13
Buon viaggio!« Mikki gab ihr einen weichen Kleine-Jungen-Schmatzer auf die Wange.
»Kiirtsch, auch von mir: gute Reise, schick uns eine Postkarte aus dem immer total verregneten Germania, in das ich bestimmt niemals freiwillig fahren werde!«, krächzte Evelina mit noch heisererer Stimme als sonst und küsste sie zweimal. »Obwohl, die Deutschen sollen ja auch gute Liebhaber sein, zack, zack, parat, ordentlich und gewissenhaft …«
»Basta, Evelina!« Nina zuckte die Schultern. »Zwanzig nach fünf, ich glaube, wir sollten fahren!«
Magdalena verkniff sich die Tränen, die ganz unnötig in ihr aufsteigen wollten. Die vergangenen Stunden hatte sie im Zitronengarten verbracht, Abschied genommen von jedem Baum, Strauch, Pinienstamm, während Nina, den Kopf unter Matteos Kissen vergraben, in der Küche schlief und Matteo schon längst in Livorno Autos kaufte. Ihren Plan mit dem Koffer hatte sie aufgegeben, sie hatte Stefan eine SMS geschickt und ihre kostbare restliche Zeit auf Elba einfach so verstreichen lassen.
 
Am Fährhafen war nicht viel los, ein paar Autos suchten nach dem richtigen Anleger, die Möwen kreischten, und die Fahnen flatterten heftig im Wind. An der Mole von Toremar lagen zwei Fähren, deren hoch aufragende Wände mit gigantischen Comicfiguren bemalt waren, aber Magdalena war nicht zum Lachen zumute. Schon von Weitem erkannte sie in der Schlange der Autos den Treva-Bus mit seinem Doppeldeckeraufbau und dem blauen Schriftzug auf weißem Grund. Einige Leute standen um den Bus herum, das waren die, die auf Nummer sicher gingen und bereits vierzig Minuten vor der angekündigten Abfahrt wieder am Bus eintrafen. In jeder Gruppe gab es welche von ihnen, oft beschwerten sie sich am Ende der Reise, dass sie von den Städten nicht viel gesehen hätten.
Nina hielt vor der Zufahrt zur Einschiffung im absoluten Halteverbot, sie stiegen aus und hielten sich kurz umarmt.
»Komm«, sagte sie, »ich mag keine Abschiede, machen wir’s kurz«, und streichelte Magdalenas Oberarm. Der Wind roch nach Diesel und Fisch. »Und bedankt hast du dich eh schon tausendmal!«
Magdalena nickte, nahm die Korbtasche, in die sie ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte, und ging auf den Bus zu.
»Ich werde dich vermissen«, schrie Nina ihr nach, »wer wird jetzt Ordnung in mein Leben bringen? Meine Schuhe sortieren? Und meine Klamotten?!«
Schon blüht Nina wieder auf und wird zu der perfekten, einfühlsamen Trösterin, dachte Magdalena. Wenn alle um sie herum allerdings gut gelaunt und glücklich sind, bekommen ihr Lachen und ihre Lebendigkeit etwas Bemühtes. Woran liegt das? Nina lachte, schwang sich winkend ins Auto und fuhr davon. Wieder stiegen Tränen in Magdalenas Nase hoch und landeten direkt in ihren Augen, sie versuchte den Kloß im Hals wegzuräuspern, diese Art von Traurigkeit kannte sie noch gar nicht, sie war bisher immer gern wieder nach Hause und zurück zu Rudi gefahren.
Sie hasste plötzlich alles in ihrem bisherigen Leben, sie wollte da nicht wieder hinein, nicht wieder zurück. Wie ein kleines Kind stampfte sie mit dem Fuß auf. Wie lange schon? Wie lange hasste sie ihr Leben schon? Machte ihr die Arbeit im Verlag denn keinen Spaß? Heute Morgen hatte sie sich doch noch auf ihren Schreibtisch gefreut, auf das Summen des Monitors, auf die Konzentration, die es erforderte, eine Karte zu erstellen, die jeder Laie verstehen konnte. Oder war es nur die Freude über die Gewissheit gewesen, bald wieder in einem überraschungslosen Alltag versinken zu können?
