5
Doch alles Fluchen half nicht, das schlechte Gewissen hatte sich wie ein Hakenwurm in Magdalenas Gedärme gebohrt. Den ganzen Samstag und auch am Sonntag meldete es sich, wenn sie ab und zu aus ihrem komaähnlichen Schlaf erwachte und in das grünliche Licht der Fensterläden blinzelte. Sie sah ihren Großvater durch die Wohnung taumeln und auf dem Sofa zusammensacken, sie sah sein Gehirn auf einem Röntgenfoto, in dem sich eine neue Blutung wie rote Tinte ausbreitete, und diesmal war sie nicht da, um ihn zu retten. Sie zog sich das Laken über den Kopf, die Bilder blieben und geisterten durch ihre Träume. Einmal versuchte sie noch, Opa Rudi zu erreichen, doch er ging nicht ans Telefon, und so hinkte sie nur zur Toilette und sortierte Ninas Kleiderschrank vor ihrem geistigen Auge, bis sie endlich wieder einschlief.
 
Am nächsten Morgen war sie bereits um sieben hellwach. Sie schälte sich neben Nina aus dem Bett und begab sich an die Arbeit. Leise, ohne mit den Kleiderbügeln zu klappern, ordnete sie Ninas Schrankinhalt nach Farben. Von weiß zu schwarz, über gelb, orange, rot, der ganze Regenbogen. Nina lag eingewickelt wie eine Mumie in ihrer Decke an die Wand gepresst und rührte sich nicht. Zufrieden betrachtete Magdalena ihr Werk. Es sah wunderschön aus.
Leise zog sie sich Ninas Nachthemd über den Kopf, das sie zum Schlafen getragen hatte, und schlüpfte in ihre neuen Sachen. Vom Markt hatte Nina ihr zwei lange weiße Tuniken mit kleinen eingearbeiteten Spiegeln mitgebracht und eine dazu passende weit geschnittene Hose. Sie schaute an sich herab. Obwohl sie sich die Sachen niemals selbst gekauft hätte, gefielen sie ihr, sie sah darin ein bisschen indisch, fast elegant aus, und die Wunde am Bein würde unter dem luftigen Stoff gut heilen können. Nina hatte wie selbstverständlich die richtigen Größen ausgewählt, alles, was sie sonst noch benötigte, durfte Magdalena sich aus Ninas gewaltigem Kleiderschrank aussuchen. Hemdchen, Slips, T-Shirts, eine kuschelige Kaschmir-Strickjacke und eben eines der altmodischen Jersey-Nachthemden, von denen Nina gleich mehrere besaß.
»Nimm dir, was du brauchst!« Erstaunlich, mit welcher Großzügigkeit Nina ihre Sachen hergab. Hätte sie, Magdalena, das auch für Nina getan, wenn die plötzlich vor dem alten Schulhaus auf der Straße gelegen hätte? Aber was hätte sie ihr aus ihrem Kleiderschrank schon anbieten können? Jede Menge Sportklamotten, schwarze Trainingsanzüge, graue Kapuzenpullover, einfache T-Shirts in Blau und Weiß ohne Aufdruck. Jeans. Nicht mal neue Modelle.
Ihr Koffer mit der Ersatzuniform und ihren anderen Sachen war längst wieder zu Hause in Osterkappeln, Busfahrer Stefan hatte ihn aus ihrem Hotelzimmer in Forte dei Marmi zu Opa Rudi gebracht, das hatte er ihr per SMS geschrieben. Ein netter Typ, dieser Stefan, schwache Witze, aber netter Typ.
 
Zehn vor acht, Magdalena schlich aus dem Zimmer und an dem schlafenden Matteo vorbei auf die Terrasse. Der Morgen war herrlich, die Luft duftete nach Honigtau, Blüten und dem Harz der Pinien, doch er hielt auch ein unangenehmes Telefonat für sie bereit: Es war Montag, sie musste sich beim Ditfurther Verlag melden. Sie wählte die Nummer, hoffentlich war der Seniorchef schon da. Er kam meistens als Erster, aber heute hatte sie Pech und nach zweimaligem Klingeln Lumpi an der Strippe. Der Junior. Eigentlich Ludger. Er war nur ein Jahr älter als sie, hatte keinen blassen Schimmer von Kartografie und bestand seit seinem BWL-Studium darauf, von allen gesiezt zu werden, auch von den um zwanzig Jahre älteren Brillen-Zwillingen, bei denen er schon auf dem Schoß gesessen hatte, als er noch zärtlich bei seinem Spitznamen gerufen wurde. Magdalena erklärte ihm, dass sie noch in Italien war, sich bei dem Sturz mit dem Roller verletzt hatte und diese Woche ausfallen würde.
