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Meine Magdalena,
120 Kinder auf dem Schulhof, die Damen des
Kollegiums und ihre Sonderwünsche, Rektor Remmers, 10 Bienenvölker,
der Garten und die Werkstatt, das ist Hochleistungssport. Ich bin
froh, dass am Wochenende endlich die Sommerferien anfangen.
Magdalena lächelte gegen ihren Willen. Rudi liebte
diese Aufzählung, so hatte er schon zu Oma Wittas Zeiten seinen Tag
und sein Leben für sich geordnet. Die Schule, die Bienen, der
Garten - sie konnte die Litanei mühelos mitsprechen. Und wieder
kein Wort über Elba. Alles wie immer.
Komm gesund wieder!
Dein alter Großvater
Dein alter Großvater
Sie holte tief Luft, diesmal würde sie ihn nicht
schonen, und klickte auf ›Antworten‹:
Lieber Rudi,
hier also die neusten Nachrichten von ELBA. Die
Tage vergehen schneller als in Deutschland, ich arbeite abends
recht lange und schlafe vormittags.
Sollte sie ihm wirklich von ihrer neuen
Angewohnheit, nach der Arbeit in der Bar Elba noch kurz in
den angesagtesten Nachtclub der Insel zu fahren und bei Nina an der
Bar einen Martini d’Oro zu trinken, berichten? Lieber nicht.
Dort sah sie auch Matteo, der immer ein Glas
Whiskey in der Hand hielt - oder war es manchmal vielleicht doch
Apfelsaft? - und mit ernster Miene schweigend am Kassenhäuschen
oder an einem anderen Platz mit Blick über die Menschenmenge stand.
Das Mikro eines Headsets hing vor seinem Mund, als ob er in einem
Callcenter arbeitete, er wirkte nachdenklich und unglücklich.
Kannst Du Dir das vorstellen, ich, die
Frühaufsteherin, komme manchmal vor ein Uhr mittags gar nicht hoch
…
Er konnte sich wahrscheinlich auch nicht
vorstellen, dass sie mittlerweile fast ausschließlich Kleider trug,
überhaupt keinen Sport mehr trieb, wenn man von den paar täglichen
Schwimmzügen im Meer einmal absah, und Champagner zu ihrem
Lieblingsgetränk geworden war.
Die Arbeit in der Eisbar macht aber immer noch
Spaß, ich lerne viel und bin inzwischen ganz schön fix.
Wenigstens hier log sie nicht und verschwieg noch
nicht einmal etwas: Gemeinsam mit Franco und Cristina hatten sie
sich zu einem ganz anständigen Team entwickelt. Wenn die kleine
Sara abends um halb neun erschöpft aus der Bar trat, in der sie
bereits seit sechs Uhr morgens gestanden hatte, überließ sie ihnen
beruhigt das Feld. Walter führte die Oberaufsicht, indem er sie
alle in Ruhe ließ.
Du merkst, es geht mir richtig gut auf ELBA. Danke
übrigens für den Zeitungsartikel über die Schließung von
Ditfurther, eigentlich wollte ich Dich, bevor Du es erfährst, mit
einer neuen Stelle überraschen … Beim Geologischen Dienst in
Münster habe ich sehr gute Chancen, ab September genommen zu
werden. Ich bin immer noch die einzige Bewerberin, und dank meiner
guten Beziehungen werde ich das auch bleiben … Die kungeln da, was
das Zeug hält, aber das kann mir in diesem Falle ja nur recht sein.
Mit dem Zug bin ich morgens in dreißig Minuten in Münster. Das ist
die Sache doch wert, findest Du nicht?
In Wahrheit war der neue Job höchstens zu sechzig
Prozent sicher, und Magdalena hatte überhaupt keine Lust auf den
Geologischen Dienst. Im Internet hatte sie sich deswegen auch bei
einigen Firmen beworben, die mit Sprüchen wie »Alles nach Plan« und
»Ihre Karte ist unsere Welt« warben. Schaden konnte es nicht.
Ich habe hier wirklich sehr nette Freunde
gefunden, die ich jeden Tag am Strand treffe.
Nette Freunde? Sie legte sich zu Nina und Evelina
und denen, die sich sonst noch um die beiden scharten. Evelina
vermaß bei diesen Gelegenheiten mit einem Band ihre eigenen und
anderer Menschen Oberschenkel, Fesseln oder Hüften und erging sich
über die Vor- und Nachteile von Schönheitsoperationen in Osteuropa.
Für ernsthaftere Themen war es einfach zu heiß.
