6
Dienstagmorgen. Nur noch vier Tage. Magdalena versuchte, nicht daran zu denken. Fegend ging sie in der Küche auf und ab und schubste gerade eine kalte, störrische Nudel mit den Zehen auf die Kehrschaufel, als ihr Handy anfing, surrend über den Tisch zu robben. Rudi. Sie holte tief Luft.
»Rudolf! Guten Morgen!«
»Nein, hier ist Erika Feest, Ihr Großvater bat mich, Sie anzurufen!«
Ein eisiger Schreck durchfuhr Magdalena. Sie hatte es ja gewusst, die zweite Gehirnblutung, und sie war über 1000 Kilometer weit entfernt. Sie würde zu spät kommen.
»Was ist mit ihm?«
»Ich rufe hier von seinem Apparat aus an.« Früher hatte Frau Feest die gelbe Telefonzelle vor dem alten Schulhaus als ihr Eigentum betrachtet, und wenn eines der Schulkinder ihrer Meinung nach lange genug telefoniert hatte, klopfte sie von außen an die von ihr geputzten Scheiben. Mittlerweile besaß jedes zweite Grundschulkind ein Handy, und die Telefonzelle gab es längst nicht mehr, doch nun stand Frau Feest bei ihnen im Wohnzimmer und telefonierte. Das war kein gutes Zeichen.
»Geht es ihm so schlecht?«
»Er … er spricht nicht, und …«, sie flüsterte jetzt, »… ach was, ich soll einfach nur ausrichten, Sie sollen sofort zurückkommen.«
»Verstehe.«
»Also, kommen Sie?«
Magdalena fühlte, wie sich in ihrem Magen vor Ärger ein großer Klumpen bildete.
»Sagen Sie ihm, er soll heute Abend in seinen Computer gucken, ich schreibe ihm eine Mail. Und danke, dass Sie sich um ihn kümmern!«
»Ich bin da, wenn er mich braucht.« Das klang irgendwie verbittert, hatte sie sich vielleicht mehr erhofft nach Oma Wittas Tod?
 
Mit kurzen, wütenden Strichen fegte Magdalena Sand und Piniennadeln unter den Stühlen hervor, der tatkräftige Endsechziger, der so stolz auf seine körperliche und geistige Verfassung war, spielte mit einem Mal den Greis, der ihre Pflege benötigte, nur um sie nach Hause zu zwingen. Sie hielt inne. Und wenn es ihm wirklich nicht gut ging? Vielleicht sollte sie doch früher nach Hause fliegen, sie erreichte hier doch sowieso nichts.
Magdalena nahm das Kehrblech an seinem langen Stiel, schob den kleinen Haufen mit dem Besen darauf und kippte alles in den Müll.
Ihr Magen knurrte laut. Hoffentlich brachte Nina eine schiaccina aus Procchios Bäckerei für sie mit. Magdalena liebte die zwischen zwei Teigschichten zusammengepressten Tomaten, Schinken, Mozzarella, besonders die Mayonnaise. Zugenommen hatte sie noch nicht, aber wenn sie so weitermachte, ohne das kleinste bisschen Sport, würde es nicht mehr lange dauern.
Magdalena erledigte den Abwasch, trat dann auf die Terrasse und zog die Luft stoßweise durch die Nase, eine weitere Probe für ihr Geruchstagebuch, in das sie seit ihrer Kindheit Gerüche einordnete wie andere Leute Briefmarken oder gepresste Blumen. Seltsamerweise ließen sich nur die angenehmen Erinnerungen eintragen, denn Gerüche, die mit schlechten Erinnerungen verbunden waren, vergaß sie sofort wieder.
Unter »Elba, POLO« gab es schon mehrere Einträge: Ninas weiße Mönchszelle mit dem leichten Handcreme-Flair, die Küche mit Matteo auf dem Bett liegend, die Küche ohne Matteo auf dem Bett liegend, das pilzige Sofa auf der Terrasse, das gechlorte Bad, gesättigt mit dem Bleichmittel, das Mikki literweise in seine Handwäsche goss. Nun fügte sie noch »POLO, Terrasse, mittags« hinzu.
