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Dienstagmorgen. Nur noch vier Tage.
Magdalena versuchte, nicht daran zu denken. Fegend ging sie in der
Küche auf und ab und schubste gerade eine kalte, störrische Nudel
mit den Zehen auf die Kehrschaufel, als ihr Handy anfing, surrend
über den Tisch zu robben. Rudi. Sie holte tief Luft.
»Rudolf! Guten Morgen!«
»Nein, hier ist Erika Feest, Ihr Großvater bat
mich, Sie anzurufen!«
Ein eisiger Schreck durchfuhr Magdalena. Sie hatte
es ja gewusst, die zweite Gehirnblutung, und sie war über 1000
Kilometer weit entfernt. Sie würde zu spät kommen.
»Was ist mit ihm?«
»Ich rufe hier von seinem Apparat aus an.« Früher
hatte Frau Feest die gelbe Telefonzelle vor dem alten Schulhaus als
ihr Eigentum betrachtet, und wenn eines der Schulkinder ihrer
Meinung nach lange genug telefoniert hatte, klopfte sie von außen
an die von ihr geputzten Scheiben. Mittlerweile besaß jedes zweite
Grundschulkind ein Handy, und die Telefonzelle gab es längst nicht
mehr, doch nun stand Frau Feest bei ihnen im Wohnzimmer und
telefonierte. Das war kein gutes Zeichen.
»Geht es ihm so schlecht?«
»Er … er spricht nicht, und …«, sie flüsterte
jetzt, »… ach
was, ich soll einfach nur ausrichten, Sie sollen sofort
zurückkommen.«
»Verstehe.«
»Also, kommen Sie?«
Magdalena fühlte, wie sich in ihrem Magen vor Ärger
ein großer Klumpen bildete.
»Sagen Sie ihm, er soll heute Abend in seinen
Computer gucken, ich schreibe ihm eine Mail. Und danke, dass Sie
sich um ihn kümmern!«
»Ich bin da, wenn er mich braucht.« Das klang
irgendwie verbittert, hatte sie sich vielleicht mehr erhofft nach
Oma Wittas Tod?
Mit kurzen, wütenden Strichen fegte Magdalena Sand
und Piniennadeln unter den Stühlen hervor, der tatkräftige
Endsechziger, der so stolz auf seine körperliche und geistige
Verfassung war, spielte mit einem Mal den Greis, der ihre Pflege
benötigte, nur um sie nach Hause zu zwingen. Sie hielt inne. Und
wenn es ihm wirklich nicht gut ging? Vielleicht sollte sie doch
früher nach Hause fliegen, sie erreichte hier doch sowieso
nichts.
Magdalena nahm das Kehrblech an seinem langen
Stiel, schob den kleinen Haufen mit dem Besen darauf und kippte
alles in den Müll.
Ihr Magen knurrte laut. Hoffentlich brachte Nina
eine schiaccina aus Procchios Bäckerei für sie mit.
Magdalena liebte die zwischen zwei Teigschichten zusammengepressten
Tomaten, Schinken, Mozzarella, besonders die Mayonnaise. Zugenommen
hatte sie noch nicht, aber wenn sie so weitermachte, ohne das
kleinste bisschen Sport, würde es nicht mehr lange dauern.
Magdalena erledigte den Abwasch, trat dann auf die
Terrasse und zog die Luft stoßweise durch die Nase, eine weitere
Probe für ihr Geruchstagebuch, in das sie seit ihrer Kindheit
Gerüche
einordnete wie andere Leute Briefmarken oder gepresste Blumen.
Seltsamerweise ließen sich nur die angenehmen Erinnerungen
eintragen, denn Gerüche, die mit schlechten Erinnerungen verbunden
waren, vergaß sie sofort wieder.
Unter »Elba, POLO« gab es schon mehrere
Einträge: Ninas weiße Mönchszelle mit dem leichten Handcreme-Flair,
die Küche mit Matteo auf dem Bett liegend, die Küche ohne Matteo
auf dem Bett liegend, das pilzige Sofa auf der Terrasse, das
gechlorte Bad, gesättigt mit dem Bleichmittel, das Mikki literweise
in seine Handwäsche goss. Nun fügte sie noch »POLO,
Terrasse, mittags« hinzu.
