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Magdalena schaltete in den zweiten Gang
runter und zog dann mit der linken Hand ihre Jacke vorn fester
zusammen. Je höher sie kam, desto kälter wurde die Nachtluft. Der
Lichtkegel des Rollers fraß die weißen Mittelstreifen, diese Kurve
noch, hier standen bereits die Autos am Straßenrand, rote
Standlichter waren angelassen worden in der Hoffnung, dass man sie
nicht übersah. Der Rhythmus der Bässe kam näher, noch konnte sie
nicht feststellen, welches Lied gerade lief. Magdalena suchte
zwischen den zahlreichen Mofas einen Platz rechts von der
Eingangstreppe, stellte den Roller ab, befreite sich von ihrem Helm
und verstaute ihn unter der Sitzbank. Sie schüttelte ihre Haare
zurecht, ihr Beinahzusammenstoß in der Bar war gerade noch
abgewendet worden, von Giorgio, dem Rollerfahrer, der sie
wiedererkannt hatte und der nach einer schnell ausgegebenen Runde
Bier auch seine Freunde besänftigen konnte.
Jetzt war sie doch wieder im Club 64
gelandet, dabei hatte sie sich fest vorgenommen, direkt nach Hause
zu fahren. Aber dort war niemand, und obwohl sie müde war, würde
sie nicht schlafen können, sondern zwischen Küche und ihrem
Abstellkämmerchen wie eine Flipperkugel hin- und hertitschen. Die
dunklen Fensterscheiben und die Stille machten ihr Angst, während
sie auf Robertos Wagen lauschte, der nicht kam. Also lieber
hoch in den Nachtclub, ein Gläschen trinken, Menschen angucken und
ein bisschen mit Matteo plaudern. Alles besser, als allein im Haus
zu sitzen. Heute war Freitag, es war voller als sonst, denn nicht
nur die Touristen aus Rom und Milano, sondern auch die jungen
Elbaner waren wild entschlossen, sich an diesem Abend zu amüsieren.
Magdalena schob sich an den Wartenden vorbei und sprang die
Treppenstufen hoch. Wo war Matteo? Sonst saß er doch meistens
oberhalb des Kassenhäuschens an der Ausgangstreppe und ließ seine
Blicke über die anwachsende Schlange schweifen, die sich um diese
Uhrzeit bildete. Magdalena grüßte Sabina, die an der Kasse saß, und
Daniele, Lauras Bruder, der wie jeden Abend neben dem Häuschen
stand und die Diskothekenbesucher an sich vorbeiziehen ließ. Im
Club 64 gab es keine Türen, dennoch gab es mehrere
Türsteher, sie waren an ihren schwarzen T-Shirts mit der Aufschrift
SECURITY-TEAM zu erkennen. Zwei von ihnen standen neben Daniele und
unterhielten sich. Nur wer zu betrunken war oder es in der
Vergangenheit geschafft hatte, sich oben auf der Tanzfläche zu
prügeln, dem wurde der Zutritt verweigert. Meistens war jemand vom
SECURITY-TEAM aber bereits vorher zur Stelle und beförderte
denjenigen diplomatisch die Treppen hinunter.
»Ich habe einen guten Riecher, ich weiß fast immer,
wer Ärger machen will, bevor derjenige selbst draufkommt!«, hatte
Matteo Magdalena erklärt.
»Ciao, Maddalena! Matteo kommt gleich
wieder!« Daniele winkte sie durch. Magdalena bedankte sich und
bahnte sich einen Weg durch die dröhnende Musik und die
Jugendlichen, die herumstanden und sich gegenseitig mit ihren
Handys fotografierten und filmten. Sie umging die Tanzfläche voller
zuckender Lichter und Körper und entdeckte Tascha, die sich wie
eine Galionsfigur mit ihrem Busen gegen einen Mann drückte und
zu ihm aufschaute, während sie auf ihn einredete. Er hatte eine
dreieckige Delle in seinem vorspringenden Kinn und guckte sie nicht
an. Auch Magdalena schaute schnell weg, es dauerte, bis sie es
endlich an die Bar geschafft hatte. Zwischen den Köpfen der Leute
beobachtete sie, wie konzentriert Nina arbeitete, sie hob kaum den
Blick, aber wenn, dann mit einem Lächeln, das echt zu sein schien.