»Hallo«, Stefan kam auf sie zu und gab ihr förmlich die Hand, »du bist pünktlich. Schön!« Er lächelte. »War das die Frau, bei der du gewohnt hast?«
»Ja. Nina.«
Nina. Nina Nannini. Sie war weg. Aus welchen Gründen auch immer sie sich um sie gekümmert haben mochte, was sie erlebt hatte, warum sie so traurig war, das alles würde ihr ein großes Rätsel bleiben. Doch sie hatte beschlossen, Ninas seltsames Verhalten ganz schnell zu vergessen und nur an die Momente zu denken, in denen sie ihr eine Freundin gewesen war, die sie jetzt schon vermisste.
»Ist eigentlich inzwischen alles wieder in Ordnung mit dem Bein?«
»Ja.« An einem anderen Tag hätte sie vielleicht auf eine Entschuldigung für sein Wegfahren gewartet, doch heute waren ihre Gedanken ganz woanders.
»Gutes Wetter hattest du ja!«
»Ja. Stimmt.«
»Da ist Resi. Sie hat auch diese Fahrt übernommen. Fähige Frau!« Ja, wirklich, auf der Rückfahrt würde Magdalena sich bei ihr bedanken, sie hatten ja Zeit, eine Stunde auf der Fähre und dann noch mal eineinhalb Stunden bis nach Forte dei Marmi. Mit einer Handbewegung, in die sie etwas von Ninas Lebhaftigkeit zu legen versuchte, winkte Magdalena Resi zu und beobachtete sie. Beim Ein- und Aussteigen musste die Bord-Stewardess an der hinteren Tür bereitstehen und den älteren Leuten helfen. Also allen. Die Geschäftsleitung wollte das so. Resi konnte es perfekt, sie stützte hier einen Ellbogen, half dort jemandem mit einem kleinen Scherz die hohe Stufe hinauf und gab keinem das Gefühl, alt und klapprig zu sein.
Stefan folgte Magdalenas Blick und drückte ihre Hand.
»Also, es tut mir echt leid, was da neulich passiert ist, ich verstehe gar nicht, wie wir dich vergessen konnten.«
Sie schüttelte lächelnd den Kopf und wäre am liebsten weggelaufen.
»Noch zehn Minuten«, sagte er, »na, dann wollen wir mal langsam.« Er pfiff ein kleines Liedchen. »Brauchst du etwas aus deinem Koffer? Der ist hier drin.« Hinter der geöffneten Klappe, zwischen Getränkekisten und Kartons mit Kartoffelsuppendosen, erspähte Magdalena den kleinen blauen Koffer, den Opa Rudi ihr gepackt hatte.
»Nein, ich brauche nichts.« Aber dann rief sie: »Ach doch!«
»Also, was denn nun?« Er zog den Koffer hervor. »Bitte schön! Vorne ist übrigens etwas drin, von dem dein Großvater meinte, dass ich es dir unbedingt geben müsste.«
»Ja? Was denn?« Magdalena langte in die Seitentasche, ertastete einen Briefumschlag und eine längliche Schachtel und holte beides heraus. Fünf Kätzchen guckten vor einem gelben Hintergrund mit ernsten Mienen an ihr vorbei, eine alte, platt gedrückte Katzenzungenschachtel, chocolat au lait, zusammengehalten von einem Gummiband. Der Brief war vom Ditfurther Verlag. Hastig streifte sie das Gummiband ab und öffnete die Schachtel, ein dünnes graues Notizbuch lag obenauf, darunter Postkarten, Briefe und kleine Zettel. Sie drehte eine der Postkarten um, Heidi Kirsch, Beerenweg 16, 7800 Freiburg. Der Wind fuhr mit einer heftigen Bö zwischen die Papiere, um ein Haar hätte er alles weggeweht. Schnell klappte Magdalena den Deckel wieder zu, am liebsten hätte sie sich auf die Stufen an der Bustür gesetzt, so schwach fühlte sie sich.
»Das schaue ich mir lieber auf der Fähre an«, sagte sie bemüht ruhig zu Stefan, aber in ihr schrie eine hysterische Stimme immer wieder dasselbe Wort: Heidi! Opa Rudi hat mir etwas von Heidi geschickt, er hat sich überwunden und Postkarten von ihr herausgesucht. Und nicht nur Postkarten! Sie öffnete die Schachtel wieder einen Spalt - Vorsicht, der Wind - und holte das Notizbuch hervor. Vielleicht hatte Heidi über ihre Zeit auf Elba geschrieben. Sie schlug das dünne Buch irgendwo auf:
 