Einen echten Feind habe ich mir inzwischen auch
schon gemacht.
Sollte sie ihm das wirklich schreiben? Es würde
ihn nur aufregen. Sie selbst beängstigte ihr Verhältnis zu Olmo
Spinetti, der
immer ablehnender und wütender auf sie reagierte, ja auch. Sie
löschte die Zeile wieder, vielleicht war es besser, ihm erst den
gefundenen Vater zu präsentieren. Seitdem sie versucht hatte, Olmo
mit Ninas Hilfe auszufragen, wich er ihr aus und kam abends nicht
mehr in die Bar Elba.
Kaum hatte er sie an jenem Nachmittag vor dem
Giramondo bemerkt, hatte er sich in die Küche verdrückt, wo
sie ihn zwischen dem Herd und dem Regal mit den pulverisierten
Aromabrühen zur Rede stellten.
»Nur einen Augenblick, wir sind gleich wieder weg«,
hatte Nina begonnen, »schau dir bitte mal das Foto genau an, das
Mädchen darauf heißt Heidi.«
Olmo warf einen flüchtigen Blick auf das
Bild.
»Kenne ich!«
»Ach …!« Nina und Magdalena guckten sich erstaunt
an, so einfach hatten sie es sich nun doch nicht vorgestellt.
»Das Foto kenne ich«, fuhr Olmo fort. »Hängt ja
überall herum.«
»Und die beiden da drauf kennst du auch?«
»Nö. Nie gesehen.«
»Das Mädchen nicht oder den Typ neben ihr?«
»Beide nicht. Wie hast du gesagt, soll sie heißen?
Heidi? Kann sein, dass ich mal eine Heidi kannte, aber nicht die
da. Bin mir ziemlich sicher.« Er gab ihr das Foto zurück und schob
ein paar Plastikbeutel mit gefrorenen Scampi auf der überfüllten
Arbeitsfläche hin und her. Nina starrte Magdalena an und schüttelte
den Kopf. Was soll das jetzt heißen?, dachte sie. Er lügt, oder er
ist es nicht? Während Olmo Alufolie von einer Rolle abriss und um
einen Klumpen gekochtes Fleisch zu wickeln versuchte, fragte er
betont beiläufig: »Warum, was ist denn mit denen?«
»Wir denken, dass du das bist auf dem Foto!«
Nina strahlte
Olmo mit dem übertriebenen Charme einer amerikanischen
Schönheitskönigin an.
»Ich?? Der da? Nur weil der Typ schwarze Haare hat?
Das könnte doch jeder sein!«
»Wir denken das trotzdem!« Sie zeigte ihm immer
noch alle ihre Zähne. Olmo stöhnte, nahm Nina die Fotografie aus
der Hand und betrachtete sie noch einmal genauer. Magdalena meinte,
ein versonnenes Lächeln auf seinem Gesicht zu erkennen, und stieß
Nina in die Seite. Jetzt hatten sie ihn!
»Rein theoretisch«, sagte Nina betont langsam,
»rein theoretisch könnte es doch sein, dass du mehr Kinder in
deinem Leben gezeugt hast als nur dieses eine, neue im Bauch deiner
Brasilianerin, oder? Herzlichen Glückwunsch und alles Gute
übrigens.« Nun war sie ganz mütterliche Lehrerin, Hebamme,
Gemeindeschwester. Olmos Gesicht verdüsterte sich.
»Ich weiß nicht, was ihr vorhabt, aber wenn Rosita
das herausbekommt, dann ist hier … na ihr wisst schon, wie
eifersüchtig diese lateinamerikanischen senhoritas
sind.«
»Also bist du das auf dem Foto!?«
»Nein! Verdammt…« Den restlichen Fluch verstand
Magdalena nicht, irgendwas mit Gott.
»Was soll deine Rosita denn dann
herausbekommen?«
»Allein der Verdacht, dass in meinem Leben
irgendwann mal etwas mit anderen Frauen gelaufen ist, würde sie
rasend machen!«
»Meine Güte, sie weiß doch, dass du … wie alt bist
du eigentlich?«
»Fünfzig.« Seine Stimme war belegt.
»Wir werden diskret sein!« Aus Ninas Mund klang das
wie eine Drohung.
»Wann soll das gewesen sein? Ich kann mich nicht
erinnern, ich kann mich an vieles nicht mehr erinnern …« Olmo rieb
sich mit dem Handrücken über die hohe zerfurchte Stirn, er wirkte
plötzlich verzweifelt und beinahe noch älter als Rudi.