»Was denken Sie sich eigentlich?«
»Ich hatte einen Unfall, Herr Ludger, einen Unfall hat man nicht absichtlich.« Sie schaffte es nicht, sich ihre spezielle Anrede für ihn zu verkneifen. Wie immer ärgerte es ihn, seinen Vornamen zu hören, das konnte sie selbst durchs Telefon spüren.
»Sie müssen gewährleisten, am ersten Tag nach dem Urlaub wieder antreten zu können. Ihre Nebenjobs in Ehren, aber sie lassen sich ja offensichtlich nicht ohne Probleme mit Ihrer Aufgabe hier im Verlag vereinbaren.«
»Wie, nicht mit der Aufgabe vereinbaren? Haben Sie etwas an meiner Leistung auszusetzen?«
»Sie hören von uns!«
Aufgelegt. Magdalena hätte am liebsten einen Wutschrei ausgestoßen, aber damit hätte sie die anderen geweckt. Es war zum Verzweifeln, erst machte Opa Rudi so ein Theater und nun auch noch dieser kleine Stinker! Sie musste heute Vormittag unbedingt noch den alten Ditfurther erwischen.
Zwei Stunden lang lag sie auf dem nach Camembert riechenden Sofa unter einer nach Camembert riechenden Decke, schmiedete Pläne und hörte den Vögeln zu, bis die Sonne gegen zehn Uhr richtig wärmte und sie Geräusche aus der Küche hörte.
 
Nachdem sie das Frühstück abgeräumt hatte, begann Magdalena den Inhalt des Kühlschranks zu ordnen. Er war nicht sehr voll, innerhalb von wenigen Minuten war sie fertig. »So, du gehörst da hin, und das war’s«, murmelte sie, stellte als Letztes den Erdbeerjoghurt neben die rote Marmelade und nickte glücklich. Auch im Kühlschrank herrschte jetzt Harmonie. Milch und weiße Joghurts standen neben dem hellgelben Butterwürfel, Melone und Gurken schimmerten grün durch das Gemüsefach.
»Schau, schau, sie tut es schon wieder … die unruhige Seele, erst im Bad die Shampooflaschen und jetzt auch noch der arme Kühlschrank«, hörte sie Matteo sagen. Magdalena drehte sich um, Matteo saß mit dem dünnen DJ Mikki am abgeräumten Tisch, beide grinsten. »Das ist doch toll!«, behauptete Nina, während sie auf einem Bein hüpfte, um ihren rechten Fuß in einen hochhackigen Schuh schlüpfen zu lassen. »Ich find jetzt alles viel schneller in meinem Kleiderschrank! Aber wo ist bloß der verdammte zweite Schuh?« Sie hinkte auf dem hohen Absatz hin und her, suchte Schlüssel, Tasche und Portemonnaie zusammen.
»Ich bin spät dran«, rief sie aus ihrem Zimmer, »in der comune steht Francesco jetzt schon seit drei Stunden mit einer Wartemarke für mich Schlange! Mal sehen, ob ich den sindaco heute endlich wegen der anstehenden baulichen Maßnahmen hier im POLO zu sprechen bekomme.« Wer ist der Sindaco?, fragte Magdalena sich. Immerhin habe ich heute gelernt, dass es cornetto heißt und nicht croissant, dass Nina sie am liebsten mit marmellata, Matteo mit crema mag und dass Mikki jeden Morgen gleich drei mit Nutella-Füllung verdrückt.
»Ha, hier ist er ja!« Nina kam wieder in die Küche und fädelte ihren Fuß gelenkig in den zweiten Schuh. »Jetzt muss ich aber los. Ciao!« Nina küsste sie auf beide Wangen und schaute ihr besorgt in die Augen. »Tu nicht so viel, lass den Abwasch stehen, ja? Und leg dich noch mal ein bisschen hin, du bist noch nicht gesund!«
Magdalena guckte sich um, sie sehnte sich danach, nach den beiden verschlafenen Tagen etwas Nützliches zu tun. Heute hatte sie immerhin schon die Inhalte von Kleider- und Kühlschrank sortiert, den Tisch abgewischt und den Küchenboden gefegt. Jetzt brannte sie darauf, endlich mit der Suche loszulegen. Doch Nina schien es lieber zu sein, sie in ihrem Bett bemuttern zu können, als sie hier in der Küche zu sehen.