Bin vom Campingplatz abgehauen, schlafe jetzt am Strand, Margo aus Holland hat mich mit in ihr Zelt genommen. Es liegt versteckt ganz am Ende von der Bucht, und sie hat alles da, was man braucht, echt gemütlich. Nur die Dusche fehlt, bin salzig und klebrig, wir haben es im Hotel Acquarius versucht, aber die haben uns entdeckt und rausgeschmissen.
 
Hotel Acquarius? Der Wind zerrte an ihren Kleidern, doch Magdalena bekam kaum noch Luft. Gab es in Procchio nicht ein Hotel mit diesem Namen? Natürlich, unten am Meer, gleich neben dem Giramondo. So wie das aussah, gab es das schon seit dreißig Jahren. Heidi hatte in Procchio am Strand übernachtet!
 
Abends gehen wir ins da Pippo, da kostet ein Teller carbonara nur 3500 Lire, und sie knöpfen uns auch nicht die 1000 Lire coperto ab, mittags holen wir uns eine Wassermelone vom Gemüsemann und essen, bis wir fast platzen.
 
Der Gemüsemann! Und ausgerechnet jetzt musste sie abreisen, aus dem hätte sie garantiert noch etwas herausbekommen können. Warum fuhr sie überhaupt weg, jetzt, wo sie Heidis Aufzeichnungen in den Händen hielt? Magdalenas Blick flog über die Häuser von Portoferraio, als ob die Antwort in den bunten Fassaden läge. Die Festung, in die Napoleon sich zurückgezogen hatte, lag schützend über der Stadt. Ihr Vater war hier, ganz in ihrer Nähe, sie konnte doch nicht einfach in diesen Bus steigen, sie musste bleiben, das Notizbuch lesen und ihn hier finden, wo er seit dreißig Jahren auf sie wartete. Es gab diesen Platz! Magdalena durchforstete ihr Gehirn immer hektischer, es musste doch eine Lösung geben. Mit mehr Zeit würde ihr gelingen, was sie in den wenigen Tagen nicht hatte schaffen können: Irgendwer würde etwas wissen, und ihre Wege würden sich schon bald mit denen ihres Vaters kreuzen, mit Olmo Spinetti oder einem seiner Freunde, einem dunkelhaarigen Mann mit strahlend weißen Wolfszähnen.
Die Fähre tutete dreimal schmerzhaft laut in Magdalenas Ohren, auch die versammelte Rentnergruppe zog simultan den Kopf ein. Sie schaute sich um, hier auf der betonierten Mole konnte sie den Inhalt der Katzenzungenschachtel auf keinen Fall sichten. Sie ließ die Schachtel und den Brief in den Korb gleiten und marschierte mit großen Schritten los.
 