»Im Sommer neunzehnhundertneunundsiebzig«, sagte
Magdalena leise. Olmo legte die Hände vor sein Gesicht und
massierte sich die Schläfen.
»Ich war immer der, von dem alle dachten, dass ich
was mit den Frauen hätte, aber das sah nur so aus. Ich spielte
Gitarre am Lagerfeuer, und die anderen verdrückten sich mit den
Mädchen, so war das eigentlich.« Er setzte sich auf eine Kühlbox
aus Plastik, die einzige Sitzgelegenheit in der Küche. Nina beugte
sich mit schief gelegtem Kopf zu ihm hinunter, als ob sie ein
kleines Tier beobachtete.
»Entschuldige, Olmo, wir kommen vielleicht besser
ein anderes Mal wieder«, sagte sie plötzlich und zog Magdalena aus
der Küche und aus dem Restaurant. Magdalena funkelte Nina an:
»Warum gehen wir jetzt? Wir hatten ihn doch fast so weit!«
»Ich bezweifele, dass er es wirklich ist.«
»Natürlich ist er es«, beharrte Magdalena, »das
spüre ich! Er war früher ein Frauenheld, die Leute wissen das noch,
vielleicht will er jetzt im Nachhinein für die Brasilianerin sein
Image ändern.«
»Aber die Zähne passen nicht!«, erwiderte Nina.
»Ich habe sie tatsächlich einen Moment lang sehen können, sie sind
übrigens ziemlich brüchig, und die Eckzähne sind nicht gerade
klein, aber nicht so auffällig wie auf dem Foto.«
»Ist das ein zahnärztlicher Befund, auf den wir uns
berufen, oder ein unscharfes Foto?«
Als Nina nicht antwortete, insistierte
Magdalena:
»Er will keine erwachsene Tochter, es ist ihm
peinlich, und da bleibt eben nichts mehr übrig von der
Großspurigkeit, mit der er uns noch vor Kurzem seine Heldentaten
vorgetragen
hat. Da macht er lieber einen auf alten Mann, der früher nur
schüchtern an der Gitarre zupfte.«
»Ich glaube, du rennst da einem Wunschbild
hinterher.«
Nina hatte sich somit aus dem Projekt »Olmo
Spinetti die Vaterschaft nachweisen« zurückgezogen. Seltsamerweise
hatte Magdalena Olmo in den letzten Tagen schon zweimal zufällig in
Procchio getroffen. Sobald er sie sah, fing er wie eine
Espressokanne auf dem Herd an zu zischen und zu brodeln und änderte
seine Laufrichtung. Sie hatte keinen Vater gefunden, sich dafür
aber einen Feind gemacht.
Du siehst, ich fühle mich hier so wohl, dass ich
Dich fragen wollte, ob es schlimm wäre, wenn ich noch zwei, drei
weitere Wochen bleiben würde. Ich kann die Eisdiele nicht einfach
im Stich lassen, jetzt, wo so viel los ist, das wäre nicht fair.
Was hältst Du davon?
Wunderbar, wie schonungslos sie Opa Rudi hier die
Wahrheit auftischte … verdammt, warum schaffte sie es nicht? Sie
löschte auch den letzten Absatz und haute die nächsten Worte in die
Tastatur.
Falls Dir noch etwas zu Heidis ELBA-Aufenthalt
einfallen sollte, schreib es mir bitte. Je mehr ich weiß, desto
eher finde ich wahrscheinlich meinen VATER, und desto schneller bin
ich wieder zu Hause.
Sie löschte das wahrscheinlich.
Wenn Du mir meine Post schicken willst, dann sende
die wichtigsten Sachen bitte zu meinen Händen, c/o Bar ELBA, Via di
Portoferraio 5, 10567 Isola d’ELBA (Ma), Italien
Deine Magdalena
Ohne sie noch einmal durchzulesen, schickte
Magdalena die Mail ab und machte sich auf den Weg zu Olmo. Sie war
gerade in der richtigen Stimmung, heute würde sie ihn knacken, den
früheren Weiberhelden. Es war um die Mittagszeit, und wenn sie sich
nicht täuschte, sollte seine Brasilianerin morgen in Pisa
eintreffen. Olmo schien wirklich Angst zu haben, dass sie ihm seine
Zukunft als Familienvater ruinierte. »Wenn du es heute zugibst«,
murmelte sie und schob ihren neuen Strohhut in den Nacken, »dann
lasse ich dich fürs Erste in Ruhe. Aber nur dann.«