Magdalena ging wieder hinein. Elf Uhr, es würde
sicher noch eine Weile dauern, bis Nina zurückkam, heute Morgen
hatte sie Matteo und Nina wie ein altes Ehepaar darüber streiten
hören, aber natürlich war Nina doch gefahren. Sie tat letztlich nie
das, was Matteo für richtig hielt.
Magdalena durchquerte die geputzte Küche, humpelte
zur Haustür raus und stieg mit ihrem steifen Bein langsam die
schmale Treppe hinunter. Bevor sie in vier Tagen wieder abreiste,
wollte sie das Gelände unbedingt noch ganz erkunden. Sie lauschte.
Wo war Matteo? Sie hatte ihn seit heute Morgen beim Frühstück nicht
mehr gesehen.
Magdalena ging rechts an dem Gebäude vorbei und
fand ein abgelegenes Rondell mit zwei eisernen Bänken, die zwischen
verschiedenen Palmenarten versteckt standen. Aus dem Kies schoss
das Unkraut kniehoch hervor. Dahinter erhob sich ein
Maschendrahtzaun, der sich um das Gelände zog, in drei Metern Höhe
kringelte sich Stacheldraht. In diese Richtung war also Ende.
Langsam ging sie zurück und begann die Stufen bis zur Straße
hinabzusteigen, auf der anderen Seite führte eine Treppe wieder
hoch. Eine Eingangstreppe, eine für den Ausgang.
Vor der rot-weißen Absperrkette hielt sie an, dort unten stand
Matteo. Unwillkürlich fuhr sie zurück. In seiner Nähe fiel ihr rein
gar nichts mehr ein, und er konnte mit ihr anscheinend auch nicht
allzu viel anfangen.
Matteo bemerkte sie nicht, er hatte einen Eimer
gelber Farbe vor sich und malte mit einer Rolle um den
POLO-Schriftzug herum. Sie schaute ihm zu, bis ihr klar
wurde, dass sie ihn heimlich beobachtete.
»Ciao!«
Er fuhr erschrocken herum und grinste dann
verlegen. Nach ein paar unendlichen Sekunden deutete er mit der
Malerrolle auf die Zweige, die sich auf der Straße häuften.
»Das musste ich erst mal alles wegschneiden, war
total zugewachsen …« Er strich schweigend weiter.
»Aha.« Sie blickte auf die andere Straßenseite,
hier war er für sie während der Handtaschensuche den Abhang
hinuntergerutscht. Sollte sie sich noch einmal dafür
bedanken?
»Na, dann …!« Wie dumm, dumm, dumm, na dann!
Hochinteressantes Gespräch, Magdalena, was soll das, wieso bringst
du in der Nähe von älteren Männern keinen vernünftigen Satz
zustande … Älteren Männern? Sie hatte Nina gefragt, er war erst
dreiunddreißig, sah aber durch diesen unrasierten Look, den er
anscheinend liebte und pflegte, älter aus. Sie dagegen ging überall
noch für fünfundzwanzig durch. Gesichtstechnisch sind wir zehn
Jahre voneinander entfernt, und auch sonst trennen uns Welten. War
das wirklich wahr? Was wusste sie schon über ihn? Sie hatte ja noch
nie mit ihm geredet. Er war mit zwanzig und kaputten Kreuzbändern
aus der Eishockeynationalmannschaft ausgeschieden und hatte drei
Jahre in Rom als Beleuchter in der Cinecittà gearbeitet.
Irgendwas würde einem normalen Menschen doch dazu einfallen. Aber
was bloß?
Magdalena räusperte sich. »Gibt es irgendwas, das
ich über Elba noch wissen sollte?«
»Über Elba?!« Er schien überrascht, dass sie ihn
überhaupt noch einmal ansprach. »Das Wasser wird auf Elba in den
Sommermonaten knapp, deswegen sollte man beim Duschen sparen.«
Aha.
»Und auf keinen Fall zu viel Toilettenpapier ins
Klo schmeißen! Und vielleicht sollte man auch wissen, dass Radio
Elba der einzig hörbare Radiosender auf der Insel ist.«
Meine Güte, er konnte ja richtig gesprächig sein,
doch nun wandte er sich wieder der Mauer zu.
