EPILOG
Winter 1947
Britisches Mandatsgebiet, Palästina
Die Sonne brannte auf den Dizengoffplatz, das moderne Herz von Tel Aviv. In der Oase, die man in seiner Mitte angepflanzt hatte, schoben gut gekleidete Paare Kinderwagen vor sich her oder entspannten sich auf Bänken im Schatten der Palmen, während sie den Springbrunnen betrachteten. Hinter der Grünanlage führten lange, von eckigen weißen Gebäuden gesäumte Boulevards zur türkisfarbenen Küste. Eine glitzernde, neue Metropole.
Kraus holte tief Luft. Sein Schädel brannte. Er hatte schon wieder seinen Hut vergessen. In den acht Jahren, in denen er hier im Nahen Osten war, konnte er sich nicht einmal an die Hälfte von den Dingen erinnern, an die er denken sollte: die Sonne, die Gefahr eines Hitzschlages, dass der Dizengoffplatz nicht der Kurfürstendamm war. Dass der Januar hier wie der August in Nordeuropa war. Doch obwohl er sich manchmal wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlte, empfand er Tel Aviv als weit unbeschwerter und freier als Berlin.
Jedenfalls das, was von seiner alten Heimatstadt übrig war.
Was nicht heißen sollte, dass ihm der Ärger nicht hierher gefolgt wäre. Er rückte vorsichtig in den Schatten, während er darauf wartete, die Ben-Ami-Straße zu überqueren. Falls es jemals zu einem ausgewachsenen Konflikt käme, würde es diesmal kein Entkommen für ihn geben, das wusste er. Denn diesmal würden seine beiden Söhne darin verwickelt sein.
Erich und Stefan waren in die Haganah eingetreten, die Untergrundarmee des südlichen Palästina. Erich war fünfundzwanzig und nannte sich jetzt Eitan. Er arbeitete beim Geheimdienst. Aus dem gleichen Holz geschnitzt wie sein Vater, wurde er ausgebildet, davon war Kraus überzeugt, um hinter den feindlichen Linien zu operieren. Stefan hatte seinen Namen in Zvi geändert, war dreiundzwanzig und beim Palmach, der Elite-Einsatztruppe. Kraus war unterwegs, um sich mit ihm zu treffen. Es war eines der seltenen freien Wochenenden, das Zvi im Beit Keshet bekam, einem geheimen Trainingslager in der Wüste Galiläa.
Aber als er an einem neuen Kiosk, nur einen Block von ihrem Treffpunkt entfernt, vorüberkam, blieb Kraus wie angewurzelt stehen. Mein Gott! Ihm brannte die Kehle, als er das Gesicht anstarrte, das auf den Morgenzeitungen abgebildet war.
Er kaufte eine Ausgabe, ließ sich auf eine Bank sinken und las. Die Bildunterschrift bezeichnete sie als Ilse Koch, aber dieses pockennarbige Gesicht war unverwechselbar. Diese toten, grauen Augen. Sie hatte es also tatsächlich vor all den Jahren durch das verqualmte Treppenhaus geschafft.
Und jetzt war ihre Niedertracht weltweit bekannt geworden.
Er überflog den Artikel in der Ha’aretz. Nachdem es dem jüngsten der Köhler-Geschwister in jener Nacht des Jahres 1930 gelungen war, aus dem brennenden Turm auf dem Viehhof zu entkommen, war sie über die Grenze nach Polen geflohen und hatte sich im deutschsprachigen Danzig versteckt. Bis zum Frühling des Jahres 1933, als ihre Gesinnungsgenossen die Macht in Deutschland übernahm. Dann war Ilse zurückgekehrt, hatte einen SS-Oberst geheiratet und war die Frau des Kommandanten eines der größten Konzentrationslager geworden. Jetzt erwartete sie und ihren Ehemann der Prozess wegen Kriegsverbrechen. Ilse Koch war angeblich so unvorstellbar grausam gewesen, dass sie von denen, die sie gefoltert hatte, den Beinamen »die Hexe von Buchenwald« bekommen hatte. Kraus wurde schwindlig, als er weiterlas und erfuhr, dass man ihr unter anderem vorwarf, Insassen wegen ihrer Tätowierungen lebendig die Haut abgezogen und daraus ...
Er ließ die Zeitung auf seinen Schoß sinken.
Mein Gott, dachte er.
Sie hatte daraus Handtaschen und Lampenschirme gefertigt.
Im Café Esther drängten sich unter den Deckenventilatoren die aus aller Welt stammenden Einwohner von Tel Aviv. Es gab ägyptische Juden mit breiten Lippen. Polnische Juden mit hellblauen Augen. Laut lachende rumänische Juden, die mit Juwelen behängt waren. Und Jeckes, so wie ich selbst, dachte Kraus, deutsche Juden, pedantisch und anspruchsvoll, die ihren Tee nicht aus Gläsern, sondern aus chinesischem Porzellan nippten.