Magdalena nutzte das Geschiebe der Passagiere auf den vielen engen Treppen, die aus dem Parkdeck zwischen braun verspiegelten Wänden hinaufführten, und bog in den untersten Salon auf Deck I ab. Hier war es leer, niemand würde sie finden. Alle drängten zunächst nach oben auf Deck, um noch einen Blick auf die Insel zu erhaschen. Magdalena ließ sich in der hintersten Sesselnische auf einen Platz fallen und schaute unweigerlich auf den flimmernden Bildschirm, der von der Decke hing. Zwischen den Streifen des Monitors konnte sie den Umriss von Elba erkennen, die Insel sah für sie immer wie ein Fisch aus, auf dessen großer ausgefranster Schwanzflosse Capoliveri und Porto Azzurro lagen. Zwei lachende Sonnen und ein paar Wolken verteilten sich darüber, 20 bis 25 Grad in den nächsten Tagen. Eilig streifte sie das Gummiband von der Katzenzungenschachtel, klappte sie auf und breitete Postkarten, Zettelchen und Briefe auf den Sesseln rechts und links von ihr aus. Drei Schwarz-Weiß-Fotos fielen aus einem Umschlag, ein dickes Baby an Heidis Brust, ein runder, haarloser Kopf. Das bin ich, dachte Magdalena, ganz anders als auf den Fotos, die ich sonst von mir kenne. aber das bin eindeutig ich. Heidi mit kürzeren Haaren, wie locker und sicher sie mich hält und wie stolz und zufrieden ihr Blick ist! Woher kommt dieser Wandel, warum schickt mir Opa Rudi jetzt doch noch diese Sachen von ihr? Magdalena schluckte die aufkommende Rührung hinunter. Wahrscheinlich war die kleine Schachtel nach Heidis Tod von einer Mitbewohnerin aus der Wohngemeinschaft zusammengepackt und dann von den Großeltern unter Verschluss gehalten worden. Aber warum bloß?
Magdalena nahm sich wieder das graue Notizbuch vor, sie durfte nichts übersehen. Die Innenseite des Umschlags hatte Heidi mit der akribischen Auflistung ihrer Ausgaben gefüllt. Zugfahrt Verona-Genova/12 500 Lire, Cappuccino/750 Lire, Campingplatz del Mulino/4000 Lire pro Nacht. Genova-Livorno/6000 Lire, Limit pro Tag: 8 Mark/8000 Lire
So viel hatte sie sich also zugestanden, acht Mark, so wie heute vielleicht acht Euro. Das ist mager, dachte Magdalena. Und ohne telefonino, bancomat, Internet, kaum vorstellbar, wie man damals reiste.
Diese blöden Italiener! Habe eine Stunde an der Bushaltestelle gewartet, aber der Bus kam nicht, dann nahmen die beiden mich mit, jetzt haben sie sich auch noch verfahren, wären sonst schon längst da. Außerdem nervt der Regen und tötet alles in mir ab. Trampen ist anstrengend. Sie war getrampt, das hatten die Großeltern ihr garantiert nicht erlaubt. Aber wahrscheinlich hatte Heidi nicht um Erlaubnis gefragt, sie war ja schon zu Hause ausgezogen.
 
1. Juli - Wenn die nächste Telefonzelle auch wieder kaputt ist, gebe ich es auf, zu Hause anzurufen. Bin mal wieder im Zustand schmerzlicher Trauer. Obwohl ich wegwollte und mir alles in O. sofort wieder sehr einengend vorkam, tut es mir jetzt nach diesem Abend mit Nick fast leid. Aber ich musste alleine fahren. Glück haben, wenn man darauf angewiesen ist, kann schwierig werden. Ich muss besser Italienisch lernen!
 
Magdalena las die nächste Seite durch und grinste, endlich wusste sie, wo Heidi sich am 3. Juli vor einunddreißig Jahren aufgehalten hatte:
 
3. Juli - Campingplatz del Mulino, Finale Ligure.
Wenn man zu stark nach etwas sucht, wird man blind und findet es nicht.
 
»Danke für den Tipp, Heidi, das werde ich in Zukunft beherzigen«, murmelte sie.
 
4. Juli - Habe heute noch mit niemandem gesprochen, dafür rede ich ständig mit mir selbst.
 
Ach, kommt mir bekannt vor.
 
8. Juli - Hier bleibe ich nicht für die nächsten drei Wochen, das weiß ich genau, obwohl der Strand einigermaßen schön ist. Braun werden ist das einzige Ziel dieser Spießer hier. Rede immer noch nicht viel, werde nur manchmal auf meine Stiefel angesprochen, das Wildleder hat den Lack zum Teil aufgesogen und ist etwas hart geworden, aber sie leuchten immer noch goldig-golden. Ich gehe damit auch an den Strand. Ich liebe meine stivali, ich hätte Markus die Spraydose abluchsen sollen.
 
