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Um Nina nicht zu begegnen, schlich sie die
linke Treppe hoch und huschte durch die Büsche, und tatsächlich,
dort vorne stand er, schaute sogar in ihre Richtung, als ob er sie
erwartet hätte. Noch nie hatte sie sich so sehr gefreut, ihn zu
sehen, wie in diesem Moment. Am liebsten hätte sie sich ihm in die
Arme geworfen, aber dann beschränkte sie sich auf ein knappes
Ciao!, schaute kurz in seine Augen und richtete den Blick
dann schnell auf die Hacke in seiner Hand. Sie würde sich
zusammenreißen und es ihm nicht erzählen, noch nicht, erst in zwei
Tagen, wenn sie eine positive Nachricht von Antonello Puccianos
Freund Edmondo erhalten hätte.
»Komm, ich zeige dir was«, sagte Matteo. Das hatte
Roberto auch zu ihr gesagt - und was war dabei herausgekommen? Ein
Nachmittag mit Schüssen aus einer Pistole, Champagner und nachher
Sex in seinem Bett. Ringkampf, nasse Küsse auf ihrem Bauchnabel,
auf ihrem Po. Orgasmus - ja, sein Penis in ihr - nein. Bei Matteo
würde es definitiv etwas anderes sein, was er ihr zeigen wollte
…
»Wo kommst du her? Du siehst irgendwie aus, als
würdest du ein schlechtes Gewissen haben.«
»Ich? … Nein!« Ich versuche nur, Roberto in deiner
Gegenwart aus meinem Kopf zu verdrängen, fügte sie unhörbar hinzu,
und Ninas Tagebücher aus meinem Kopf zu verbannen, ich
schleiche durch den Park, um ihr nicht in die Arme zu laufen, und
versuche, bei all diesen Bemühungen ganz normal zu wirken.
»Hier«, sagte er stolz, »wenn du dich da oben auf
die Mauer setzt … ach, mach’s einfach mal!«
»Wo ist die Brombeerhecke? Du hast alles
weggemetzelt!«
»Sieht gut aus, oder?« Magdalena nickte, die Mauer
überragte sie um einen Kopf. Erst jetzt, befreit von den
dunkelgrünen Ranken, sah man die schönen Natursteine, die die
gleiche Tönung wie die Orangerie hatten. Irgendwo dahinter,
zwischen den angrenzenden Bäumen des ansteigenden Berges, verlief
der Maschendrahtzaun.
»Wusstest du, dass Pflanzen sich das merken?«,
fragte sie. »Da gab es mal einen Test, man hat Studenten in einen
Raum mit mehreren Pflanzen geschickt, und einer der Studenten hat
eine der Pflanzen ausgerissen und zerstückelt.« Matteo schaute
skeptisch auf die roten Kratzer der Brombeerranken, die seine
Unterarme zierten. »Hinterher haben die anderen Pflanzen den
›Mörder‹ unter den Studenten erkennen können. Sie gerieten in
Panik, wenn er den Raum betrat. Hat man an ihren Impulsen messen
können.«
»Die zittern jetzt also vor mir … Ich tue euch ja
nix, versprochen.« Er machte eine kleine Verbeugung in Richtung der
Zitronenbäume.
Magdalena lachte und legte ihre Hände auf die
Kante, Matteo zeigt ihr die Vorsprünge, auf die sie ihre Füße
setzen sollte. Gut, dass ich Hosen trage, dachte sie und kletterte
rasch die Mauer hoch, drehte sich zu ihm um und ließ die Beine
baumeln.
»Und? Was siehst du?« Erwartungsvoll schaute er zu
ihr nach oben.
»Du hast das eingefallene Mauerstück da hinten
wieder aufgeschichtet!«
»Ja, aber was siehst du sonst noch?« Was sah sie
sonst noch? Von hier konnte man mühelos über die Zitronenbäume
hinwegschauen, in einiger Entfernung waren die Pinien mit ihren
nadeligen Zweigen voller Zapfen zu erkennen, dort unten lag
unsichtbar die Straße.
»Zitronenbäume? Baumstämme? Pinien?«
»Ja, aber was noch? Rutsch ein bisschen weiter nach
rechts und schau doch mal genauer hin!«
Zwischen den Ästen der Pinien gab es an einer
Stelle ein Loch, zwei oder drei dicke Zweige fehlten, und durch das
entstandene Fenster konnte man - weit weg - das Meer sehen!
