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Sie sah ihn dort sitzen, reglos, die Arme
auf die Stuhllehnen gelegt, als wäre er nicht nur blind, sondern
auch gelähmt. Das war er also. Der Mann, den sie seit zwei
Jahren, zwei Monaten und einer Woche suchte. Tiziano.
Wer hatte die beiden weißen Plastikstühle unter die
Bäume getragen? Matteo wahrscheinlich. Der Brunnen war abgestellt,
auch das Werk von Matteo.
Tiziano also. Schämte er sich, dass er Heidi mit
dickem Bauch hatte sitzen lassen? Natürlich schämte er sich! Er
hatte allen Grund dazu! Ich werde ihn duzen, ich werde ihn
keineswegs ehrfürchtig als Bürgermeister behandeln, auch nicht als
armen Behinderten, als Blinden. Aber er ist blind! Das ist mir
scheißegal!
Da saß er nun, seine Haare schimmerten hell, dicht
wie eine Mütze. Die Dauersonnenbrille, den komischen schwarzen
Kasten wie immer auf der Nase. Magdalena atmete ein paarmal kurz
ein und dann lange wieder aus, damals hatte das vor den
Schwimmwettkämpfen gegen die Nervosität geholfen, hundert Meter
Freistil, ihre Disziplin. Er hat sie sitzen lassen. Ich werde ihn
duzen und als den kleinen Jungen behandeln, der er damals war.
Eben, er war verdammt jung gewesen, erst zwanzig oder so. Aber wenn
er vögeln, fegen, nudeln konnte, konnte er auch die Konsequenzen
tragen!
Ihr Herz klopfte nicht mehr so stark,
möglicherweise war es inzwischen daran gewöhnt, zu oft hatte sie in
den vergangenen Wochen gedacht, ihrem Vater gegenüberzustehen. Da
war Giovanni auf der Fähre, mit ihm hatte es angefangen, danach
Olmo, dann Antonello, der glückliche Antonello, er ruhe in Frieden,
und jetzt er: der Bürgermeister von Portoferraio. Ausgerechnet
er war blind und hatte die Fotos von Heidi und sich, die in
seiner Stadt überall an den Mauern und Masten hingen, abreißen
lassen.
»Buona sera!« Natürlich hatte er ihre
Anwesenheit schon längst bemerkt, mit seinem witternden, ruhigen
Schildkrötenkopf.
»Sono Maddalena!« Er stand auf, plötzlich
angespannt, dennoch wirkte er stark und selbstbewusst, nur sein
Lachen, das am unteren Rand der schwarzen Brille endete, schien
aufgesetzt und ließ Magdalena fast aufschreien - die Wolfszähne,
weiß und spitz.
»Maddalena«, sagte er, »wie schön, dich endlich
richtig kennenzulernen.« Sollte sie ihm die Hand geben? Aber
wie?
»Ich dachte, wir könnten erst mal etwas trinken.
Martini?« Er hatte sich informiert, auf dem kleinen Schemel standen
zwei Gläser mit Eis, eine Flasche Weißwein, eine Flasche Martini
und Wasser. Magdalena fühlte sich geschmeichelt, aber das wollte
sie sich nicht anmerken lassen, Gott sei Dank konnte er ihr Lächeln
nicht sehen. So leicht würde er ihre unangenehmen Fragen zwischen
dem grünen Laub der Zitronenbäume nicht abwehren können.
»Gerne.«
Er wusste genau, wo alles stand, hielt das Glas am
Rand fest, goss geschickt ein und reichte es ihr dann. Auf dem
Rückweg mit dem Roller hatte sie alle Antworten, die er ihr
vielleicht geben würde, bereits durchdacht, sie hatte Argumente,
Gegenargumente,
sie hatte Lösungen, Alternativen, Erwiderungen aller Art. Er würde
es schwer haben, sich herauszureden.
»Ich bin …«, er begann noch einmal von vorn: »Seit
vorgestern bin ich nicht mehr in der Lage, in die comune zu
gehen. Die Nachricht, dass Heidi tot ist, hat mich schwer
getroffen. Auch wenn es schon so lange her ist, für mich ist es,
als sei sie erst vorgestern gestorben. Ich wollte … ich musste dich
treffen, aber du warst nicht aufzufinden.«
»Du sehr lange Zeit auch nicht.«
Er lachte kurz auf, es klang bedrückt. »Darf ich
deine Hand haben?« Er streckte seine Hand aus, und sie gab ihm ihre
freie Linke, er hatte angenehm trockene Hände und schien ihre Hand
zwischen seinen jetzt abzutasten, als ob er etwas darin suchen
würde, dann ließ er sie los.