 
Magdalena ging wieder hinein. Elf Uhr, es würde sicher noch eine Weile dauern, bis Nina zurückkam, heute Morgen hatte sie Matteo und Nina wie ein altes Ehepaar darüber streiten hören, aber natürlich war Nina doch gefahren. Sie tat letztlich nie das, was Matteo für richtig hielt.
Magdalena durchquerte die geputzte Küche, humpelte zur Haustür raus und stieg mit ihrem steifen Bein langsam die schmale Treppe hinunter. Bevor sie in vier Tagen wieder abreiste, wollte sie das Gelände unbedingt noch ganz erkunden. Sie lauschte. Wo war Matteo? Sie hatte ihn seit heute Morgen beim Frühstück nicht mehr gesehen.
Magdalena ging rechts an dem Gebäude vorbei und fand ein abgelegenes Rondell mit zwei eisernen Bänken, die zwischen verschiedenen Palmenarten versteckt standen. Aus dem Kies schoss das Unkraut kniehoch hervor. Dahinter erhob sich ein Maschendrahtzaun, der sich um das Gelände zog, in drei Metern Höhe kringelte sich Stacheldraht. In diese Richtung war also Ende. Langsam ging sie zurück und begann die Stufen bis zur Straße hinabzusteigen, auf der anderen Seite führte eine Treppe wieder hoch. Eine Eingangstreppe, eine für den Ausgang. Vor der rot-weißen Absperrkette hielt sie an, dort unten stand Matteo. Unwillkürlich fuhr sie zurück. In seiner Nähe fiel ihr rein gar nichts mehr ein, und er konnte mit ihr anscheinend auch nicht allzu viel anfangen.
 
Matteo bemerkte sie nicht, er hatte einen Eimer gelber Farbe vor sich und malte mit einer Rolle um den POLO-Schriftzug herum. Sie schaute ihm zu, bis ihr klar wurde, dass sie ihn heimlich beobachtete.
»Ciao!«
Er fuhr erschrocken herum und grinste dann verlegen. Nach ein paar unendlichen Sekunden deutete er mit der Malerrolle auf die Zweige, die sich auf der Straße häuften.
»Das musste ich erst mal alles wegschneiden, war total zugewachsen …« Er strich schweigend weiter.
»Aha.« Sie blickte auf die andere Straßenseite, hier war er für sie während der Handtaschensuche den Abhang hinuntergerutscht. Sollte sie sich noch einmal dafür bedanken?
»Na, dann …!« Wie dumm, dumm, dumm, na dann! Hochinteressantes Gespräch, Magdalena, was soll das, wieso bringst du in der Nähe von älteren Männern keinen vernünftigen Satz zustande … Älteren Männern? Sie hatte Nina gefragt, er war erst dreiunddreißig, sah aber durch diesen unrasierten Look, den er anscheinend liebte und pflegte, älter aus. Sie dagegen ging überall noch für fünfundzwanzig durch. Gesichtstechnisch sind wir zehn Jahre voneinander entfernt, und auch sonst trennen uns Welten. War das wirklich wahr? Was wusste sie schon über ihn? Sie hatte ja noch nie mit ihm geredet. Er war mit zwanzig und kaputten Kreuzbändern aus der Eishockeynationalmannschaft ausgeschieden und hatte drei Jahre in Rom als Beleuchter in der Cinecittà gearbeitet. Irgendwas würde einem normalen Menschen doch dazu einfallen. Aber was bloß?
Magdalena räusperte sich. »Gibt es irgendwas, das ich über Elba noch wissen sollte?«
»Über Elba?!« Er schien überrascht, dass sie ihn überhaupt noch einmal ansprach. »Das Wasser wird auf Elba in den Sommermonaten knapp, deswegen sollte man beim Duschen sparen.« Aha.
»Und auf keinen Fall zu viel Toilettenpapier ins Klo schmeißen! Und vielleicht sollte man auch wissen, dass Radio Elba der einzig hörbare Radiosender auf der Insel ist.«
Meine Güte, er konnte ja richtig gesprächig sein, doch nun wandte er sich wieder der Mauer zu.