»Und die Elbaner? Merken die, dass du nicht von
hier kommst?«
»Natürlich, sie hören es ja gleich. Sie sind ein
bisschen stolz, wie alle Inselmenschen. Sehr nett, aber erzähl
ihnen nicht, wie sie einen Tisch anstreichen sollen … Das wissen
sie besser.«
Ein deutscher Reisebus fuhr vorbei, sie schauten
ihm beide nach. Ein italienischer folgte.
»Da fährt dein Job! Wissen die später überhaupt
noch, wo sie waren?«
»Ja, sicher - irgendwo in der Toskana.« Magdalena
lächelte ihn kurz an und schaute dann auf die abgeschnittenen
Zweige auf dem Boden. Hinter geschlossenen Fenstern, eingesperrt in
einem gekühlten Kasten, über die Insel zu fahren und sich mit den
Informationen aus Reiseführern vollzustopfen brachte gar nichts.
Viel besser war es, geduldig an einem Platz auszuharren, und schon
kamen die wirklich schönen Dinge Elbas auf einen zu. Gestern
Morgen, als sie barfuß an dem schlafenden Matteo vorbei durch die
Küche gehinkt und auf die Terrasse hinausgetreten war, hatte sie
den harzigen Duft, der über dem Wald lag, eingeatmet und gedacht:
Das ist also Elba! Der neongelbe Puder, der nachher an ihren
Fußsohlen klebte, das war
ebenfalls Elba. Auch die Steinstufen hier unten waren davon
bedeckt.
»Was ist das eigentlich für Zeug auf dem
Boden?«
»Das ist der Blütenstaub der Pinien. Er wird zu
dieser Jahreszeit überallhin geweht. Wenn es regnet, schillert es
auf den Pfützen ganz gelb, sieht richtig giftig aus.«
»Du kennst dich aus!«
Matteo winkte ab und wandte sich, als Magdalena
nichts mehr sagte, mit einem kleinen Salutieren wieder seiner
Arbeit zu. Magdalena salutierte zurück, zu spät, er sah es nicht,
trotzdem freute sie sich und kam auf einmal die Stufen viel
leichter hoch.
Sie hielt sich links und humpelte pfeifend am
Kassenhäuschen und an den Rosmarinbüschen vorbei, viele hellgrüne
Triebe sprossen daraus hervor. Wenn Nina ihr nicht so anschaulich
vorgespielt hätte, mit welchen Flüssigkeiten die armen Büsche schon
gedüngt worden waren, hätte sie sich wahrscheinlich einen Zweig für
zu Hause abgerissen. Hinter dem mit Graffiti besprühten Verschlag,
den man zur Tanzfläche hin wie eine Würstchenbude öffnen konnte,
ging es weitere Stufen hinunter. Grauer Kies, Pinienbäume,
grünbraun zerfledderte Palmen und Zypressen. Mindestens zehn
Grillen saßen irgendwo in den Bäumen verteilt und erzeugten mit
ihren Körpern einen Höllenlärm, doch bekam man sie nie zu sehen.
Das Grün wurde dichter, Magdalena schlug die Äste eines
austreibenden Busches zurück und stieg steifbeinig über einen an
dieser Stelle heruntergetretenen Bretterzaun. Gehörte das hier noch
zum Club? Sie schaute sich um. Weitab von der Tanzfläche bildeten
Pinien und Sträucher eine Lichtung. Die Äste der niedrigen Bäume,
die dort standen, stießen teilweise aneinander und formten ein
schattiges Dach. Überall blinkte es gelb durch die dunkelgrünen
Blätter, und nun erkannte sie erst, was es war:
Zitronen! Gelbe und grüne Zitronen und unzählige weiße Blüten -
mitten in diesem heruntergekommenen Nachtclub-Park standen echte
Zitronenbäume! Samtiges Gras und unzählige Mohnblumen wuchsen
darunter, ein satter Geruch, grün und bittersüß, hing unter den
Baumkronen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre über einen alten
Schemel gestolpert, der zwischen den hohen Grashalmen lag und seine
drei Beine in die Luft streckte. Magdalena drehte ihn um, setzte
sich auf eine ebene Stelle inmitten der Gräser. Ein leichter Wind
kam auf, sie seufzte laut vor Zufriedenheit. Mit einem Schlag
schwiegen alle Grillen. Lag das etwa an ihr? Die Stille dehnte sich
aus, irgendwie unheimlich, Magdalena betrachtete die Sonnenflecken,
die auf ihrem Arm tanzten. Hier, zwischen den beiden kräftigsten
Bäumen, ist der ideale Platz für eine Hängematte, dachte sie, die
würden mein Gewicht aushalten. Und Bienen müsste man haben, um die
vielen Zitronenblüten zu bestäuben, und dann einfach hier leben,
Zitronengärtnerin sein. Gab es den Beruf? Egal, es hörte sich
jedenfalls gut an, Zitronengärtnerin in einem Nachtclub …
Magdalena musste grinsen, Bienen, warum nicht? Sie
liebte den Geruch von Honig, wenn er aus der Honigschleuder in das
Metallsieb über dem Eimer rann. Rudi hatte ein Bienenhaus hinten im
Garten, sie stand gern neben ihm, unter weißem Hut und Schleier
verborgen, und nebelte ihn mit dem Rauch aus der Imkerpfeife ein.