Meine Mutter ist anscheinend ziemlich schräg gewesen, sie hat ihre Wildlederstiefel mit goldfarbenem Lack besprüht und tagelang kaum gesprochen …
Auf den folgenden Seiten hatte Heidi ein paar Sätze aufgeschrieben: Lascia mi in pace! Lass mich in Frieden! Va te ne! Hau ab! preferire - vorziehen, probabilmente - wahrscheinlich. Es hörte sich an, als ob sie schon ganz gut Italienisch sprach. Mit einem Mal war Magdalena stolz auf dieses Mädchen, das vor einunddreißig Jahren auf einem Campingplatz zwischen lauter Deutschen saß, ihre eigenen Schuhe bewunderte und nur mit sich selbst redete.
Eine Stunde auf die Fähre gewartet. Wenn Heidi nicht noch vorher auf Sardinien, Korsika oder Giglio war, musste es die nach Elba sein. Magdalena blätterte zurück und studierte noch einmal die Innenseite des Umschlags. Da stand es: Genova - Livorno/6000 Lire, von Livorno war sie dann irgendwie nach Piombino und nach Elba gekommen!
»Ach, hier bist du?!«
»Resi! Ich … ich muss gerade noch etwas durchschauen«, Magdalena zeigte auf die ausgebreiteten Postkarten und Zettel.
»Komm doch lieber mit raus, noch einen letzten Blick auf Elba werfen! Wenn man den hässlichen Hochhausturm hinter sich hat, sieht man das Hafenbecken und die darum aufgereihten Häuser, die leuchten in Gelb, Orange und Rot und sind wunderschön! Du kannst noch ein paar Fotos machen.«
»Hab jetzt schon Heimweh danach!«
»Verstehe! Erzählst du mir auf der Fahrt, ja?«
»Ja. Bis gleich am Bus!«
Magdalena las weiter. Heidi schrieb von einem Campingplatz mit Namen »Unter den Oliven«, auf dem ab zehn Uhr abends strenge Nachtruhe herrschte, und von einer kleinen Straße zum Meer, von Aprikosenbäumen und Kirschen, die sie an dieser Straße heimlich pflückte. Dann kam die Begegnung mit Margo, die sie in der Nähe des Hotel Acquarius in ihr Zelt genommen hatte.
 
Margo hat einen roten Walkman mit schicken gelben Kopfhörern, sie sagt, sie verstehe das Gequatsche der Italiener mittlerweile so gut, jetzt könne sie es am Strand nicht mehr ertragen und höre deswegen immer ihre Musik. Manchmal leiht sie ihn mir, Bob Dylan ist schon okay, aber nicht den ganzen Tag. Vielleicht kaufe ich die letzte Kassette von Queen. Obwohl die hier echt teuer ist. Margo hat nur noch Neil Diamond dabei, und der ist auch schon alt und macht mich mit seiner Jaulerei ein bisschen aggressiv …
 