»Und die Elbaner? Merken die, dass du nicht von hier kommst?«
»Natürlich, sie hören es ja gleich. Sie sind ein bisschen stolz, wie alle Inselmenschen. Sehr nett, aber erzähl ihnen nicht, wie sie einen Tisch anstreichen sollen … Das wissen sie besser.«
Ein deutscher Reisebus fuhr vorbei, sie schauten ihm beide nach. Ein italienischer folgte.
»Da fährt dein Job! Wissen die später überhaupt noch, wo sie waren?«
»Ja, sicher - irgendwo in der Toskana.« Magdalena lächelte ihn kurz an und schaute dann auf die abgeschnittenen Zweige auf dem Boden. Hinter geschlossenen Fenstern, eingesperrt in einem gekühlten Kasten, über die Insel zu fahren und sich mit den Informationen aus Reiseführern vollzustopfen brachte gar nichts. Viel besser war es, geduldig an einem Platz auszuharren, und schon kamen die wirklich schönen Dinge Elbas auf einen zu. Gestern Morgen, als sie barfuß an dem schlafenden Matteo vorbei durch die Küche gehinkt und auf die Terrasse hinausgetreten war, hatte sie den harzigen Duft, der über dem Wald lag, eingeatmet und gedacht: Das ist also Elba! Der neongelbe Puder, der nachher an ihren Fußsohlen klebte, das war ebenfalls Elba. Auch die Steinstufen hier unten waren davon bedeckt.
»Was ist das eigentlich für Zeug auf dem Boden?«
»Das ist der Blütenstaub der Pinien. Er wird zu dieser Jahreszeit überallhin geweht. Wenn es regnet, schillert es auf den Pfützen ganz gelb, sieht richtig giftig aus.«
»Du kennst dich aus!«
Matteo winkte ab und wandte sich, als Magdalena nichts mehr sagte, mit einem kleinen Salutieren wieder seiner Arbeit zu. Magdalena salutierte zurück, zu spät, er sah es nicht, trotzdem freute sie sich und kam auf einmal die Stufen viel leichter hoch.
Sie hielt sich links und humpelte pfeifend am Kassenhäuschen und an den Rosmarinbüschen vorbei, viele hellgrüne Triebe sprossen daraus hervor. Wenn Nina ihr nicht so anschaulich vorgespielt hätte, mit welchen Flüssigkeiten die armen Büsche schon gedüngt worden waren, hätte sie sich wahrscheinlich einen Zweig für zu Hause abgerissen. Hinter dem mit Graffiti besprühten Verschlag, den man zur Tanzfläche hin wie eine Würstchenbude öffnen konnte, ging es weitere Stufen hinunter. Grauer Kies, Pinienbäume, grünbraun zerfledderte Palmen und Zypressen. Mindestens zehn Grillen saßen irgendwo in den Bäumen verteilt und erzeugten mit ihren Körpern einen Höllenlärm, doch bekam man sie nie zu sehen. Das Grün wurde dichter, Magdalena schlug die Äste eines austreibenden Busches zurück und stieg steifbeinig über einen an dieser Stelle heruntergetretenen Bretterzaun. Gehörte das hier noch zum Club? Sie schaute sich um. Weitab von der Tanzfläche bildeten Pinien und Sträucher eine Lichtung. Die Äste der niedrigen Bäume, die dort standen, stießen teilweise aneinander und formten ein schattiges Dach. Überall blinkte es gelb durch die dunkelgrünen Blätter, und nun erkannte sie erst, was es war: Zitronen! Gelbe und grüne Zitronen und unzählige weiße Blüten - mitten in diesem heruntergekommenen Nachtclub-Park standen echte Zitronenbäume! Samtiges Gras und unzählige Mohnblumen wuchsen darunter, ein satter Geruch, grün und bittersüß, hing unter den Baumkronen. Es fehlte nicht viel, und sie wäre über einen alten Schemel gestolpert, der zwischen den hohen Grashalmen lag und seine drei Beine in die Luft streckte. Magdalena drehte ihn um, setzte sich auf eine ebene Stelle inmitten der Gräser. Ein leichter Wind kam auf, sie seufzte laut vor Zufriedenheit. Mit einem