiten Arme und Beine wiegten sich sanft in der Dämmerung. Eine leere Hülle, in der sie für eine Nacht gesteckt hatte, in der sie fast unbeachtet von den anderen dennoch ein Teil ihrer Gemeinschaft gewesen war. Unbeachtet? Matteo hatte sie beachtet, seine Sätze draußen auf der Terrasse fielen ihr wieder ein: Jeder hat eine Bestimmung in seinem Leben, jeder hat etwas, was er unbedingt tun muss. Ihre Bestimmung war es, ihren Vater zu finden.
»Mein Leben mit Rudi in unserem alten Schulhaus fühlte sich immer unvollständig an. Und seitdem ich weiß, dass die Antwort auf alle Fragen hier auf Elba liegt, werde ich weiter nach meinem Vater forschen.«
Nina hob die Hände und machte ein ernstes Gesicht, während sie sich in der Küche umschaute: »Finde ich gut, dass du hierbleibst und weitersuchst, ich würde dir ja gerne … aber es ist einfach kein Platz mehr. Oder … wir könnten natürlich das Sofa von der Terrasse hier hereinschieben …« Es klang nicht sonderlich euphorisch.
»Nein, ich gehe in ein Hotel, ich komme schon klar, wirklich, danke!« Ihre Stimme hatte während des letzten Satzes zum Glück fast gar nicht gezittert. Magdalena drehte sich wieder um und hatte die Türklinke schon in der Hand, als sie von draußen eilige Schritte die Treppe heraufkommen hörte und gerade noch beiseitespringen konnte, bevor Evelina die Tür aufstieß.
»Ciao, Kirtsch!« Sie brachte sogar den Ansatz eines Lächelns zustande, bevor sie türenknallend in ihrem Zimmer verschwand. Nina und Magdalena sahen sich an und fingen an zu lachen.
»Sie hat dich ins Herz geschlossen«, sagte Nina, »Kirtsch ist nun wohl ihr Spitzname für dich!«
Evelina riss ihre Tür wieder auf: »Ouuh, Kirtsch!«, rief sie, wie zur Bestätigung. »Ich habe Matteo in Procchio getroffen, weil ich ihm heute Morgen mein Auto geliehen habe, egal, auf jeden Fall steht er jetzt unten auf der Straße und wartet auf dich, warum auch immer! Erinnere ihn bitte noch mal, dass er tanken muss!«
»Grazie, Evelina! Iooo … äh, dico a lui …«
»Glielo dico, ich sage es ihm«, half Nina. Richtig, so musste es heißen, das war diese schwierige Form, bei der sie sich immer die Zunge unter dem Gaumen verrenkte, wenn sie ihr denn überhaupt einfiel. In diesem Augenblick öffnete sich die Badezimmertür, und Tascha trat heraus. »Ick hab hier mal’n Problemchen, da kommt Wasser oben ausm Klo.« Nina rollte mit den Augen, ohne dass Tascha es sehen konnte.
»Solche Fehler muss man vermeiden«, sagte sie, und Magdalena ahnte, dass Nina damit nicht ihr Sprachproblem meinte. »Ciao, ciao, Matteo wird dir mit einem Hotel helfen.« Mit diesen Worten lief sie ins Bad, einem neuen Problemchen entgegen.
Magdalena nahm ihren Korb, schloss leise die Haustür hinter sich und ging die Stufen hinunter. Sie fühlte sich müde wie nach 3000 anstrengenden Schwimmmetern. Die Abendluft erschien ihr weicher als vorher, sie duftete nach den Blüten der Zitronenbäume. Was sollte der Trübsinn? Sie war am Leben, ihr Bein tat nicht mehr weh, Nina war immer noch nett zu ihr und Matteo offenbar nicht allzu sauer. Sie hatte Fotos und ein Tagebuch von ihrer Mutter und genug Geld, um sich ein Hotelzimmer zu mieten. Kurz war Magdalena versucht, einen kleinen Umweg in den Zitronengarten zu machen, aber sie wollte Matteo unten auf der Straße nicht warten lassen. Sie nahm die Korbtasche von der rechten in die linke Hand, immer noch nicht mehr Gepäck. Der kleine, von Opa Rudi gepackte Koffer befand sich in zwei Tagen schon wieder auf der Heimreise. Sie merkte, dass sie vor sich hin summte. Dieser Giovanni war also nicht ihr Vater. Irgendwie war sie froh, dass er es nicht war, sie würde einen anderen, besseren, passenderen Vater finden. Es schien auf einmal, als könnte nichts mehr schiefgehen. War sie bereits total durchgedreht? Freute sie sich vielleicht auch noch an der Tatsache, keine Arbeit in Deutschland mehr zu haben und keinen Platz in Ninas Bett? Seltsam, es machte ihr nichts aus. Sie forschte tiefer in sich, während sie die Treppe hinunterstieg. Nichts, keine Angst kam auf. Jetzt musste sie Rudi nur noch ihre Abwesenheit während der nächsten zwei Wochen erklären, keine Ahnung, wie sie das anstellen wollte, aber hatte er ihr nicht die Katzenzungenschachtel geschickt? Also würde es ihr auch gelingen. Die Gewissheit hüllte sie ein wie der Duft der Zitronenblüten. Wenn ich mir doch immer so sicher sein könnte, dachte sie und sprang zwei Stufen auf einmal hinab.
Magdalenas Garten
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