21
Um halb neun, wenn Magdalena mit der Arbeit
begann, war die Bar meistens noch leer, so auch an diesem Tag. Als
sie unter den Tischen im Innenhof die Chipskrümel und
Erdnussschalen zusammenfegte, betrat jemand die Bar. Sie hob nur
kurz den Kopf. Er war groß, seine schütteren, grau melierten Haare
waren am Hinterkopf zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden.
Magdalena fegte weiter und überlegte, warum Roberto sie eigentlich
noch nie aufgefordert hatte, ihn im Il Vizio zu besuchen.
Sie beschloss, am nächsten Tag einmal dort vorbeizufahren, gegen
einen Cappuccino an seiner Theke würde er ja wohl nichts
einzuwenden haben. »Wal-ter!«, trompetete der dünne Pferdeschwanz
jetzt an der Bar. Sie schaute hinüber. Walter schien belustigt über
ihn zu lächeln. Aber Walter lächelte über jeden belustigt oder
starrte abwesend in die Luft, mit ihr hatte er in den vergangenen
zwei Wochen, die sie nun schon hier arbeitete, kaum ein Wort
gesprochen.
»Un bianco!« Der Unbekannte stand mit dem
Rücken zu ihr und beugte sich über den Tresen, er redete und
gestikulierte ohne Punkt und Komma. Magdalena lehnte den Besen
leise an die Glastür, dieser Typ war einer von denen, die alles
kommentieren mussten, wahrscheinlich erklärte er sich dadurch
selbst das Leben. Mit einem Mal, als ob er ihren Blick gespürt
hätte, drehte er sich um.
»Eccolo, ein neues Gesicht, angenehm,
Olmo!«
»Piacere, Magdalena!«, brachte sie hervor
und ging näher an ihn heran, sodass er ihre Hand ergreifen konnte.
Nur langsam drang die Erkenntnis zu ihr durch, wer ihr da gerade
die Hand zerquetschte, als ob er eine Zitrone auspressen wollte:
Olmo! Olmo Spinetti, zu dem der Wirt des Mezza Fortuna sie
mit den Worten »Der kannte sie damals alle« geschickt hatte.
Magdalena rieb sich die schmerzenden Finger und betrachtete ihn
aufmerksam wie ein berühmtes Gemälde, das man nur aus Büchern kennt
und nun endlich in natura sieht.
»… und wer hat sie eingestellt, hat Sara das
entschieden? Oder du, Wal-ter? Woher kommst du? Deutschland, ah,
die Deutschen sind gut, ich mag die Deutschen, aber die Russinnen
können auch richtig anpacken oder die Rumäninnen, verstehst du?« Er
trug zwei klotzige Taucheruhren an seinem linken, stark behaarten
Unterarm. Er folgte ihrem Blick.
»Natürlich, jetzt fragst du dich, was will der da
mit den zwei Uhren, tja, ich muss halt immer wissen, wie spät es
gerade auf Santa Lucia ist, caraibi, verstehst du?«
Magdalena zuckte zusammen, als sie ihren zweiten Vornamen hörte.
Lucia. Santa Lucia.
»Komme gerade von da und muss ziemlich oft dort
anrufen, na ja, man will die Geschäftspartner schließlich nicht aus
dem Bett schmeißen. Verstehst du?« Nein, sie verstand seinen
toskanischen Dialekt nur zur Hälfte, die andere Hälfte hatte sie
geraten. Außerdem kippte er den Weißwein wie Schnaps, sie musste
sich zusammenreißen, um ihn nicht weiter anzustarren. »Also
tedesca, was?« Olmo redete. Seine Frau sei aus Brasilien,
una bella ragazza, bella, bella, bella, und er würde bald
das erste Mal Papa! Darum sei er hier. Ob sie auch was trinken
wolle? Er lachte mit zusammengepressten Lippen, und seine Augen
schlossen sich zu zwei Halbmonden. O Gott! Walter stellte zwei
weitere Gläser Weißwein auf die Theke und schenkte Olmo nach. Wie
hatte sie damals nur glauben können, dass Giovanni ihrem
jugendlichen Vater ähnlich sah, der hier vor ihr war es, keine
Frage! Und damit nicht genug, ihr Vater wurde wieder Vater.
»Lasst uns anstoßen, wer hätte das gedacht, mit
fünfzig das erste Mal Vater, Wal-ter, Maddalena,
Salute!«
Magdalena stieß ihr Glas gegen das seine. Ob dir
immer noch zum Feiern zumute wäre, wenn du wüsstest, wie jung du
bei deinem wirklich »ersten Mal« warst?
Ohne Luft zu holen, erzählte Olmo ihr vom Il
Giramondo, dem Restaurant mit den vielen Städtewahrzeichen an
den Wänden, das sei ihr sicherlich schon einmal aufgefallen. Und
ob, dachte sie, als ich noch im Hotel Acquarius wohnte,
musste ich jeden Tag aufs Neue feststellen, dass es geschlossen
war. Magdalena zögerte, mit ihrem Rücken verdeckte sie das Foto,
das seitlich hinter der Bar in der Nähe der Musikanlage hing. Olmo
trug eine künstlich zerschlissene Jeans, über seinem Bauch spannte
sich ein T-Shirt, auf dem die Simpsons abgebildet waren. Walter
lächelte erheitert, als ihre Blicke sich trafen. Sollte sie
wirklich fragen? Sie trank den Rest Weißwein mit einem Schluck aus,
die Gläser waren winzig. Was mochte da reingehen, fünf Zentiliter?