»Ich könnte dir jetzt erzählen, dass ich deine
Mutter geliebt habe und mir alles sehr leidtut. Aber so war es
nicht.« Ein kalter Stoß durchfuhr Magdalena, sie nahm einen Schluck
Martini, die Eiswürfel knisterten. Na gut, das hatte sie erwartet.
Ein in den Putz geritztes Herz, was bedeutete das schon, wenn man
zwanzig war? Jetzt spinn nicht rum, sagte sie sich, es bedeutet
alles, wenn man zwanzig ist oder dreißig oder auch dreißig
und zwei Monate.
»Ich habe sie sogar sehr geliebt, und das hat mir
Angst gemacht. Ich hatte das damals nicht für mich eingeplant. Ich
wollte cool sein und möglichst viel erleben. Auch in puncto Sex.«
Er war die ganze Zeit auf einer Stelle stehen geblieben und hob ab
und an wie ein Dirigent an seinem Pult seine schönen Hände. Es kam
ihr vor, als schaue er ihr direkt in die Augen.
»Dio, wir waren so glücklich miteinander,
wir redeten über alles, was uns beschäftigte, was uns wichtig war,
sie wusste so viel mehr als ich, aber sie hat mich das nie spüren
lassen. Durch sie habe ich überhaupt erst angefangen, Zeitung zu
lesen, mich
zu informieren, was politisch so läuft. Später. Als ich sie schon
verloren hatte.«
»Sie kam im Herbst zurück und war schwanger. Warum
ging es nicht weiter mit euch?«
»Weil ich ihr die Wahrheit gesagt habe.« Er schaute
sich um.»Kannst du mir ein Glas Weißwein geben?« Magdalena nickte
und ging zu dem Schemel unter dem Baum. Zu spät fiel ihr ein, dass
er sie ja nicht sehen konnte.
»Die Wahrheit?«
»Wenn ich nur nicht so dumm gewesen wäre.«
»Hier.« Sie ging wieder zu ihm und drückte ihm das
Glas in die Hand. Er trank einen Schluck und sagte: »Manchmal ist
die Wahrheit einfach falsch.« Magdalena wartete.
»Mein Freund Paolo und ich, wir hatten das mit der
Liebe irgendwie nicht eingeplant.« Magdalena hielt die Luft an,
jetzt kam endlich der ominöse Paolo ins Spiel.
»Die Mädchen fielen uns vor die Füße wie reife
Pflaumen, wir mussten uns nicht mal strecken, um sie zu pflücken.«
Seine genaue, etwas blumige Art, sich auszudrücken, gefiel ihr
sehr. Magdalena merkte, dass sie ihn gegen ihren Willen sympathisch
fand.
»Als ich Heidi kennenlernte, war ich genau auf
diesem Trip: einfach nur genießen - und dann weiter zur Nächsten.«
Er sprach den Namen ihrer Mutter sogar richtig aus, mit einem H,
für das er extra eine Portion Luft zu holen schien.
»Ich habe diese Geschichte bis jetzt nur einem
einzigen Menschen erzählt: ihr.« Er schüttelte bedauernd den Kopf,
und Magdalena hätte dabei zu gerne seine Augen gesehen.
»Eines Abends versuchte Paolo mich zu überreden, er
wollte heimlich die Mädchen tauschen, das hatten wir schon zwei-,
dreimal vorher geschafft.«
Magdalena musste sofort an Roberto denken, ihr
wurde ganz
flau im Magen, und sie spürte, wie ihre gerade gewonnene Sympathie
für Tiziano aus ihr entwich, wie Luft aus einem Fahrradreifen.
Betont sachlich fragte sie: »Wie habt ihr das denn
hinbekommen?«
»Wir waren beide nicht hässlich, waren immer
zusammen unterwegs, haben dann irgendwo im Zelt probeweise mal zu
der anderen rübergelangt, und dann mehr … das ging schon
manchmal.«
»Aber in diesem Fall?«
»Aber in diesem Fall wollte ich es nicht, ich war
verliebt und wollte Heidi nicht teilen, und ich hatte auch keine
Lust auf diese Holländerin. Sie war zwar ein schönes Mädchen, aber
…«
»Margo!«
»Du weißt ihren Namen, kennst du sie?!«
»Nein. Nur aus dem Tagebuch meiner Mutter.«
»Freiwillig würde auch Heidi es nicht machen, das
wusste ich, also ließ ich mich von Paolo überreden. Er hat mir so
einen Schwachsinn erzählt: Wir Männer lassen die Liebe lieber weg,
damit fahren wir besser, wir lassen uns von Frauen nicht aussaugen,
hat er immer gesagt. Er hatte ziemlich genau den gleichen Körperbau
wie ich und einen Plan. Es musste dunkel sein, und wir durften
nicht reden, kein einziges Wort. Dann haben wir uns Details
erzählt, wie wir es machen, unsere Liebestechnik, unsere Art. Es
war interessant und abartig zugleich.« Er unterbrach sich.
