27
Magdalena schaltete in den zweiten Gang runter und zog dann mit der linken Hand ihre Jacke vorn fester zusammen. Je höher sie kam, desto kälter wurde die Nachtluft. Der Lichtkegel des Rollers fraß die weißen Mittelstreifen, diese Kurve noch, hier standen bereits die Autos am Straßenrand, rote Standlichter waren angelassen worden in der Hoffnung, dass man sie nicht übersah. Der Rhythmus der Bässe kam näher, noch konnte sie nicht feststellen, welches Lied gerade lief. Magdalena suchte zwischen den zahlreichen Mofas einen Platz rechts von der Eingangstreppe, stellte den Roller ab, befreite sich von ihrem Helm und verstaute ihn unter der Sitzbank. Sie schüttelte ihre Haare zurecht, ihr Beinahzusammenstoß in der Bar war gerade noch abgewendet worden, von Giorgio, dem Rollerfahrer, der sie wiedererkannt hatte und der nach einer schnell ausgegebenen Runde Bier auch seine Freunde besänftigen konnte.
Jetzt war sie doch wieder im Club 64 gelandet, dabei hatte sie sich fest vorgenommen, direkt nach Hause zu fahren. Aber dort war niemand, und obwohl sie müde war, würde sie nicht schlafen können, sondern zwischen Küche und ihrem Abstellkämmerchen wie eine Flipperkugel hin- und hertitschen. Die dunklen Fensterscheiben und die Stille machten ihr Angst, während sie auf Robertos Wagen lauschte, der nicht kam. Also lieber hoch in den Nachtclub, ein Gläschen trinken, Menschen angucken und ein bisschen mit Matteo plaudern. Alles besser, als allein im Haus zu sitzen. Heute war Freitag, es war voller als sonst, denn nicht nur die Touristen aus Rom und Milano, sondern auch die jungen Elbaner waren wild entschlossen, sich an diesem Abend zu amüsieren. Magdalena schob sich an den Wartenden vorbei und sprang die Treppenstufen hoch. Wo war Matteo? Sonst saß er doch meistens oberhalb des Kassenhäuschens an der Ausgangstreppe und ließ seine Blicke über die anwachsende Schlange schweifen, die sich um diese Uhrzeit bildete. Magdalena grüßte Sabina, die an der Kasse saß, und Daniele, Lauras Bruder, der wie jeden Abend neben dem Häuschen stand und die Diskothekenbesucher an sich vorbeiziehen ließ. Im Club 64 gab es keine Türen, dennoch gab es mehrere Türsteher, sie waren an ihren schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift SECURITY-TEAM zu erkennen. Zwei von ihnen standen neben Daniele und unterhielten sich. Nur wer zu betrunken war oder es in der Vergangenheit geschafft hatte, sich oben auf der Tanzfläche zu prügeln, dem wurde der Zutritt verweigert. Meistens war jemand vom SECURITY-TEAM aber bereits vorher zur Stelle und beförderte denjenigen diplomatisch die Treppen hinunter.
»Ich habe einen guten Riecher, ich weiß fast immer, wer Ärger machen will, bevor derjenige selbst draufkommt!«, hatte Matteo Magdalena erklärt.
»Ciao, Maddalena! Matteo kommt gleich wieder!« Daniele winkte sie durch. Magdalena bedankte sich und bahnte sich einen Weg durch die dröhnende Musik und die Jugendlichen, die herumstanden und sich gegenseitig mit ihren Handys fotografierten und filmten. Sie umging die Tanzfläche voller zuckender Lichter und Körper und entdeckte Tascha, die sich wie eine Galionsfigur mit ihrem Busen gegen einen Mann drückte und zu ihm aufschaute, während sie auf ihn einredete. Er hatte eine dreieckige Delle in seinem vorspringenden Kinn und guckte sie nicht an. Auch Magdalena schaute schnell weg, es dauerte, bis sie es endlich an die Bar geschafft hatte. Zwischen den Köpfen der Leute beobachtete sie, wie konzentriert Nina arbeitete, sie hob kaum den Blick, aber wenn, dann mit einem Lächeln, das echt zu sein schien. Dabei zeigte sie ihre unvermeidliche Zahnlücke und rauchig geschminkte Augen, in deren Aufmerksamkeit man sich einen Moment lang sonnen konnte. Una birra! Mach mir mal einen Gin Tonic! Una coca cola! Die Gäste wedelten mit ihren Bons, auch die Klempnertruppe entdeckte Magdalena in Ninas Dunstkreis.