Dabei zeigte sie ihre unvermeidliche Zahnlücke und rauchig
geschminkte Augen, in deren Aufmerksamkeit man sich einen Moment
lang sonnen konnte. Una birra! Mach mir mal einen Gin Tonic!
Una coca cola! Die Gäste wedelten mit ihren Bons, auch die
Klempnertruppe entdeckte Magdalena in Ninas Dunstkreis.
»Ciao, Magdalena!« Nina hatte sie bemerkt
und bedeutete ihr, hinter die Theke zu kommen. Sie drückte ihr
einen Kuss auf die Wange.
»Matteo ist auch gerade oben, was willst du
trinken?«, rief sie ihr ins Ohr. Ihr Körper kam nicht zur Ruhe,
während sie sprach. Sie nahm einen Plastikbecher von einem der
hohen Türme, die sich vor ihr wie ein Gebirge aufstapelten, drehte
sich, um im Regal hinter sich nach einer Flasche Gin zu greifen,
ließ ein paar Zentiliter in den Becher gluckern, bückte sich, um
eine Schublade zu öffnen, nahm ein Fläschchen Tonic heraus, setzte
den Flaschenöffner an, goss ein, warf mit der Zange eine
Zitronenscheibe hinein, zwei Eiswürfel hinterher, und fertig war
der Drink, den sie nun einem Typ mit kunstvoll rasiertem Muster auf
dem Schädel über die Theke schob und gleichzeitig den Bon
entgegennahm.
»Martini d’Oro?!« Evelina kam aus dem Raum hinter
der Bar mit einem Kübel voller Eis. Auch sie begrüßte Magdalena
eilig mit zwei Küsschen, bevor sie sich um die Frau mit den
Rastalocken kümmerte, die mit dem Oberkörper weit über der Theke
hing und nach einem Heineken verlangte.
»Ja gerne!«
»Buona sera!« Plötzlich stand Matteo neben
ihr.
»Hier, Matteo, dein Saft«, sagte Nina und
reichte ihm einen Plastikbecher, der zwei Fingerbreit mit einem
goldfarbenen Getränk gefüllt war.
»Gehen wir runter?« Mit ihrem Martini in der Hand
folgte sie ihm, sie nahmen die Treppe zum Ausgang und saßen eine
Minute später nebeneinander auf der Mauer oberhalb des
Kassenhäuschens. Matteo stellte seinen Becher neben seinem Bein ab.
Er drückte einen Finger in sein Ohr und sagte »bin wieder da« in
das Mikro seines Headsets.
»Allora?«
»Ich bin müde, ich gehe gleich wieder.«
»Das sagst du jeden Abend!«
Magdalena schwenkte die Eiswürfel in ihrem Becher -
schade, in Plastikbechern klirrte nichts -, trank einen Schluck
Martini und bewegte sich ein paar Takte lang nach der Musik, die
ihr von hinten zwischen die Schulterblätter wummerte.
»Stimmt! Aber ich konnte einfach noch nicht ins
Bett gehen. Es war total voll heute bei uns.« Außerdem bin ich
wegen dieses komischen Liedes noch aufgedrehter als sonst, fügte
sie in Gedanken hinzu. Matteo nippte an seinem Getränk. Sie tat es
ihm gleich und hielt ihren Becher neben seinen. Whiskey und Martini
hatten exakt die gleiche Farbe. Gut.
»Was macht Roberto?«
Magdalena schaute ihn an. Wollte er das wirklich
wissen?
