ACHTUNDZWANZIG
Beim Frühstück wurden sie von einem lauten Klopfen an der Balkontür überrascht. Kraus öffnete, den Mund voller Toast, und sah sich Otto gegenüber, der ihn grimmig anblickte. Irmgard und Heinz standen direkt hinter ihm.
»Wir würden gerne mit euch allen reden, hier draußen, wenn es geht.«
Kraus zuckte mit den Schultern, als er Vicki und die Jungs holte. Keine Ahnung, was er will, sollte das heißen. Dann sah er das von Rot, Gold und Schwarz umrahmte Hakenkreuz an Ottos Revers und wusste, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Schließlich standen sich die beiden Familien auf dem mit Efeu überwucherten Balkon gegenüber.
Kraus konnte sich noch daran erinnern, wie die Winkelmanns eingezogen waren, ein paar Monate nach Vicki und ihm. Sie hatten auf eben diesem Balkon gesessen, in einer heißen Sommernacht mit einer Flasche Cognac, und hatten sich kennengelernt. Zwei junge Paare mit Jungen im selben Alter. Otto sparte, um sein Papierwarengeschäft eröffnen zu können, und Irmgard unterstützte ihn, indem sie als Näherin arbeitete. Vicki war mit Erich zu Hause und erklärte sich bereit, auf Heinz aufzupassen, und zwar fünfeinhalb Tage pro Woche. Fast zwei Jahre lang.
»Wie ihr wisst«, Otto schluckte, »haben sich in diesen letzten Monaten viele Dinge geändert.« Er wischte sich Schweißperlen von der Stirn, obwohl es draußen kühl war. »Wir alle mussten uns der neuen Situation anpassen.« Er hustete. »Um zu überleben. Um mir selbst die einfachste Arbeit zu sichern, musste ich den Nationalsozialisten beitreten, wie du ja sehen kannst. Nachdem ich das getan habe, ist mir vieles, das mir vorher unbegreiflich erschien, plötzlich vollkommen klar geworden. Wir sind jetzt seit etlichen Jahren Nachbarn, ich darf wohl sagen Freunde, aber die Umstände lassen das nicht mehr länger zu. Es ist folglich meine Pflicht, euch darüber zu informieren, dass die Winkelmanns hiermit ihre Beziehung zu der Familie Kraus abbrechen.«
Vicki und Kraus sahen sich an, als überlegten sie, ob das ein Geburtstagsscherz war. »Beziehungen abbrechen?«
Kraus bemerkte, dass Irmgard ihre Finger in den Efeu an der Balkonwand hakte. Er erinnerte sich daran, wie sie einmal beim Efeuschneiden von der Trittleiter gefallen war und sich die Schulter verrenkt hatte. Da er im Krieg viele solche Verletzungen erlebt hatte, hatte er ihre Schulter rasch einrenken können. Sie hatte sich aus Dankbarkeit fast überschlagen, vor allem, weil sie deshalb keinen Arzt hatte bezahlen müssen.
»Wenn wir euch irgendwie beleidigt haben, Otto ...!«, stieß Vicki heiser hervor.
»Nein, nein.« Otto schüttelte den Kopf. »Ihr habt nichts getan. Es liegt an dem, was ihr seid. Ihr seid keine Deutschen. Ich meine, was euer Blut angeht. Die Leute treten jetzt scharenweise bei den Nazis ein, überall, selbst in diesem Mietshaus. Wir können es uns einfach nicht länger leisten, mit euch befreundet zu sein. So ist es eben.«
Normalerweise hätte Kraus unmöglich verstehen können, dass sich ein Mann wie Otto, der erst letztes Jahr Erich auf den Armen ins Krankenhaus getragen hatte, als der gefallen war und schrecklich blutete, sich so vollkommen dem politischen Druck beugen würde. Aber nachdem er dieses Spektakel im Sportpalast miterlebt hatte, verstand er, welche Kräfte hier am Werk waren. Jedenfalls, sagte er sich, handelte sein Nachbar aus Notwendigkeit, nicht aus Überzeugung.
»Also dann, Otto«, der Schmerz war deshalb nicht weniger intensiv, »welche Wahl haben wir, als eure Wünsche zu akzeptieren?« Kraus spürte, wie seine Augen brannten, während er einen Arm um seine Frau schlang und mit dem anderen seine Kinder umarmte. »Aber das gilt doch sicher nicht für die Jungs?«
»O doch.« Otto nickte nachdrücklich, während er einen Kloß im Hals weghustete. »Ganz besonders für die Jungs. Heinz wird keinerlei weiterer Kontakt mit Erich oder Stefan erlaubt.«
Heinz, der fast genauso in ihrer Wohnung aufgewachsen war wie in der seiner Eltern, versuchte die Wut zu unterdrücken, die seine pummeligen Wangen rötete, bis er es nicht länger ertragen konnte.
»Aber ich will das nicht!« Er hob den Kopf und heulte vor Trauer und Schmerz.
Irmgard drehte sich herum und schlug dem Kind mitten ins Gesicht. Der Junge wirkte wie versteinert. »Wir haben dir das alles bereits erklärt, Heinz.«
Erich keuchte vor Schreck, und Stefan fing an zu weinen.
Vickis Busen hob und senkte sich unter ihren schweren Atemzügen. »Irmgard«, sie drehte sich zu der anderen Mutter um. »Du kannst doch nicht einfach ...«
Das Gesicht ihrer Nachbarin wurde so hart wie Stahl. Ob Irmgard es glaubte oder nicht, ob sie es wollte oder nicht, ob sie es für gerecht hielt oder nicht: All das spielte keine Rolle mehr. Es war, wie es war. Und sie vollzog die Trennung ebenso rasch wie sie ein Hühnchen geköpft hätte.
»Es ist nichts Persönliches.« Sie riss einen langen Streifen Efeu von der Wand und hinterließ dadurch eine harte Demarkationslinie, wo jahrelang enge Verwobenheit geherrscht hatte. »Es ist eine Frage der Gesundheit.« Sie warf das Efeu über das Geländer. »Wir halten uns von euch fern«, sie wischte sich die Hände mit grimmiger Entschlossenheit ab, »wie wir uns von schädlichen Bakterien fernhalten würden.«