39
Bis vier Uhr wälzte Magdalena sich schlaflos auf dem Sofa hin und her, um halb sieben klopfte Holger an die Tür. Sie streifte sich eine ihrer dünnen, durchgeknöpften Jacken über, die sie so liebte, und eine halblange Hose, dazu ihre zweitschönsten Holzsandaletten, die schönsten waren auf der »Natasha« geblieben. Die beiden Reisetaschen ließ sie bei Holger stehen und nahm nur die Brottüte mit, ihre neue Handtasche. Gut, dass der Tank des Rollers noch halb voll war, sie hatte kein Geld, keine EC-Karte, kein Handy.
Magdalena fuhr in Richtung La Pila, der Morgen war kühl, die Sonne löste gerade die letzten Nebelschleier auf. Rechts an der Straße tauchte der Garten mit den violetten Artischockenblüten auf, plötzlich fiel ihr das Atmen der köstlich frischen Luft schwer. Ein letztes Mal, dachte sie, ein letztes Mal den Berg hinauf, ein letztes Mal den Berg wieder hinunter, ein letztes Mal die hässliche rot-weiße Gokartbahn, die Tankstelle, ein letztes Mal der hübsche Kirchplatz mit der kleinen Kirche, deren Portal immer noch geschlossen war. Robertos Jeep stand vor der Tür. Magdalena stieg vom Roller ab, sie hätte das letzte Stück schieben sollen, jetzt hatte er sie natürlich gehört. Sie holte die Schachtel aus der Tüte und öffnete sie. Die Walther lag zuverlässig in ihrem Samtbett, sogar mit einem Schalldämpfer, hatte sie gestern auf ihrer Chaiselongue erfreut festgestellt. Sie drehte ihn auf die Mündung, die Waffe würde verhindern, dass Roberto zu nah an sie herankam, vielleicht hatte er seine Freunde ja gleich mitgebracht. Sie schluckte, ihr Mund war trocken, mit zittriger Hand schloss sie die Tür auf. Aufmerksam schaute sie sich um, es war nichts zu hören, schlief er? Ihre Handtasche lag auf dem Tisch, leise öffnete Magdalena sie. Es schien alles da zu sein, sie hängte sie sich wie eine Postbotentasche um, ihre Schuhe standen ordentlich nebeneinander vor der Küchenzeile. Magdalena schnaubte leise durch die Nase und ging auf Robertos Zimmertür zu, die halb offen stand. Mit der Waffe auf dem Rücken schaute sie hinein. Er lag mit geöffneten Augen im Bett und starrte sie an, nein, er war nicht tot, jetzt blinzelte er. Er sagte nichts, gar nichts. Schließlich machte er eine Handbewegung, die »hau ab, raus hier« oder etwas in der Art bedeuten konnte. Dann stand er langsam auf, seine Pyjamahose hing ihm cool auf den Hüften. Magdalena wich zurück durch den kleinen Flur in die Küche, sie wollte nicht, dass er die Waffe sah. Sie hatte ihm nichts mehr zu sagen, wollte einfach nichts mehr von ihm sehen, ihn nie mehr riechen müssen. Sie legte die Pistole auf den Tisch und wandte sich zur Tür. Ein Irrtum, sie hatte sich in Roberto getäuscht, sich selbst etwas vorgemacht, obwohl die Stimme in ihr immer leise vor ihm gewarnt hatte. Sie hatte nicht auf diese Stimme gehört. Und er? Ihm war das gleichgültig, dann kam eben eine Neue - oder auch nicht.
»He!« Roberto kam in die Küche und zeigte mit seinem Kinn auf sie. »Wenn du mal wieder ficken willst, komm ja nicht bei mir an, klar?!«
Er verschwand pfeifend ins Bad, sie hörte die Dusche. In ihrem Magen verknotete sich etwas zu einem fetten, öligen Knäuel. Sie biss sich auf die Lippen. Was für ein ekelhafter Spruch, was für eine Gemeinheit! Sie spürte, wie ihr Blut in den Ohren rauschte. Jetzt reicht es, Roberto! Bisher hatte sie immer nur etwas zerstört, was sie liebte, mit dieser dummen Angewohnheit war jetzt Schluss. Sie würde etwas zerstören, was er liebte.
Lautlos glitt sie hinüber ins Schlafzimmer, setzte die Pistole an die Seitenwand des Schranks und drückte ab. Die Kugel ging ohne Widerstand durch das Holz, kam aber auf der anderen Seite nicht wieder heraus. Wütend öffnete Magdalena die Tür, erst in einer dicken Lederjacke, neben dem letzten Hemd war das Geschoss stecken geblieben. Schnell kontrollierte sie die vorderen Bügel, die wie immer akkurat in handbreitem Abstand voneinander an der Stange hingen. Hervorragend, genüsslich tasteten ihre Finger über die Stoffwunde, jedes einzelne Hemd war von einem ausgefransten Loch zerfetzt, rein zufällig befand es sich auf Höhe des Herzens. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt, dennoch: eine ausgezeichnete Arbeit! Sie setzte die Waffe auf einen Stapel Hosen, der auf dem Schrankboden in die Höhe wuchs. Gut, dass Roberto ein derart ordentlicher Mensch war, so konnte man alles mühelos finden. Sie könnte den Hosen einen Oberschenkeldurchschuss verpassen. Oder jeder einzelnen direkt in den Schritt feuern. Sehr symbolisch. Doch sie drückte nicht mehr ab, sondern schloss die Türen und ging langsam aus dem Zimmer. Roberto duschte noch immer, er ahnte noch nichts von seinen erschossenen Hemden. Magdalena wischte die Waffe gründlich mit einem Küchenhandtuch ab, ließ sie auf dem Tisch liegen, schnappte ihre Schuhe und zog die Haustür hinter sich zu.
 
An der Tankstelle wartete sie, es war halb acht. Sie setzte sich an eine der Zapfsäulen in die Sonne, sog den berauschenden Benzingeruch ein und blätterte in Oscar Wildes Aphorismen. Um Viertel vor acht jagten zwei Polizeiautos an ihr vorbei, Staub wirbelte auf, als sie abbremsten und in die kleine Straße einbogen, die auf den Kirchplatz führte.
»In der Wahl seiner Feinde kann der Mensch nicht vorsichtig genug sein«, las Magdalena.
Magdalenas Garten
gers_9783641048662_oeb_cover_r1.html
gers_9783641048662_oeb_toc_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ded_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c01_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c02_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c03_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c04_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c05_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c06_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c07_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c08_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c09_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c10_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c11_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c12_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c13_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c14_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c15_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c16_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c17_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c18_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c19_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c20_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c21_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c22_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c23_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c24_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c25_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c26_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c27_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c28_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c29_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c30_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c31_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c32_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c33_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c34_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c35_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c36_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c37_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c38_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c39_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c40_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c41_r1.html
gers_9783641048662_oeb_c42_r1.html
gers_9783641048662_oeb_elg_r1.html
gers_9783641048662_oeb_ack_r1.html
gers_9783641048662_oeb_cop_r1.html