Ohne Schutz, mit bloßen Händen, nahm ihr Großvater die Waben aus
dem Kasten, während die Bienen angesäuselt vom Rauch der Pfeife
aufflogen. Ein köstlicher Duft, der noch lange in den Kleidern und
Haaren hing und auf ihrer Favoritenliste ganz oben, kurz vor gerade
geschleudertem Honig, rangierte. Sie erhob sich und rief leise:
»Ihr könnt weitermachen!« Prompt setzte eine der Grillen wieder
ein, die anderen folgten. Magdalena lachte und pflückte
von einem dornigen Zweig über ihrem Kopf feierlich die erste
Zitrone ihres Lebens. Da fahre ich schon seit zwei Jahren mit dem
Bus durch Italien, renne von einem Restaurant in das nächste, sehe
Kunstwerke von Michelangelo und Botticelli, Amphitheater und
wunderschöne Ansichtskarten-Landschaften und habe noch nicht mal
eine einzige Zitrone vom Baum geerntet. Mit geschlossenen Augen
schnupperte sie an ihr. Das Ding war irgendwie klebrig, Magdalena
riss die Augen auf. Etwas Weißes mit Flügeln krabbelte ganz nah an
ihrer Nasenspitze herum, hastig schleuderte sie die Zitrone von
sich. Sie prallte mit einem trockenen Laut an einen Pinienstamm und
fiel auf den Boden. Auch die zweite und dritte Zitrone ihres
Lebens, die sie vom Nachbarbaum abpflückte, war von den kleinen
Tierchen befallen. Zählend wanderte Magdalena zwischen den Bäumen
umher. Nur zwei der acht Bäume schienen krank zu sein, ausgerechnet
von denen hatte sie die Zitronen geerntet, an den Unterseiten der
Blätter wimmelte es von den winzigen weißen Fliegen. Hoffentlich
hatten sich die anderen noch nicht angesteckt. Sie schaute genauer
nach. Keine Fliegen, dafür klebrige Blätter und weiße Flocken an
den Astgabelungen und Blattadern. Magdalena nahm ein kleines
Stöckchen vom Boden und versuchte eine der weißen Anhäufungen
abzustreifen. Sie hatten ein schmieriges braunes Innenleben und
schienen die Pflanzen auszusaugen. Mit einer Mischung aus Ekel und
Faszination zermatschte sie noch weitere Flocken, aber irgendwann
gab sie entmutigt auf. Selbst wenn sie zwei Tage so weitermachte,
würde sie doch nie alle erwischen. Wie wurden die Bäume bewässert?
Magdalena schaute sich um, konnte aber keine Wasserleitung
entdecken. Es würde keine Hängematte und kein Bienenhaus geben. Der
Zitronengarten starb an einer Invasion weiß geflügelter Tierchen
und schmieriger Flocken und verdurstete obendrein. Sie pflückte ein
Blatt und rieb es zwischen
den Fingern, frisches Zitronenaroma entfaltete sich unter ihrer
Nase.
»Tut mir leid, aber ich kann mich nicht um euch
kümmern.«
Sie warf das Blatt weg.
»Da gibt es gerade Wichtigeres!«