»Wenn sie putzen will, lass sie halt machen«, sagte Matteo, »es ist ja nichts anderes zu tun. Vor allem, da immer noch nicht klar ist, ob wir diesen Sommer überhaupt öffnen.«
»Äh, ich würde auch ehrlich gesagt lieber meinen Vater suchen gehen …«, sagte Magdalena, aber niemand schien sie zu hören.
»Ich tu wenigstens etwas dafür, dass wir öffnen können«, rief Nina.
»Stimmt. Du tust eh alles für den, vergeudest deine Zeit in den Ämtern, und wo bleibt der Trottel aus Bologna? Lässt sich jeden Tag aufs Neue wieder entschuldigen. Er hat die Kommission, die die Einhaltung der Auflagen prüft, noch nicht mal beantragt, wie du letzte Woche nach stundenlangem Anstehen feststellen durftest!«
»Leone sagt, er hat das längst getan, die comune hat das nur verschlampt!«
»Wer’s glaubt. Aber wo sind dann die Handwerker, die er angeblich bestellt hat, um die Stromkabel, den Brandschutz und die ganze Technik zu checken? Gestern habe ich Beppe, der die Getränke liefern soll, im Baobab getroffen: Er weiß von nichts, und Mikki kann nicht mit der Musik weitermachen, solange kein Mischpult da ist.« Mikki schaute sich um, als ob er nicht recht wüsste, von wem die Rede war. Magdalena versuchte seinen Blick aufzufangen, er lächelte ihr zu und kratzte sich seine helle Kopfhaut, die zwischen den Dreadlocks hervorschimmerte. Ihm war Ninas und Matteos geräuschvolle Auseinandersetzung anscheinend ebenso unangenehm wie ihr.
»Der Leone hat mir gestern am Handy gesagt, wer dafür zuständig ist.«
»Der Leone, der Leone, ich kann den Namen schon nicht mehr hören!«
»Ich vertraue ihm. Letztes Jahr hat es doch auch geklappt.«
»Da haben sie ihm den Laden zwischendurch beinahe dichtgemacht, schon vergessen? Und diesmal machen sie ihn gar nicht erst wieder auf, so wird’s gehen!«
In einem feindseligen Ton, den Magdalena zuvor noch nicht von ihr gehört hatte, flüsterte Nina: »Sei doch froh, dass ich beschäftigt bin«, und tätschelte Matteo dabei die Schulter, »ich fahre jetzt!« Sie rauschte aus der Küche.
»Wie du meinst, Nannini, wie du meinst«, sagte Matteo leise.
»Also, Kinder, zum Putzen: sonst immer gerne, aber ich schaff das vom Kreislauf her jetzt einfach noch nicht.« Mikkis Italienisch war so schleppend, dass Magdalena jedes seiner Worte verstand. Er zuckte bedauernd mit den Schultern und schlurfte in sein Zimmer.
»Vor dem Abendessen sieht man den nicht wieder«, sagte Matteo und seufzte. Dann entdeckte er Magdalena neben dem Kühlschrank: »Sei froh, du fährst ja bald …«
Magdalena knetete unschlüssig ihre Hände. Sie wollte nicht stören, sie wollte nicht im Weg stehen, doch was war nun mit ihrem Vater? Es war Montag, sie hatte noch fünf Tage, um ihn zu finden. Ihr Fuß tat zwar immer noch weh, aber sonst ging es ihr wirklich wieder besser, sie hätte sofort losfahren können. Fragte sich nur, womit, sie hatte ja kein Auto.
Als Matteo hinausgegangen war und die Tür mit einem lauten Knall hinter sich zugeschlagen hatte, fiel ihr ein, dass sie dringend zu Hause anrufen und sich bei dem alten, beleidigten Mann nach seinem Gesundheitszustand erkundigen musste. Er würde mit Sicherheit neben dem Telefon stehen und nicht abheben - sie sollte denken, er wäre schon tot.
Magdalena öffnete die Terrassentür weit und füllte ihre Lungen mit der lauen Luft. »Verdammt noch mal, Rudi!«, rief sie in den blauen Himmel. Niemand hörte sie.
Magdalenas Garten
gers_9783641048662_oeb_cover_r1.html
gers_9783641048662_oeb_toc_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ded_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c01_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c02_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c03_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c04_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c05_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c06_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c07_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c08_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c09_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c10_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c11_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c12_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c13_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c14_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c15_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c16_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c17_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c18_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c19_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c20_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c21_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c22_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c23_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c24_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c25_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c26_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c27_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c28_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c29_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c30_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c31_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c32_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c33_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c34_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c35_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c36_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c37_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c38_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c39_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c40_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c41_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c42_r1.html
gers_9783641048662_oeb_elg_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ack_r1.html
gers_9783641048662_oeb_cop_r1.html