Er überzeugte sich mit einem kurzen Blick davon, dass sein Sohn noch nicht da war, setzte sich an einen Ecktisch und versuchte, sich zu entspannen. Aber er konnte die hässlichen Erinnerungen an die Köhler-Geschwister nicht verscheuchen. Erst letzten Monat hatte die Presse in Tel Aviv die Zeugenaussagen bei den Vorverhandlungen für die Tribunale abgedruckt, die gegen die Naziärzte in Nürnberg vorbereitet wurden. Darin hatte er zu seinem Entsetzen Informationen über das gruselige Schicksal von Ilses älterer Schwester Magda gefunden. Deren Schicksal ironischerweise ihr perverser Geschäftspartner, der wahnsinnige Dr. von Hessler, geteilt hatte.
Beide waren in der Psychiatrie des Krankenhauses von Berlin-Buch gelandet, Station sechs, für die kriminellen Wahnsinnigen. Von Hessler war es, wenig überraschend, Mitte der dreißiger Jahre gelungen, sich aus der geschlossenen Anstalt herauszureden. Er hätte es sogar fast geschafft, seinen Turm des Schweigens neu aufzubauen. Denn etliche Leute des neuen Regimes unterstützten seine Arbeit nachdrücklich und wollten, dass er sie in einem weit größeren Maßstab fortsetzte. Doch der einäugige Doktor war offenbar nicht in der Lage gewesen, den Mund zu halten, was die abwegige Rassentheorie der Nazis anging, so dass er bei Ausbruch des Krieges wieder in die Psychiatrie eingeliefert wurde.
Im Winter 1940 nahmen alle Insassen von Station sechs, Berlin-Buch, an der sogenannten Aktion T4 für die Geisteskranken teil. Patienten, die man als »lebensunwert« einstufte, wurden in als Duschen getarnte Räume geführt und dort mit Kohlenmonoxid vergiftet. Genau die Art von billigem, sauberen Tod, die von Hessler selbst so begeistert für seine menschlichen Versuchskaninchen vorgesehen hatte, war ihm schließlich selbst zuteil geworden. So wie später Millionen anderer Menschen.
Kraus warf einen Blick auf seine Uhr. Er war zwar ungeduldig, machte sich aber keine Sorgen wegen Zvis Verspätung. Er hatte mittlerweile gelernt, dass im Nahen Osten die Uhren anders tickten. Er trank einen Schluck Tee und dachte daran, wie lang sich jede einzelne Sekunde dieser dreiundzwanzig Stunden angefühlt hatte, in denen von Hessler seinen Sohn in der Gewalt gehabt hatte. Der geniale Wissenschaftler mit seinem zerstörten Stirnlappen hatte zumindest den Erinnerungsverlust korrekt vorausgesagt: Bis zum heutigen Tag konnte sich Erich an kein Detail seiner Entführung erinnern. Dafür jedoch hatte er niemals vergessen, was die Winkelmanns getan hatten, damals an jenem Morgen auf dem Balkon. Das hatte für sie den Anfang vom Ende ihres Lebens in Deutschland markiert. Für sie alle.
Während die Ventilatoren sich langsam drehten, glitten die freundlichen, hellen Augen von Dr. Weiß durch Kraus’ Erinnerung. In jenen letzten Jahren vor der Machtübernahme durch die Nazis hatte der Vizepräsident der Berliner Polizei Joseph Goebbels achtundzwanzig Mal wegen Verleumdung vor Gericht gezerrt und jeden Fall gewonnen. Es hatte nichts gefruchtet. Goebbels wurde einer der mächtigsten Männer im Dritten Reich, und Weiß, eine wahrhaft große Gestalt in der Geschichte der deutschen Polizei, sah sich genötigt, aus dem Land zu fliehen, um sein blankes Leben zu retten. Er hatte sich in ein unwürdiges und rechtloses Exil nach England geflüchtet und war der Vergessenheit anheimgefallen.
»Slicha. Inspektor Kraus, nehme ich an?«
Eine schlanke Frau Mitte dreißig stand plötzlich vor Kraus und umklammerte ihre Handtasche. Ihr dunkles Haar wurde von einem gelben Kopftuch gebändigt.
»Der Oberkellner bittet mich, Ihnen auszurichten, dass Zvi angerufen hat.« Sie runzelte mitfühlend die Stirn. »Es tut mir leid. Er schafft es heute doch nicht.« Sie senkte den Blick, verlegen, wie es schien, weil sie eine so bedauerliche Nachricht überbringen musste.
»Danke. Sehr freundlich von Ihnen, es mir zu sagen.« Kraus nickte. Er wusste sehr gut, dass sich bei Zvis Arbeit Pläne so schnell änderten wie der Wind. Die Frau ging jedoch nicht. Stattdessen zog sie einen Stuhl heran und setzte sich an seinen Tisch.
»Deshalb bin ich aber nicht gekommen, Herr Inspektor. Ich habe Ihnen nur die Nachricht von diesem Mann dort übermittelt.«
Moishe, der Oberkellner, den Kraus sehr gut kannte, nickte vom Eingang des Cafés zu ihm herüber.