Nicht genug für den heutigen Anlass. Zeig die Zähne, bat sie ihn in
Gedanken, zeig mir deine spitzen Eckzähne, ich muss vorher die
Gewissheit haben! Doch er tat ihr den Gefallen nicht. Noch immer
verbarg sie das Foto mit ihrem Rücken und starrte ihm auf den Mund.
Er lachte und redete ununterbrochen.
»Wisst ihr, dass es in der Karibik nur noch ganz
wenige wirklich gute Plätze gibt? Aber das sind Geheimtipps, die
ich nicht weitergeben werde!« Er lachte, seine Zähne hielt er dabei
mit den Lippen unter Verschluss.
Magdalena krümmte sich innerlich, ihr potenzieller
Vater war also auch so ein Karibikfan - und dazu noch ein Angeber.
»Allora, arrivederci, besuch mich mal im
Giramondo! Diese Woche am besten, da habe ich tagsüber ein
bisschen Luft!« Er zahlte und verließ fröhlich pfeifend die Bar.
Erschöpft setzte Magdalena sich auf einen Hocker.
»Il Bianco nennen sie ihn, er kommt zehnmal
am Tag herein und trinkt Weißwein«, sagte Walter leise, »er hat
beinah schon mal seinen Laden versoffen, hatte immer irgendwelche
Frauengeschichten, aber kein Glück mit ihnen. Aber seit letztem
Sommer ist da diese Brasilianerin, wahnsinnig eifersüchtig
übrigens, die hält ihn so kurz, da muss er auch abends zu uns
kommen.« Er lachte nicht, sondern guckte Magdalena das erste Mal
ruhig in die Augen.
»Er könnte es sein«, wisperte sie.
»Er könnte es sein«, wiederholte Walter.
Nein, nein, nein, ich will keinen alternden, auf
jung machenden Playboy mit einem Alkoholproblem und Haarausfall zum
Vater! Ach, das dann doch nicht? Es war von vornherein klar, dass
er vielleicht nicht unbedingt ein Nobelpreisträger sein würde …
oder? Du musst ihn schon so nehmen, wie er ist, Vater ist Vater.
Magdalena beendete ihren inneren Monolog, Walter beobachtete sie
immer noch. Seit ein paar Minuten mochte sie ihn, weil er Olmo
nichts von dem Foto gesagt hatte und weil er auch jetzt wieder
schwieg.
Neun Uhr, Franco kam mit Helm und Motorradjacke
herein. Draußen sitzen Leute, signalisierte er ihr mit einer
knappen Bewegung seines Kopfes. Jaja, ich gehe ja schon. Franco das
Arbeitstier nannte sie ihn. Wie der pingeligste Deutsche hatte er
die Bar mit seinen Gesetzen und Regeln in der Gewalt. Dieses und
kein anderes Glas für den Eistee, jenes für Martini, den grünen
Lappen bitte nur zum Kaffeemaschineputzen, den Toaster immer auf
Stufe drei stellen, abends zwei Kappen Desinfektionsmittel
ins letzte Wischwasser, nicht mehr und nicht weniger. Selbst
Walter würde es als Besitzer der Bar nie wagen, diese Ordnung
infrage zu stellen. Während der sonst so schweigsame Walter mit
ausgewählten Gästen gerne mal ein Schwätzchen hielt, sortierte
Franco Kaffeelöffel, räumte im Lager herum oder ordnete die
Schubladen unter der Bar in einem von ihm erdachten revolutionären
neuen System ein. Ständig wischte und putzte er etwas, Magdalena
hatte schon ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihn nur sah.
Es wurde voller, fast alle Tische waren besetzt,
Magdalena nahm Bestellungen auf, räumte ab, schleppte Tabletts mit
Eisbechern und Getränken heran und rannte zwischen Innenhof und
Straße hin und her. Es machte ihr Spaß, in ihren neuen leichten
Segelschuhen war sie die schnellste Bedienung von ganz Procchio. Ab
zehn Uhr kam sie kaum mehr zum Verschnaufen, sie verteilte die
Getränkekarten an den Tischen, sammelte sie wieder ein, empfahl
Kuchen aus der Vitrine - »Allora, wir haben torta di
mela, torta di moro und eine crostata di albicocche« -,
sie räumte schmutziges Geschirr in die kleine Spülmaschine und
verbrannte sich an den Untertassen die Finger, wenn sie sie wieder
ausräumte. Sie redete Italienisch, wie es ihr gerade einfiel, die
Italiener waren neugierig, kaum hörten sie ihren fremden Akzent,
fragten sie auch schon, von wo sie käme.
»Germania. Del nord.«
»Hamburgo?« In der Nähe! Sie hatte
aufgegeben, die geografische Lage von Rheine mithilfe der
niederländischen Grenze zu erklären, die meisten Italiener wussten
gar nicht, wo genau sich dieses europäische Land befand.
Dreiundzwanzig Uhr, Franco schickte Magdalena mit
dem Besen hinaus, sie sollte wie jeden Abend die Kippen auf dem
Bürgersteig zusammenfegen.
Halb eins, Endspurt, Aschenbecher ausleeren,
Kaffeemaschine polieren, Müll und leere Flaschen über die Straße
zum Container bringen. Walter drückte ihr zehn Euro in die Hand.
Ihr Trinkgeld. Sie steckte es in die Tasche und ging zu ihrem
Roller, der in der Gasse hinter der Apotheke abgestellt war. Morgen
würde sie damit die Via del Mare hinunterfahren und Olmo erklären,
dass er bereits Vater war.