»Verstehst du alles, was ich sage?«
»Und mehr«, gab Magdalena zur Antwort. Sie
sah alles vor sich, das Zelt, das Meer, eine Nacht ohne Mond, zwei
junge Männer, die über den Strand huschten und …
»Wir haben alles durchdacht, Paolo war ein Meister
darin. Vorher viel Wein für die Mädchen, keine Feuerzeuge in der
Nähe, Taschenlampen verstecken, sogar ein kleines Zeichen haben wir
uns gemacht, wir haben uns beide ein Pflaster an eine
unsichtbare Stelle geklebt, von der jeweils Margo und Heidi
wussten.« Er schnaubte verächtlich bei der Erinnerung.
»Und, hat es Spaß gemacht?« Sie wollte kein Mitleid
mit ihm haben.
»Ich habe es für ihn getan und um mir meine eigene
Coolness zu beweisen - so würde man das wohl heute nennen - und aus
Angst vor zu vielen Gefühlen für diese Deutsche, die mir so
unwahrscheinlich gut gefiel. Danach haben wir natürlich wieder
getauscht, sind unter einem Vorwand raus und bei der richtigen Frau
wieder rein ins Zelt. Ich habe mich so geschämt und war höllisch
eifersüchtig. Und als sie mir am nächsten Morgen sagte, dass es
gestern so anders gewesen wäre, so ganz besonders, und alles wäre
so schön mit mir, und … Eine Katastrophe! Ich musste immer an Paolo
denken, was hatte er mit ihr nur angestellt, sie war ganz
aufgekratzt, albern und fröhlich.«
»Und dann seid ihr hoch zur Santa Lucia gegangen
und habt euch verewigt.«
»Nein, das war vorher, nachher wäre es nicht mehr
möglich gewesen. Ich habe mir nach dieser Nacht selbst nicht mehr
geglaubt. Liebte ich sie denn wirklich, wenn ich zu so etwas in der
Lage war?«
Magdalena nickte. »Und deswegen hast du dich nicht
mehr gemeldet, und als sie feststellte, dass sie schwanger war
…«
Tiziano seufzte und kehrte zu seinem Platz zurück.
Mit einer kaum sichtbaren Bewegung registrierte er, wo der Stuhl
stand. »Setz dich doch auch.« Er lehnte sich zurück. »Ich wollte
mich bei ihr melden, schon gleich nach ihrer Abreise dachte ich,
egal, ich liebe sie, ich hole sie zurück. Dann kam ich für einen
Monat in den Knast.«
»Warum das denn?« Magdalena setzte sich ebenfalls,
rutschte aber ganz nach vorn auf die Stuhlkante. »Weil ich
verdächtigt
wurde, ein Kind überfahren zu haben. Ich hatte Paolo ein Alibi
gegeben, der in eine Affäre mit einer verheirateten Frau aus
Capoliveri verstrickt war. Nicht wissend, dass er in dieser Zeit
mit dem Auto einen Unfall gehabt hatte. Also kam ich erst mal in
Livorno ins Gefängnis. Ich konnte weder meine Unschuld beweisen
noch Heidi erreichen.«
»Hat das Kind überlebt?«
Er lächelte. »Das hätte Heidi auch sofort gefragt.
Ja. Es hat überlebt, es war nur leicht verletzt, aber Fahrerflucht
wird in Italien schwer bestraft.«
Magdalena schaute in die Kronen der Zitronenbäume,
der Wind von heute Nachmittag hatte sich gelegt, ein Mückenschwarm
tanzte in der unbeweglichen Luft, es musste ungefähr sechs Uhr
sein. Matteo würde nicht mehr in den Zitronengarten kommen, Ninas
russischer Lada hatte nicht vor der Tür gestanden, vielleicht war
er schon abgereist, vielleicht brachte er das Auto für sie nach
Rom.