»Die hast du aber nicht extra abgesägt!«
»Grundstück mit Meeresblick!« Matteo strahlte und
kletterte neben Magdalena auf die Mauer. »Nächstes Mal bringe ich
zwei Polster mit!«, sagte er.
»Man könnte ein Café aus dem POLO
machen!«
»Aber kein Nachtcafé. Nur tagsüber. Hier sitzen und
mit den Beinen baumeln!«
»Ein Café mit einem kleinen Verkauf.«
»Was willst du denn hier verkaufen?«
»Blumen? Honig? Zitronengelee?«
»Zitronengelee!? Gibt es so was?«
Magdalena zuckte mit den Schultern. »Wenn nicht,
erfinden wir es. Die Touristen würden es kaufen.«
»Es muss auch ohne gehen, also nicht ohne
Touristen, aber man dürfte nicht gezwungen sein, jeden Tag die
Busse vorfahren zu lassen.«
»Stimmt«, sagte Magdalena, »zu viele von denen
zerstören den Charme recht schnell … Stell dir vor, ein paar Tische
hier unter den Bäumen, ein Brunnen plätschert …«
»Du mit deinem Brunnen!«
Magdalena grinste ihn von der Seite an: »Und da
hinten auf
dem flachen Kiesstück unter den Pinien richten wir eine Bocciabahn
ein, mit einer Umrandung aus Holz, so wie in Frankreich.«
»Kannst du Bocce spielen?«
»Bocce? Du meinst Boccia! Nicht besonders gut, aber
ich mag das Geräusch, wenn die Kugeln aneinanderklackern.«
Magdalena schüttelte den Kopf. »Aber das ist ja alles utopisch, das
kostet bestimmt ein Vermögen.«
»Die Pacht ist nicht das Problem, ich habe schon
mit Tiziano darüber gesprochen.«
»Tiziano?«
»Tiziano Mazzei, der sindaco, der
Bürgermeister.«
»Der, der nicht sehen kann.« Wie unnötig, das zu
erwähnen.
»Er war jetzt schon zweimal drüben im Club
64, wir haben uns unterhalten, er gefällt mir wirklich! Er will
Elba vor dem Massentourismus retten.«
»Ist ihm dieses Jahr aber noch nicht gelungen. Ich
habe das Gefühl, es werden immer mehr Autos, die Strände sind auf
einmal so voll …«
»Und wir haben noch nicht mal August, was glaubst
du, was dann erst los ist! Tiziano setzt auf kleinere
Kulturprojekte, einheimische Produkte, Entspannung.« Er schaute auf
seine Armbanduhr.
»Dio! Schon gleich drei. Ich habe Nina
versprochen, sie zu begleiten.« Er ließ sich an der Mauer hinunter,
Magdalena blieb sitzen.
»Matteo?«
»Ja?«
»Warum ist Nina so … so abweisend? Ist sie sauer
auf mich? Ich verstehe nicht, was mit ihr los ist.« Das stimmte,
auch bevor sie in den Tagebüchern gelesen hatte, hatte sich Nina
merkwürdig ihr gegenüber verhalten.
»Komm erst mal runter.« Er reichte ihr die Hand,
Magdalena sprang und landete federnd zwischen den Stümpfen des
ehemaligen Brombeerdickichts. Zusammen durchquerten sie den
Zitronengarten.
»Das erkläre ich dir später, weil ich jetzt
losmuss, aber eins kann ich dir sagen: Es hat nichts mit dir zu
tun! Absolut nichts!«
Wenn ich in ihren Tagebüchern schnüffle und sie
mich dabei erwischt, hat das garantiert etwas mit mir zu tun.
»Heute ist ein schlechter Tag für Nina. Schlechtes
Datum. Auch für mich. Ich tue etwas, damit sie es übersteht.«
»Es vergisst?«
»Nein«, er kratzte sich am Kopf, »dass sie erst
recht daran denkt!« Sie waren vor der Treppe zur Straße
angekommen.
»Kann ich nicht mitkommen?«
»Das geht nicht«, er legte seine Hände auf ihre
Schultern, Magdalena berührte mit ihren Handflächen ganz leicht
seine Brust. Wenn man uns so sähe, könnte man denken, wir wären ein
Paar, schoss ihr durch den Kopf. Sein Herz klopfte schnell unter
ihrer rechten Hand.
Ȇbermorgen bin ich wieder hier, dann reden wir
noch mal über das Zitronengelee«, sagte sie, drehte sich um und
sprang die Stufen hinab.