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Doch alles Fluchen half nicht, das
schlechte Gewissen hatte sich wie ein Hakenwurm in Magdalenas
Gedärme gebohrt. Den ganzen Samstag und auch am Sonntag meldete es
sich, wenn sie ab und zu aus ihrem komaähnlichen Schlaf erwachte
und in das grünliche Licht der Fensterläden blinzelte. Sie sah
ihren Großvater durch die Wohnung taumeln und auf dem Sofa
zusammensacken, sie sah sein Gehirn auf einem Röntgenfoto, in dem
sich eine neue Blutung wie rote Tinte ausbreitete, und diesmal war
sie nicht da, um ihn zu retten. Sie zog sich das Laken über den
Kopf, die Bilder blieben und geisterten durch ihre Träume. Einmal
versuchte sie noch, Opa Rudi zu erreichen, doch er ging nicht ans
Telefon, und so hinkte sie nur zur Toilette und sortierte Ninas
Kleiderschrank vor ihrem geistigen Auge, bis sie endlich wieder
einschlief.
Am nächsten Morgen war sie bereits um sieben
hellwach. Sie schälte sich neben Nina aus dem Bett und begab sich
an die Arbeit. Leise, ohne mit den Kleiderbügeln zu klappern,
ordnete sie Ninas Schrankinhalt nach Farben. Von weiß zu schwarz,
über gelb, orange, rot, der ganze Regenbogen. Nina lag eingewickelt
wie eine Mumie in ihrer Decke an die Wand gepresst und rührte sich
nicht. Zufrieden betrachtete Magdalena ihr Werk. Es sah wunderschön
aus.
Leise zog sie sich Ninas Nachthemd über den Kopf,
das sie zum Schlafen getragen hatte, und schlüpfte in ihre neuen
Sachen. Vom Markt hatte Nina ihr zwei lange weiße Tuniken mit
kleinen eingearbeiteten Spiegeln mitgebracht und eine dazu passende
weit geschnittene Hose. Sie schaute an sich herab. Obwohl sie sich
die Sachen niemals selbst gekauft hätte, gefielen sie ihr, sie sah
darin ein bisschen indisch, fast elegant aus, und die Wunde am Bein
würde unter dem luftigen Stoff gut heilen können. Nina hatte wie
selbstverständlich die richtigen Größen ausgewählt, alles, was sie
sonst noch benötigte, durfte Magdalena sich aus Ninas gewaltigem
Kleiderschrank aussuchen. Hemdchen, Slips, T-Shirts, eine
kuschelige Kaschmir-Strickjacke und eben eines der altmodischen
Jersey-Nachthemden, von denen Nina gleich mehrere besaß.
»Nimm dir, was du brauchst!« Erstaunlich, mit
welcher Großzügigkeit Nina ihre Sachen hergab. Hätte sie,
Magdalena, das auch für Nina getan, wenn die plötzlich vor dem
alten Schulhaus auf der Straße gelegen hätte? Aber was hätte sie
ihr aus ihrem Kleiderschrank schon anbieten können? Jede Menge
Sportklamotten, schwarze Trainingsanzüge, graue Kapuzenpullover,
einfache T-Shirts in Blau und Weiß ohne Aufdruck. Jeans. Nicht mal
neue Modelle.
Ihr Koffer mit der Ersatzuniform und ihren anderen
Sachen war längst wieder zu Hause in Osterkappeln, Busfahrer Stefan
hatte ihn aus ihrem Hotelzimmer in Forte dei Marmi zu Opa Rudi
gebracht, das hatte er ihr per SMS geschrieben. Ein netter Typ,
dieser Stefan, schwache Witze, aber netter Typ.
Zehn vor acht, Magdalena schlich aus dem Zimmer
und an dem schlafenden Matteo vorbei auf die Terrasse. Der Morgen
war herrlich, die Luft duftete nach Honigtau, Blüten und dem Harz
der Pinien, doch er hielt auch ein unangenehmes Telefonat
für sie bereit: Es war Montag, sie musste sich beim Ditfurther
Verlag melden. Sie wählte die Nummer, hoffentlich war der
Seniorchef schon da. Er kam meistens als Erster, aber heute hatte
sie Pech und nach zweimaligem Klingeln Lumpi an der Strippe. Der
Junior. Eigentlich Ludger. Er war nur ein Jahr älter als sie, hatte
keinen blassen Schimmer von Kartografie und bestand seit seinem
BWL-Studium darauf, von allen gesiezt zu werden, auch von den um
zwanzig Jahre älteren Brillen-Zwillingen, bei denen er schon auf
dem Schoß gesessen hatte, als er noch zärtlich bei seinem
Spitznamen gerufen wurde. Magdalena erklärte ihm, dass sie noch in
Italien war, sich bei dem Sturz mit dem Roller verletzt hatte und
diese Woche ausfallen würde.