Schlag schwiegen alle Grillen. Lag das etwa an ihr? Die Stille dehnte sich aus, irgendwie unheimlich, Magdalena betrachtete die Sonnenflecken, die auf ihrem Arm tanzten. Hier, zwischen den beiden kräftigsten Bäumen, ist der ideale Platz für eine Hängematte, dachte sie, die würden mein Gewicht aushalten. Und Bienen müsste man haben, um die vielen Zitronenblüten zu bestäuben, und dann einfach hier leben, Zitronengärtnerin sein. Gab es den Beruf? Egal, es hörte sich jedenfalls gut an, Zitronengärtnerin in einem Nachtclub …
Magdalena musste grinsen, Bienen, warum nicht? Sie liebte den Geruch von Honig, wenn er aus der Honigschleuder in das Metallsieb über dem Eimer rann. Rudi hatte ein Bienenhaus hinten im Garten, sie stand gern neben ihm, unter weißem Hut und Schleier verborgen, und nebelte ihn mit dem Rauch aus der Imkerpfeife ein. Ohne Schutz, mit bloßen Händen, nahm ihr Großvater die Waben aus dem Kasten, während die Bienen angesäuselt vom Rauch der Pfeife aufflogen. Ein köstlicher Duft, der noch lange in den Kleidern und Haaren hing und auf ihrer Favoritenliste ganz oben, kurz vor gerade geschleudertem Honig, rangierte. Sie erhob sich und rief leise: »Ihr könnt weitermachen!« Prompt setzte eine der Grillen wieder ein, die anderen folgten. Magdalena lachte und pflückte von einem dornigen Zweig über ihrem Kopf feierlich die erste Zitrone ihres Lebens. Da fahre ich schon seit zwei Jahren mit dem Bus durch Italien, renne von einem Restaurant in das nächste, sehe Kunstwerke von Michelangelo und Botticelli, Amphitheater und wunderschöne Ansichtskarten-Landschaften und habe noch nicht mal eine einzige Zitrone vom Baum geerntet. Mit geschlossenen Augen schnupperte sie an ihr. Das Ding war irgendwie klebrig, Magdalena riss die Augen auf. Etwas Weißes mit Flügeln krabbelte ganz nah an ihrer Nasenspitze herum, hastig schleuderte sie die Zitrone von sich. Sie prallte mit einem trockenen Laut an einen Pinienstamm und fiel auf den Boden. Auch die zweite und dritte Zitrone ihres Lebens, die sie vom Nachbarbaum abpflückte, war von den kleinen Tierchen befallen. Zählend wanderte Magdalena zwischen den Bäumen umher. Nur zwei der acht Bäume schienen krank zu sein, ausgerechnet von denen hatte sie die Zitronen geerntet, an den Unterseiten der Blätter wimmelte es von den winzigen weißen Fliegen. Hoffentlich hatten sich die anderen noch nicht angesteckt. Sie schaute genauer nach. Keine Fliegen, dafür klebrige Blätter und weiße Flocken an den Astgabelungen und Blattadern. Magdalena nahm ein kleines Stöckchen vom Boden und versuchte eine der weißen Anhäufungen abzustreifen. Sie hatten ein schmieriges braunes Innenleben und schienen die Pflanzen auszusaugen. Mit einer Mischung aus Ekel und Faszination zermatschte sie noch weitere Flocken, aber irgendwann gab sie entmutigt auf. Selbst wenn sie zwei Tage so weitermachte, würde sie doch nie alle erwischen. Wie wurden die Bäume bewässert? Magdalena schaute sich um, konnte aber keine Wasserleitung entdecken. Es würde keine Hängematte und kein Bienenhaus geben. Der Zitronengarten starb an einer Invasion weiß geflügelter Tierchen und schmieriger Flocken und verdurstete obendrein. Sie pflückte ein Blatt und rieb es zwischen den Fingern, frisches Zitronenaroma entfaltete sich unter ihrer Nase.
»Tut mir leid, aber ich kann mich nicht um euch kümmern.«
Sie warf das Blatt weg.
»Da gibt es gerade Wichtigeres!«
Magdalenas Garten
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