»Ciao, Magdalena!« Nina hatte sie bemerkt und bedeutete ihr, hinter die Theke zu kommen. Sie drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Matteo ist auch gerade oben, was willst du trinken?«, rief sie ihr ins Ohr. Ihr Körper kam nicht zur Ruhe, während sie sprach. Sie nahm einen Plastikbecher von einem der hohen Türme, die sich vor ihr wie ein Gebirge aufstapelten, drehte sich, um im Regal hinter sich nach einer Flasche Gin zu greifen, ließ ein paar Zentiliter in den Becher gluckern, bückte sich, um eine Schublade zu öffnen, nahm ein Fläschchen Tonic heraus, setzte den Flaschenöffner an, goss ein, warf mit der Zange eine Zitronenscheibe hinein, zwei Eiswürfel hinterher, und fertig war der Drink, den sie nun einem Typ mit kunstvoll rasiertem Muster auf dem Schädel über die Theke schob und gleichzeitig den Bon entgegennahm.
»Martini d’Oro?!« Evelina kam aus dem Raum hinter der Bar mit einem Kübel voller Eis. Auch sie begrüßte Magdalena eilig mit zwei Küsschen, bevor sie sich um die Frau mit den Rastalocken kümmerte, die mit dem Oberkörper weit über der Theke hing und nach einem Heineken verlangte.
»Ja gerne!«
»Buona sera!« Plötzlich stand Matteo neben ihr.
»Hier, Matteo, dein Saft«, sagte Nina und reichte ihm einen Plastikbecher, der zwei Fingerbreit mit einem goldfarbenen Getränk gefüllt war.
»Gehen wir runter?« Mit ihrem Martini in der Hand folgte sie ihm, sie nahmen die Treppe zum Ausgang und saßen eine Minute später nebeneinander auf der Mauer oberhalb des Kassenhäuschens. Matteo stellte seinen Becher neben seinem Bein ab. Er drückte einen Finger in sein Ohr und sagte »bin wieder da« in das Mikro seines Headsets.
»Allora?«
»Ich bin müde, ich gehe gleich wieder.«
»Das sagst du jeden Abend!«
Magdalena schwenkte die Eiswürfel in ihrem Becher - schade, in Plastikbechern klirrte nichts -, trank einen Schluck Martini und bewegte sich ein paar Takte lang nach der Musik, die ihr von hinten zwischen die Schulterblätter wummerte.
»Stimmt! Aber ich konnte einfach noch nicht ins Bett gehen. Es war total voll heute bei uns.« Außerdem bin ich wegen dieses komischen Liedes noch aufgedrehter als sonst, fügte sie in Gedanken hinzu. Matteo nippte an seinem Getränk. Sie tat es ihm gleich und hielt ihren Becher neben seinen. Whiskey und Martini hatten exakt die gleiche Farbe. Gut.
»Was macht Roberto?«
Magdalena schaute ihn an. Wollte er das wirklich wissen?