»Was denken Sie sich eigentlich?«
»Ich hatte einen Unfall, Herr Ludger, einen
Unfall hat man nicht absichtlich.« Sie schaffte es nicht, sich ihre
spezielle Anrede für ihn zu verkneifen. Wie immer ärgerte es ihn,
seinen Vornamen zu hören, das konnte sie selbst durchs Telefon
spüren.
»Sie müssen gewährleisten, am ersten Tag nach dem
Urlaub wieder antreten zu können. Ihre Nebenjobs in Ehren, aber sie
lassen sich ja offensichtlich nicht ohne Probleme mit Ihrer Aufgabe
hier im Verlag vereinbaren.«
»Wie, nicht mit der Aufgabe vereinbaren? Haben Sie
etwas an meiner Leistung auszusetzen?«
»Sie hören von uns!«
Aufgelegt. Magdalena hätte am liebsten einen
Wutschrei ausgestoßen, aber damit hätte sie die anderen geweckt. Es
war zum Verzweifeln, erst machte Opa Rudi so ein Theater und nun
auch noch dieser kleine Stinker! Sie musste heute Vormittag
unbedingt noch den alten Ditfurther erwischen.
Zwei Stunden lang lag sie auf dem nach Camembert
riechenden Sofa unter einer nach Camembert riechenden Decke,
schmiedete Pläne und hörte den Vögeln zu, bis die Sonne gegen zehn
Uhr richtig wärmte und sie Geräusche aus der Küche hörte.
Nachdem sie das Frühstück abgeräumt hatte, begann
Magdalena den Inhalt des Kühlschranks zu ordnen. Er war nicht sehr
voll, innerhalb von wenigen Minuten war sie fertig. »So, du gehörst
da hin, und das war’s«, murmelte sie, stellte als Letztes
den Erdbeerjoghurt neben die rote Marmelade und nickte glücklich.
Auch im Kühlschrank herrschte jetzt Harmonie. Milch und weiße
Joghurts standen neben dem hellgelben Butterwürfel, Melone und
Gurken schimmerten grün durch das Gemüsefach.
»Schau, schau, sie tut es schon wieder … die
unruhige Seele, erst im Bad die Shampooflaschen und jetzt auch noch
der arme Kühlschrank«, hörte sie Matteo sagen. Magdalena drehte
sich um, Matteo saß mit dem dünnen DJ Mikki am abgeräumten Tisch,
beide grinsten. »Das ist doch toll!«, behauptete Nina, während sie
auf einem Bein hüpfte, um ihren rechten Fuß in einen hochhackigen
Schuh schlüpfen zu lassen. »Ich find jetzt alles viel schneller in
meinem Kleiderschrank! Aber wo ist bloß der verdammte zweite
Schuh?« Sie hinkte auf dem hohen Absatz hin und her, suchte
Schlüssel, Tasche und Portemonnaie zusammen.
»Ich bin spät dran«, rief sie aus ihrem Zimmer, »in
der comune steht Francesco jetzt schon seit drei Stunden mit
einer Wartemarke für mich Schlange! Mal sehen, ob ich den
sindaco heute endlich wegen der anstehenden baulichen
Maßnahmen hier im POLO zu sprechen bekomme.« Wer ist der
Sindaco?, fragte Magdalena sich. Immerhin habe ich heute gelernt,
dass es cornetto heißt und nicht croissant, dass Nina
sie am liebsten mit marmellata, Matteo mit crema mag
und dass Mikki jeden Morgen gleich drei mit Nutella-Füllung
verdrückt.
»Ha, hier ist er ja!« Nina kam wieder in die Küche
und fädelte ihren Fuß gelenkig in den zweiten Schuh. »Jetzt muss
ich aber los. Ciao!« Nina küsste sie auf beide Wangen und
schaute ihr besorgt in die Augen. »Tu nicht so viel, lass den
Abwasch stehen, ja? Und leg dich noch mal ein bisschen hin, du bist
noch nicht gesund!«
Magdalena guckte sich um, sie sehnte sich danach,
nach den beiden verschlafenen Tagen etwas Nützliches zu tun. Heute
hatte sie immerhin schon die Inhalte von Kleider- und Kühlschrank
sortiert, den Tisch abgewischt und den Küchenboden gefegt. Jetzt
brannte sie darauf, endlich mit der Suche loszulegen. Doch Nina
schien es lieber zu sein, sie in ihrem Bett bemuttern zu können,
als sie hier in der Küche zu sehen.