»Er ist nicht oft zu Hause, steht den ganzen Tag
und die halbe Nacht im Il Vizio rum, ich sehe ihn kaum!« Das
musste reichen. Matteo schaute sie kurz an, sie lächelte und
bemühte sich um ein möglichst unschuldiges Aussehen, nein, sie
würde ihm bestimmt nicht erzählen, dass sie mit Roberto inzwischen
jeden Nachmittag im Bett lag. Und dennoch hatte
sie ja nicht gelogen, sie sah ihn wirklich kaum im Ganzen, sie sah
ihn von so nah, dass es ihr manchmal gar nicht gelang, ihn aus all
den Details wieder zusammenzusetzen. Sein schöner Mund, der sie so
gern biss und leckte, seine Schultern und die Kuhlen an seinem
Schlüsselbein, die Linie dunkler Haare, die den Weg von seinem
Bauchnabel zu seinem Schwanz wies, dieses wunderschöne Teil aus
samtener, zimtbrauner Haut, weich und glatt. Sie hatten Sex, aber
er gab ihn ihr einfach nicht, nicht dort hinein, wo er hingehörte.
Es kränkte sie, sparte er sich seinen prächtigen Penis für
irgendwas Besseres auf? Es war peinlich, aber sie war regelrecht
besessen von ihm, warum würde sie sonst so um ihn betteln? Roberto
musste sie nur berühren, schon war sie für alles bereit, das war
seine Macht, die er nach Belieben ausspielte.
»Wann kommst du?« Magdalena spürte, wie sie rot
anlief. Verliebt in einen Schwanz, der ihr verweigert wurde, so ein
Quatsch.
»Was?«
»Ich meine, wann kommst du im Zitronengarten
vorbei?«
»Morgen. Spätestens übermorgen.«
Matteo nickte. »Die beiden Delinquenten haben sich
erstaunlich gut erholt, die anderen blühen wie verrückt nach dem
Dünger.«
»Wir könnten die Mauer wieder aufbauen.« Magdalena
hätte sich am liebsten an ihn gekuschelt, sie mochte ihn
schrecklich gern, sie waren ein gutes Team. Der verwilderte Park
des POLO wurde langsam wieder zu einem Garten, sie hatte den
Lavendel vom Unkraut befreit, und Matteo hatte die kahlen,
niedergetretenen Stellen rund um die ehemalige Tanzfläche mit
weißem und rosarotem Oleander bepflanzt.
»Ich habe heute in der Bar ein total kitschiges
Lied gehört. Von Antonello Pucciano.«
»Ah, das war doch nicht etwa Stivali d’oro sulla
spiaggia…?« Matteo sang die Zeile in einem erstaunlich
melodischen Bass.
»Du kennst es!«
»Natürlich, das kennt jedes Kind! Irgendwann Anfang
der Achtziger hat Antonello damit in San Remo den zweiten Platz
gemacht und danach nie wieder einen Hit gelandet.«
»Anfang der Achtziger? Nur den zweiten Platz? Und
da kennt ihn noch jedes Kind?«, fragte Magdalena und dachte nach.
Irgendwann Anfang der Achtziger, ein Sänger? Es könnte möglich sein
… basta!, rief sie sich zur Ordnung, diesmal machst du es
anders! Keine unbedachten Aktionen mehr, keine peinlichen
Verdächtigungen, kein Abmessen von Eckzähnen oder Körpergrößen! Und
vor allen Dingen kein Wort zu Matteo und Nina, bis du die
Gewissheit hast.
»Jeder italienische Sänger probiert sich einmal in
seinem Leben an ›Stivali d’Oro‹, auch heute noch. Eros hat
das mal gesungen, Mina, Giovanotti, sogar Zucchero … glaube ich
jedenfalls. Und dafür bekommt er ja jedes Mal Tantiemen.«
»Ein Lied und Schluss. Wahnsinn«, sagte Magdalena
und rückte noch etwas näher an Matteo heran, um seinen Geruch
besser einfangen zu können. Ein bisschen Lederjacke, obwohl er gar
keine trug, ein bisschen Sandelholz, Salz, Heu und Whiskey.
»Ich glaube, er hat schon noch Musik gemacht«,
sagte Matteo, »er hat für andere Künstler geschrieben, aber selbst
nicht mehr gesungen. Hatte ja mit dem einen Song genug verdient, um
sich an einer der schönsten Stellen in Italien eine Villa zu
kaufen. Und rate mal, wo?«
»Hier! Auf Elba!«
Matteo schien etwas enttäuscht. »Ah, das wusstest
du also schon.«
»Ja«, sagte Magdalena leise, »das wusste ich
schon.«