»Verstehe«, erwiderte Kraus. Ihm fiel jetzt erst auf, wie schön sie war. Ihr sehniger Körper und ihre braune Haut erinnerten ihn an eine Wüstengazelle, die selbst auf dem felsigsten Untergrund sicheren Halt fand. »Wie kann ich Ihnen dann helfen, Mrs. ...?«
»Ich bin Sozialarbeiterin bei der jüdischen Behörde. Ich heiße Leah.« Ein Hauch von Lavendel wehte zu ihm herüber. »Es ist etwas passiert, worüber ich mit Ihnen reden muss.« Die olivbraunen Augen warfen einen kurzen Blick über ihre Schulter. »Vor einer Woche.« Sie richteten sich wieder auf Kraus. »Einfach so«, sie schnippte mit den Fingern, »hat eine meiner Klientinnen all ihre Erinnerung verloren. Sie war noch da, als sie schlafen ging, aber als sie am nächsten Morgen aufwachte, hat sie niemanden mehr erkannt, nicht einmal sich selbst.«
»Wie schrecklich! Hatte sie vielleicht einen Schlaganfall? Sie haben sie doch zu einem Arzt gebracht?«
»Behandeln Sie mich bitte nicht so herablassend«, gab die junge Frau gereizt zurück.
Diese Leah, das hatte Kraus bereits begriffen, war eine Sabra, eine Jüdin, die im Heiligen Land geboren war und die man nach dem Kaktus benannte, der überall und selbst auf dem trockensten Boden wuchs. Er war außen stachelig und innen angeblich süß.
»Sie war bei den besten Spezialisten. Bei mehr als einem. Alle sind sich einig, dass es kein Schlaganfall war. Und außerdem sind sie offenbar auch alle einer Meinung, dass sie keinerlei Erklärungen dafür haben.«
»Und warum kommen Sie zu mir?«
Die Frau lächelte schwach, und der Blick ihrer dunklen Augen wurde weicher. »Weil ich gehört habe, dass Sie auf solche Dinge spezialisiert sind. Auf medizinische Rätsel. Bitte fahren Sie mit mir nach Beersheva und sehen sich die Frau wenigstens einmal an.«
Etwas in dem schimmernden Blick ihrer Augen berührte eine Saite in Kraus’ Herz und versetzte ihn erneut in die Vergangenheit. Er konnte praktisch immer noch diesen frischen Herbsttag im Park in Berlin spüren. Das Geburtstagsessen von Opa Max. Diese furchteinflößende Parade der Hitlerjugend. Als sie nach Wilmersdorf zurückgekommen waren, hatte er Vicki zum Essen ausgeführt. Den Rest des Abends hatten sie zu Hause verbracht und zum ersten Mal seit Wochen wieder miteinander geschlafen. So zärtlich. So leidenschaftlich und verspielt. Und wie dankbar er im Rückblick war, dass er keine Ahnung gehabt hatte, dass es das letzte Mal gewesen sein sollte.
Am nächsten Morgen hatte Vicki sich mit einer Freundin in einem Café am Joachimsthaler Platz getroffen. Sie hatte in der Nähe eines Fensters gesessen, als ein Lastwagen gegen den Bordstein krachte und umkippte. Eine Scherbe des zerborstenen Fensters hatte ihre Halsschlagader durchtrennt, und sie war innerhalb von nicht einmal einer Minute verblutet.
»Beersheva ist nicht mein Zuständigkeitsbereich, Leah. Tut mir leid.« Kraus wandte den Blick ab.
Sie griff über den Tisch und berührte sanft seinen Arm. »Es wird nicht lange dauern. Bitte. Es ist wichtig. Sie lebt mitten in der Wüste in einer Siedlung, die vom Feind umzingelt ist, und es gibt dort nur sehr wenig Schutz. Es wäre sehr einfach für jemanden gewesen, durch den Zaun zu schleichen und ... na ja, ich weiß nicht, was sie getan haben.«
»Sie wollen sagen, Sie glauben, jemand hat ihr das angetan?«
Leah zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig. »Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Es gibt keinen besseren Kriminalinspektor in ganz Palästina, das weiß jeder. Das ist doch ein ganz fürchterliches Schicksal, wenn man darüber nachdenkt, hab ich recht, Inspektor? Ich meine, was sind wir ohne Erinnerungen?«
Darüber wollte Kraus aber gar nicht nachdenken. So schlecht klang Amnesie in seinen Ohren nicht. Es gab viele Dinge, von denen er sich manchmal wünschte, dass er sich nicht an sie erinnern könnte.
Er wollte, dass Leah wegging. Plötzlich war er so müde. Er hatte zu viel in dieser Welt gesehen. Es gab keinen Platz mehr in seinem Herzen, in seinem Kopf für noch mehr traurige Geschichten. Dann aber machte er den Fehler, ihr in die Augen zu sehen, und er erschauerte, als er die Berührung dieses immergleichen, dunklen Strudels spürte, in den die Vorsehung ihn stets aufs Neue zu stoßen schien.