»Wenn sie putzen will, lass sie halt machen«, sagte
Matteo, »es ist ja nichts anderes zu tun. Vor allem, da immer noch
nicht klar ist, ob wir diesen Sommer überhaupt öffnen.«
»Äh, ich würde auch ehrlich gesagt lieber meinen
Vater suchen gehen …«, sagte Magdalena, aber niemand schien sie zu
hören.
»Ich tu wenigstens etwas dafür, dass wir
öffnen können«, rief Nina.
»Stimmt. Du tust eh alles für den, vergeudest deine
Zeit in den Ämtern, und wo bleibt der Trottel aus Bologna? Lässt
sich jeden Tag aufs Neue wieder entschuldigen. Er hat die
Kommission, die die Einhaltung der Auflagen prüft, noch nicht mal
beantragt, wie du letzte Woche nach stundenlangem Anstehen
feststellen durftest!«
»Leone sagt, er hat das längst getan, die
comune hat das nur verschlampt!«
»Wer’s glaubt. Aber wo sind dann die Handwerker,
die er angeblich bestellt hat, um die Stromkabel, den Brandschutz
und die ganze Technik zu checken? Gestern habe ich Beppe, der die
Getränke liefern soll, im Baobab getroffen: Er weiß von
nichts, und Mikki kann nicht mit der Musik weitermachen, solange
kein Mischpult da ist.« Mikki schaute sich um, als ob er nicht
recht wüsste, von wem die Rede war. Magdalena versuchte seinen
Blick aufzufangen, er lächelte ihr zu und kratzte sich seine helle
Kopfhaut, die zwischen den Dreadlocks hervorschimmerte. Ihm war
Ninas und Matteos geräuschvolle Auseinandersetzung anscheinend
ebenso unangenehm wie ihr.
»Der Leone hat mir gestern am Handy gesagt, wer
dafür zuständig ist.«
»Der Leone, der Leone, ich kann den Namen schon
nicht mehr hören!«
»Ich vertraue ihm. Letztes Jahr hat es doch auch
geklappt.«
»Da haben sie ihm den Laden zwischendurch beinahe
dichtgemacht, schon vergessen? Und diesmal machen sie ihn gar nicht
erst wieder auf, so wird’s gehen!«
In einem feindseligen Ton, den Magdalena zuvor noch
nicht von ihr gehört hatte, flüsterte Nina: »Sei doch froh, dass
ich beschäftigt bin«, und tätschelte Matteo dabei die
Schulter, »ich fahre jetzt!« Sie rauschte aus der Küche.
»Wie du meinst, Nannini, wie du meinst«, sagte
Matteo leise.
»Also, Kinder, zum Putzen: sonst immer gerne, aber
ich schaff das vom Kreislauf her jetzt einfach noch nicht.« Mikkis
Italienisch war so schleppend, dass Magdalena jedes seiner Worte
verstand. Er zuckte bedauernd mit den Schultern und schlurfte in
sein Zimmer.
»Vor dem Abendessen sieht man den nicht wieder«,
sagte Matteo und seufzte. Dann entdeckte er Magdalena neben dem
Kühlschrank: »Sei froh, du fährst ja bald …«
Magdalena knetete unschlüssig ihre Hände. Sie
wollte nicht stören, sie wollte nicht im Weg stehen, doch was war
nun mit ihrem Vater? Es war Montag, sie hatte noch fünf Tage, um
ihn
zu finden. Ihr Fuß tat zwar immer noch weh, aber sonst ging es ihr
wirklich wieder besser, sie hätte sofort losfahren können. Fragte
sich nur, womit, sie hatte ja kein Auto.
Als Matteo hinausgegangen war und die Tür mit einem
lauten Knall hinter sich zugeschlagen hatte, fiel ihr ein, dass sie
dringend zu Hause anrufen und sich bei dem alten, beleidigten Mann
nach seinem Gesundheitszustand erkundigen musste. Er würde mit
Sicherheit neben dem Telefon stehen und nicht abheben - sie sollte
denken, er wäre schon tot.
Magdalena öffnete die Terrassentür weit und füllte
ihre Lungen mit der lauen Luft. »Verdammt noch mal, Rudi!«, rief
sie in den blauen Himmel. Niemand hörte sie.