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Bis vier Uhr wälzte Magdalena sich
schlaflos auf dem Sofa hin und her, um halb sieben klopfte Holger
an die Tür. Sie streifte sich eine ihrer dünnen, durchgeknöpften
Jacken über, die sie so liebte, und eine halblange Hose, dazu ihre
zweitschönsten Holzsandaletten, die schönsten waren auf der
»Natasha« geblieben. Die beiden Reisetaschen ließ sie bei Holger
stehen und nahm nur die Brottüte mit, ihre neue Handtasche. Gut,
dass der Tank des Rollers noch halb voll war, sie hatte kein Geld,
keine EC-Karte, kein Handy.
Magdalena fuhr in Richtung La Pila, der Morgen war
kühl, die Sonne löste gerade die letzten Nebelschleier auf. Rechts
an der Straße tauchte der Garten mit den violetten
Artischockenblüten auf, plötzlich fiel ihr das Atmen der köstlich
frischen Luft schwer. Ein letztes Mal, dachte sie, ein letztes Mal
den Berg hinauf, ein letztes Mal den Berg wieder hinunter, ein
letztes Mal die hässliche rot-weiße Gokartbahn, die Tankstelle, ein
letztes Mal der hübsche Kirchplatz mit der kleinen Kirche, deren
Portal immer noch geschlossen war. Robertos Jeep stand vor der Tür.
Magdalena stieg vom Roller ab, sie hätte das letzte Stück schieben
sollen, jetzt hatte er sie natürlich gehört. Sie holte die
Schachtel aus der Tüte und öffnete sie. Die Walther lag zuverlässig
in ihrem Samtbett, sogar mit einem Schalldämpfer, hatte sie gestern
auf ihrer Chaiselongue erfreut festgestellt.
Sie drehte ihn auf die Mündung, die Waffe würde verhindern, dass
Roberto zu nah an sie herankam, vielleicht hatte er seine Freunde
ja gleich mitgebracht. Sie schluckte, ihr Mund war trocken, mit
zittriger Hand schloss sie die Tür auf. Aufmerksam schaute sie sich
um, es war nichts zu hören, schlief er? Ihre Handtasche lag auf dem
Tisch, leise öffnete Magdalena sie. Es schien alles da zu sein, sie
hängte sie sich wie eine Postbotentasche um, ihre Schuhe standen
ordentlich nebeneinander vor der Küchenzeile. Magdalena schnaubte
leise durch die Nase und ging auf Robertos Zimmertür zu, die halb
offen stand. Mit der Waffe auf dem Rücken schaute sie hinein. Er
lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte sie an, nein, er war
nicht tot, jetzt blinzelte er. Er sagte nichts, gar nichts.
Schließlich machte er eine Handbewegung, die »hau ab, raus hier«
oder etwas in der Art bedeuten konnte. Dann stand er langsam auf,
seine Pyjamahose hing ihm cool auf den Hüften. Magdalena wich
zurück durch den kleinen Flur in die Küche, sie wollte nicht, dass
er die Waffe sah. Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen, wollte
einfach nichts mehr von ihm sehen, ihn nie mehr riechen müssen. Sie
legte die Pistole auf den Tisch und wandte sich zur Tür. Ein
Irrtum, sie hatte sich in Roberto getäuscht, sich selbst etwas
vorgemacht, obwohl die Stimme in ihr immer leise vor ihm gewarnt
hatte. Sie hatte nicht auf diese Stimme gehört. Und er? Ihm war das
gleichgültig, dann kam eben eine Neue - oder auch nicht.
»He!« Roberto kam in die Küche und zeigte mit
seinem Kinn auf sie. »Wenn du mal wieder ficken willst, komm ja
nicht bei mir an, klar?!«
Er verschwand pfeifend ins Bad, sie hörte die
Dusche. In ihrem Magen verknotete sich etwas zu einem fetten,
öligen Knäuel. Sie biss sich auf die Lippen. Was für ein ekelhafter
Spruch, was für eine Gemeinheit! Sie spürte, wie ihr Blut in den
Ohren rauschte. Jetzt reicht es, Roberto! Bisher hatte sie immer
nur etwas zerstört, was sie liebte, mit dieser dummen
Angewohnheit war jetzt Schluss. Sie würde etwas zerstören, was
er liebte.
Lautlos glitt sie hinüber ins Schlafzimmer, setzte
die Pistole an die Seitenwand des Schranks und drückte ab. Die
Kugel ging ohne Widerstand durch das Holz, kam aber auf der anderen
Seite nicht wieder heraus. Wütend öffnete Magdalena die Tür, erst
in einer dicken Lederjacke, neben dem letzten Hemd war das Geschoss
stecken geblieben. Schnell kontrollierte sie die vorderen Bügel,
die wie immer akkurat in handbreitem Abstand voneinander an der
Stange hingen. Hervorragend, genüsslich tasteten ihre Finger über
die Stoffwunde, jedes einzelne Hemd war von einem ausgefransten
Loch zerfetzt, rein zufällig befand es sich auf Höhe des Herzens.
Das hatte sie gar nicht beabsichtigt, dennoch: eine ausgezeichnete
Arbeit! Sie setzte die Waffe auf einen Stapel Hosen, der auf dem
Schrankboden in die Höhe wuchs. Gut, dass Roberto ein derart
ordentlicher Mensch war, so konnte man alles mühelos finden. Sie
könnte den Hosen einen Oberschenkeldurchschuss verpassen. Oder
jeder einzelnen direkt in den Schritt feuern. Sehr symbolisch. Doch
sie drückte nicht mehr ab, sondern schloss die Türen und ging
langsam aus dem Zimmer. Roberto duschte noch immer, er ahnte noch
nichts von seinen erschossenen Hemden. Magdalena wischte die Waffe
gründlich mit einem Küchenhandtuch ab, ließ sie auf dem Tisch
liegen, schnappte ihre Schuhe und zog die Haustür hinter sich
zu.
An der Tankstelle wartete sie, es war halb acht.
Sie setzte sich an eine der Zapfsäulen in die Sonne, sog den
berauschenden Benzingeruch ein und blätterte in Oscar Wildes
Aphorismen. Um Viertel vor acht jagten zwei Polizeiautos an ihr
vorbei,
Staub wirbelte auf, als sie abbremsten und in die kleine Straße
einbogen, die auf den Kirchplatz führte.
»In der Wahl seiner Feinde kann der Mensch nicht
vorsichtig genug sein«, las Magdalena.