Keine weiteren Einträge, ab hier waren die Seiten herausgerissen, vielleicht hatte Heidi auf Elba ein neues Tagebuch gekauft.
Magdalena griff nach dem Postkartenstapel und blätterte ihn durch. Heidi hatte offensichtlich viele Freunde gehabt, die sie alle total gern mochten. Sie seufzte. Noch nicht mal fünfzig wäre ihre Mutter heute, eigentlich gar nicht richtig alt.
Magdalena vermied es, aus dem Fenster zu schauen, und starrte stattdessen auf die Spitzen ihrer Schuhe. Ich habe sie viel zu früh verloren, und meinen Vater werde ich wahrscheinlich auch nie finden, obwohl ich so dicht dran war. Ihr Hals wurde eng, sie presste die Lippen zusammen. Die zwei Angestellten hinter der Bar starrten zu ihr herüber, was sahen sie wohl in ihr? Eine einsame Deutsche, ohne Mann, ohne Kinder, die kurz vorm Heulen stand. Obwohl, so deutsch sah sie gar nicht mehr aus, allein die resedagrünen Schuhe mit den fünf Zentimeter hohen Absätzen und den auffällig zulaufenden Spitzen waren ziemlich italienisch. Nina hatte sie ihr heute Nachmittag, kurz bevor sie fahren musste, geschenkt. Magdalena schniefte leise und betrachtete das ungewohnt bunte T-Shirt über ihrer Brust.
»Das T-Shirt kann ich einfach nicht mehr anziehen, es will unbedingt zu dir!«, hatte Nina gesagt. Also war auch die poppige Madonna mit den gefalteten Händen in ihren Besitz übergegangen. »Eine Maria Magdalena für Magdalena!«, hatte Nina gesungen. Sie schniefte noch ein wenig und öffnete dann gedankenverloren den Brief vom Verlag.
›Liebes Fräulein Kirsch!‹ Sie lächelte, Fräulein sagte heute keiner mehr, doch von ihm ließ sie es sich gefallen. Aber warum schrieb der alte Herr Ditfurther ihr auf seiner noch älteren Olympia-Schreibmaschine einen Brief? Sie überflog die Zeilen und hielt entsetzt die Luft an. Es war das eingetreten, was sie schon lange befürchtet hatte: Ein Wiener Kartografieverlag hatte den Ditfurther Betrieb aufgekauft, ›Mitarbeiterübernahme eventuell möglich, bis zur Klärung der Einzelheiten nehmen Sie bitte Ihren Jahresurlaub.‹ Magdalena war wie vor den Kopf geschlagen, ihre Arbeitsstelle war weg, kein Ditfurther Verlag mehr in Rheine, sondern Wien, das hörte sich nach einem kühl durchkalkulierten Schachzug von Lumpi an. Was sollte sie in Wien? ›… nehmen Sie bitte Ihren Jahresurlaub …‹ Wahrscheinlich hatte der Chef den Brief mit Tränen in den Augen beendet.
Minutenlang starrte sie vor sich hin. Sollte sie jetzt hauptberuflich Bord-Stewardess werden? Vorausgesetzt, die Treva würde sie überhaupt noch nehmen. Könnte sie es ertragen, Elba je nach Laune und geschäftlichen Beziehungen der Reiseleiterin zu befahren? Erst Capoliveri, dann Porto Azzurro, ein Halt in einem Edelsteinladen, wo man auch Korallenschmuck kaufen konnte, Mittagessen in einem Lokal in Marina di Campo, dann noch schnell das Paolina-Inselchen, immer ein beliebtes Motiv, und der Rest, Portoferraio mit Besichtigung der Festung und Napoleon-Residenz - oder das Ganze andersherum?
Nein, völlig indiskutabel. Zuerst musste sie ihren Vater finden!
Magdalena schaute auf die Uhr, ihr blieben noch ungefähr zehn Minuten, dann musste sie von Bord und in den Bus einsteigen. Sie sah die soliden grünen Ledersessel des Bordbistros vor sich, auf denen sich ihre älteren Gäste gut gelaunt breitmachten, sie sah die kleinen Körbchen mit Zucker und Süßstofftütchen, die grässliche Kunststoffblume in der grässlichen Vase auf jedem Tisch, sie mochte nicht daran denken, und doch fielen ihr immer mehr Details ein. Der Geruch nach Sauerbraten aus der Dose, das ›Pling‹ der Mikrowelle, die Uniform, von der Resi nach fünf Tagen Toskanareise nur noch das schwarzrote Halstuch zu Jeans und T-Shirt trug. Warum machte ihr das auf einmal etwas aus, sie hatte den Job doch immer gerne gemacht?