»Als ich dann endlich rauskam, waren meine Sachen
zu Hause verschwunden, mein Vater hatte aus Zorn über mich fast
alles von mir weggeschmissen, und ich hatte ihre Telefonnummer
nicht mehr und musste erst mal Geld verdienen. Die ganze Situation
war total verzwickt, aber im November hat sie mich dann endlich
durch einen Freund aus Marina di Campo ausfindig gemacht, sie hat
mich angerufen, und ich bin nach Elba gefahren. Ich war noch nie so
nervös wie auf dieser Überfahrt und bin aus allen Wolken gefallen,
als ich sie sah, sie hatte mir nichts gesagt …«
Magdalena sah Heidi mit ihrem Wollschal um den
Bauch vor sich. Der Film ihres Lebens, dessen Anfang sie nie
gesehen hatte, lief plötzlich in voller Länge vor ihren Augen
ab.
»Es war ein seltsames Wiedersehen, ich war
befangen, sie war so schön, so anders schön. Ich habe sie gefragt,
ob das
Kind von mir sei. Total dumm, unnötig, verabscheuungswürdig. Dafür
könnte ich mich heute noch ohrfeigen.«
Magdalena zog die Augenbrauen hoch. O Gott, sie
kannte doch das Ende und betete dennoch völlig unlogisch dafür,
dass alles gut ausging.
»Meines Wissens habe ich in diesem Sommer nur mit
dir geschlafen, sagte sie. Da weißt du aber nicht alles,
habe ich erwidert. Warum nur? Warum? Weil ich über mein eigenes
Handeln so entsetzt war?«
Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen.
Magdalena betrachtete ihn neugierig, sie waren braun und wirkten
ganz normal.
»Wir waren überfordert von den Gefühlen, mit denen
wir uns nach den Monaten der Trennung wieder aufeinanderstürzten.
Sie wollte wissen, was ich mit meiner Bemerkung meinte, wir haben
uns gestritten, und ich habe ihr schließlich die ganze Geschichte
erzählt und ihr gesagt, dass es mir so leidtäte wie nie etwas zuvor
in meinem Leben.«
Magdalena wusste nicht, was sie denken sollte. Sie
wollte ihn einerseits trösten, andererseits hätte sie ihn am
liebsten geschlagen.
»Warum gehst du davon aus, dass ich deine Tochter
bin? Da du meine Mutter so großzügig an deinen Freund ausgeliehen
hast, kann ich ja genauso gut sein Kind sein.«
Er verzog sein Gesicht.
»Paolo hat mir erst später gestanden, dass er gar
nicht mit ihr geschlafen hat. Hat nicht geklappt, zu viel Alkohol.
Er hat’s beim Leben seiner Mutter geschworen. Und die ist heute
über neunzig!«
Tiziano schien zu spüren, dass Magdalena ihn immer
noch ansah, mit einigen Fachausdrücken versuchte er ihr zu
erklären, warum er blind war. Magdalena verstand es nicht, er
winkte ab.
Incurabile. Vielleicht doch, in ein paar Jahren, mit neuer
Technologie. Sie schwiegen beide. Die Minuten vergingen, Magdalena
balancierte gedankenverloren das Glas auf ihrem Bein.
»Sie hat dir nicht vergeben …«
»Nein«, sagte er, »ihre Augen sagten mir im selben
Moment, dass sie mir nie verzeihen würde. Auch nicht später, als
Paolo bei ihr anrief und alles als seine Idee ausgab, was ja
letztlich auch der Wahrheit entsprach. Meine Briefe hat sie nie
beantwortet.«
Magdalena nahm seine Hand.
»Ich verzeihe dir«, sagte sie und drückte sie fest.
Es war die Hand ihres Vaters. Alles war mit einem Mal ganz
einfach.
Als Matteo sie so fand, strich er sich über den
Hinterkopf, als ob er seine Haare vermisste, und wollte gleich
wieder gehen.
»Warte«, sagte Magdalena, drückte noch einmal
Tizianos Hand, bevor sie sie losließ, und stand auf. Sie ging auf
Matteo zu, er wich zurück.
»Nachher haust du mich wieder!«, sagte er und
grinste.
»Sie macht nämlich alles kaputt, was sie mag«, rief
er Tiziano zu, »nehmen Sie sich in Acht!«
»Wenn du mich freiwillig küsst, könnte ich mir
diese hundsgemeine Charaktereigenschaft für den Rest meines Lebens
vielleicht abgewöhnen.«
Er küsste sie.