»Er ist nicht oft zu Hause, steht den ganzen Tag und die halbe Nacht im Il Vizio rum, ich sehe ihn kaum!« Das musste reichen. Matteo schaute sie kurz an, sie lächelte und bemühte sich um ein möglichst unschuldiges Aussehen, nein, sie würde ihm bestimmt nicht erzählen, dass sie mit Roberto inzwischen jeden Nachmittag im Bett lag. Und dennoch hatte sie ja nicht gelogen, sie sah ihn wirklich kaum im Ganzen, sie sah ihn von so nah, dass es ihr manchmal gar nicht gelang, ihn aus all den Details wieder zusammenzusetzen. Sein schöner Mund, der sie so gern biss und leckte, seine Schultern und die Kuhlen an seinem Schlüsselbein, die Linie dunkler Haare, die den Weg von seinem Bauchnabel zu seinem Schwanz wies, dieses wunderschöne Teil aus samtener, zimtbrauner Haut, weich und glatt. Sie hatten Sex, aber er gab ihn ihr einfach nicht, nicht dort hinein, wo er hingehörte. Es kränkte sie, sparte er sich seinen prächtigen Penis für irgendwas Besseres auf? Es war peinlich, aber sie war regelrecht besessen von ihm, warum würde sie sonst so um ihn betteln? Roberto musste sie nur berühren, schon war sie für alles bereit, das war seine Macht, die er nach Belieben ausspielte.
»Wann kommst du?« Magdalena spürte, wie sie rot anlief. Verliebt in einen Schwanz, der ihr verweigert wurde, so ein Quatsch.
»Was?«
»Ich meine, wann kommst du im Zitronengarten vorbei?«
»Morgen. Spätestens übermorgen.«
Matteo nickte. »Die beiden Delinquenten haben sich erstaunlich gut erholt, die anderen blühen wie verrückt nach dem Dünger.«
»Wir könnten die Mauer wieder aufbauen.« Magdalena hätte sich am liebsten an ihn gekuschelt, sie mochte ihn schrecklich gern, sie waren ein gutes Team. Der verwilderte Park des POLO wurde langsam wieder zu einem Garten, sie hatte den Lavendel vom Unkraut befreit, und Matteo hatte die kahlen, niedergetretenen Stellen rund um die ehemalige Tanzfläche mit weißem und rosarotem Oleander bepflanzt.
»Ich habe heute in der Bar ein total kitschiges Lied gehört. Von Antonello Pucciano.«
»Ah, das war doch nicht etwa Stivali d’oro sulla spiaggia…?« Matteo sang die Zeile in einem erstaunlich melodischen Bass.
»Du kennst es!«
»Natürlich, das kennt jedes Kind! Irgendwann Anfang der Achtziger hat Antonello damit in San Remo den zweiten Platz gemacht und danach nie wieder einen Hit gelandet.«
»Anfang der Achtziger? Nur den zweiten Platz? Und da kennt ihn noch jedes Kind?«, fragte Magdalena und dachte nach. Irgendwann Anfang der Achtziger, ein Sänger? Es könnte möglich sein … basta!, rief sie sich zur Ordnung, diesmal machst du es anders! Keine unbedachten Aktionen mehr, keine peinlichen Verdächtigungen, kein Abmessen von Eckzähnen oder Körpergrößen! Und vor allen Dingen kein Wort zu Matteo und Nina, bis du die Gewissheit hast.
»Jeder italienische Sänger probiert sich einmal in seinem Leben an ›Stivali d’Oro‹, auch heute noch. Eros hat das mal gesungen, Mina, Giovanotti, sogar Zucchero … glaube ich jedenfalls. Und dafür bekommt er ja jedes Mal Tantiemen.«
»Ein Lied und Schluss. Wahnsinn«, sagte Magdalena und rückte noch etwas näher an Matteo heran, um seinen Geruch besser einfangen zu können. Ein bisschen Lederjacke, obwohl er gar keine trug, ein bisschen Sandelholz, Salz, Heu und Whiskey.
»Ich glaube, er hat schon noch Musik gemacht«, sagte Matteo, »er hat für andere Künstler geschrieben, aber selbst nicht mehr gesungen. Hatte ja mit dem einen Song genug verdient, um sich an einer der schönsten Stellen in Italien eine Villa zu kaufen. Und rate mal, wo?«
»Hier! Auf Elba!«
Matteo schien etwas enttäuscht. »Ah, das wusstest du also schon.«
»Ja«, sagte Magdalena leise, »das wusste ich schon.«
Magdalenas Garten
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