Die Vibration des Motors veränderte sich, Magdalena raffte ihre Sachen zusammen, stand auf, griff sich ihren Korb und ging jetzt doch nach draußen, die hässlichen Fördertürme und Schornsteine von Piombino, die ganze verrußte, scheußliche Skyline passten vortrefflich zu ihrem Abschiedsschmerz. Der Wind wehte frisch und blies ihr die Haare aus dem Gesicht, langsam schob sich das riesige Schiff näher an die Mole, die Menschen drängten von Deck, um sich als Traube in den Fluren vor den Ausstiegstüren zu stauen. Magdalena blieb an der Reling stehen, sie wollte es so lange wie möglich hinauszögern, mit der Treva-Reisegruppe in Berührung zu kommen.
Ein kurzes Tuten, Taue wurden um gigantische Poller aus rostigem Eisen gelegt, sie hatten am Festland angedockt. Sie konnte es zwar nicht sehen, aber von der Hinfahrt wusste sie, dass sich jetzt die Klappe am Schiffsbug öffnete. Gleich würden die ersten Autos befreit aus dem Maul der Fähre fliehen, während die anderen, die hinüber nach Elba wollten, schon auf das Verschlucktwerden warteten.
Ich muss los, sonst warten die Gäste im Bus auf mich, und was ist peinlicher, als vor einer versammelten Mannschaft Senioren zu spät zu kommen …
Als Allerletzte trat sie auf das Treppengerüst, das an die Außenwand der Fähre geschoben worden war, um den Passagieren in sechs Metern Höhe den Ausstieg zu ermöglichen. Der Pulk der Ankömmlinge strömte bereits unten am Boden den Bussen und Autos entgegen. Jetzt konnte Magdalena einen Blick auf die Autoschlangen und die Passagiere an Land werfen, die hinter den Absperrgittern anstanden.
»Ihr habt es gut, ihr dürft nach Elba zurück und ich nicht«, murmelte sie leise und fühlte sich plötzlich wie damals mit zwölf, als Opa Rudi sie nicht mit ins Trainingslager der Schwimmer gelassen hatte, nur weil sie gerade eine harmlose Magen-Darm-Grippe durchgemacht hatte. Zögernd blieb sie oben auf der Plattform stehen, einen Moment noch, einen letzten Moment noch, dann war die Zeit auf Elba wirklich vorbei. Neben einem der wartenden Autos entdeckte sie einen Mann mit schwarzem, leicht schütterem Haar. Komisch, dachte sie, der da sieht von oben aus wie Matteo, sonnengebräunt, breite Schultern, und er hat auch eine ähnliche Jacke an … das ist ja wirklich Matteo!
»Matteo!«, rief sie und winkte wild, aber er sah und hörte sie nicht, zu vertieft war er in das Gespräch mit dem Mann neben ihm, der an der Tür des Wagens lehnte, seinem Freund, der wahrscheinlich dieses Auto soeben gekauft hatte. Er sah nett aus, um einiges älter als Matteo, jetzt klopfte er ihm auf die Schulter und lachte mit zurückgelegtem Kopf. Seine geschlossenen Augen bildeten zwei hohe Bögen, und seine Eckzähne waren spitz, lang und weiß. Die Wolfszähne! Magdalena erschauerte unter einer Gänsehaut, ihr Nacken, ihr ganzes Rückgrat war wie elektrisiert. Da stand er! Gealtert zwar, mit grauen Strähnen im immer noch dunklen langen Haar, doch unverkennbar. Seine Augenfarbe? Die konnte sie von hier oben nicht erkennen. Matteooo!, wollte sie noch einmal rufen, doch ihre Stimme versagte. Geh zu ihm! Aber sie konnte sich nicht bewegen, ihre Beine verweigerten jeden Befehl. Magdalena spürte, wie die Finger ihrer Hand sich krampfhaft um das Geländer bogen. Warum sollte sie überhaupt runter vom Schiff? Bis sie unten am Kai war und sich durch die Gänge aus Absperrgittern zu den Autos durchgedrängelt hatte, waren sie vielleicht schon an Bord, und ohne Ticket würde man sie nicht so ohne Weiteres hinterhergehen lassen. »Aber Sie müssen mich durchlassen, der Mann da vorne im Auto ist mein Vater, ich habe ihn seit dreißig Jahren nicht gesehen!« Eine schöne Filmszene, aber vielleicht nicht glaubwürdig für die Männer mit den neongelben Westen, die die Fahrkarten kontrollierten. Ihre Füße schoben sich ein Stück weit zurück, und obwohl ihr Herzschlag in ihren Ohren dröhnte, hörte sie das Gitter wie eine gigantische Harfe unter ihren Absätzen scheppern, weiter zurück, noch ein Stückchen. Magdalenas Herz donnerte immer noch, sogar noch lauter als zehn Tage zuvor im Anblick des Napoleon-Wandbilds. Zu Recht, dachte sie, zu Recht. Diesmal ist es ernst!
Magdalenas Garten
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