SIEBZEHN

Berlin, Juli 1930

Schwache Schreie erfüllten die Luft.

Aufgesogen von der aufgeregten Menge konnte Kraus die Jungs kaum festhalten. Es war Hochsommer. Seit Monaten hatte er pausenlos gearbeitet, und es war fantastisch, endlich einen Tag frei zu haben. Aber man konnte im Moment nicht vorsichtig genug sein. Vor allem, was seine Kinder betraf.

Sie gingen durch den Haupteingang und dann die terrassenförmige Freitreppe hinab. Er erinnerte sich daran, wie er schon als Kind diese Stufen heruntergestiegen war. Der Lunapark war eine Berliner Institution. Auf dem Platz unter ihnen schleuderte der Springbrunnen immer noch Wasser und Gischt fünf Stockwerke hoch in den Himmel, dahinter schwebten die Kabinen der Drahtseilbahn über den schimmernden Halensee und die Tretboote, die wie riesige Schwäne aussahen. Es gab Riesenräder. Wasserrutschen, Achterbahnen und kleine Schaubuden. Es hätte kaum einen stärkeren Kontrast zu der Welt geben können, aus der sie gerade kamen.

Es war ein schrecklicher Sommer. Und er war erst zur Hälfte verstrichen. Die Wirtschaft wollte sich einfach nicht erholen. Die Börsenkurse fielen immer weiter in den Keller. Geschäfte machten bankrott. Zeltstädte sprossen überall empor. Der Reichstag hatte sämtliche einschneidenden Sparpläne Brünings abgelehnt, woraufhin der Kanzler den Reichstag aufgelöst und Neuwahlen im September angesetzt hatte. Der Wahlkampf verlief ausgesprochen gewalttätig. Die radikalen Parteien der Linken und Rechten unterstrichen ihre Wahlkampfparolen mit Schlagringen und Knüppeln. Die Nazi-Braunhemden und die Kommunisten der Rotfront trugen ihre Meinungsverschiedenheiten auf den Straßen, in den Parks und U-Bahnen aus. Die Schupo, die Schutzpolizei, war vollkommen mit der Aufgabe überfordert, diesen Revierkämpfen einen Riegel vorzuschieben, was nur die öffentliche Meinung festigte, Berlin würde immer unregierbarer.

Und dass es nicht gelang, den Kindermörder zu fangen, verstärkte das allgemeine Ohnmachtgefühl noch.

Rund um die zentrale Plaza hing der Duft von gebrannten Erdnüssen in der Luft. Fahnen wurden geschwenkt, Clowns jonglierten. Die Leute strömten in alle möglichen Richtungen. »Achterbahn! Achterbahn!« Wenigstens die Kinder waren sich einig.

Kraus hasste Achterbahnen. Er hatte nichts gegen Geschwindigkeit, solange man sich horizontal fortbewegte. Trotzdem würde er seine Kinder auf keinen Fall alleine fahren lassen. Während sie in der Schlange anstanden, um Billets zu kaufen, sah er, wie froh Erich und Stefan waren, dass sie Heinz Winkelmann mitgenommen hatten; sie kamen immer besser zurecht, wenn ihr dicklicher, gutmütiger Kumpel bei ihnen war. Trotzdem machte sich Kraus Gedanken über Heinz’ Vater. Otto schien keine Zeit mehr zu haben, mit ihm zu plaudern, eilte im Flur mit einem knappen Nicken an ihm vorbei und hatte kein einziges Mal nach den Fortschritten in seinem Fall gefragt, was ihm so gar nicht ähnlich sah. Kraus vermutete, dass er immer noch deprimiert war, weil er sein Geschäft verloren und die niedere Arbeit in der Poststelle hatte akzeptieren müssen. Vielleicht war er auch verlegen, weil Kraus ihn neulich morgens tränenüberströmt überrascht hatte. Immerhin hatte Winkelmann im Beisein von Vicki und ihm selbst Heinz gegenüber so ein Tamtam darum gemacht, dass Deutsche so etwas nicht täten. Vicki hatte jedoch angemerkt, sie hätte auch bei Irmgard eine leichte Abkühlung festgestellt.

Wenigstens amüsierten sich die Jungen köstlich. Auf der Achterbahn setzte sich Kraus mit Stefan auf eine Bank, während Erich und Heinz vor ihnen einstiegen. Als die Wagen mit einem Ruck losfuhren und den langen Anstieg zum ersten Sturz in die Tiefe nahmen, schien sich Kraus’ Magen zu verknoten. Er wäre lieber auf dem Bauch durchs Niemandsland gekrochen, als die Kurven und Volten dieses Dings zu ertragen. Doch als sie die Spitze erreichten und über die Kuppe glitten und die Kinder dabei vor Entzücken kreischten, kniff Kraus nur seine Augen zusammen und betete, dass sie sein Unbehagen nicht bemerkten. Wie würde das aussehen: Einer der bekanntesten Kriminalbeamten von Berlin hatte mehr Angst in der Achterbahn als seine Kinder.

Nach Freksas Tod stand Kraus plötzlich im Scheinwerferlicht.

Sein Ruf war vollkommen wiederhergestellt.

Weil er bereits früher mit dem Finger auf den Centralviehhof gedeutet hatte und es außerdem auch anfangs sein Fall gewesen war, hatte der Kommissar ihn schließlich mit der Leitung betraut. »Sie wollten ihn, Kraus? Bitte, er gehört Ihnen. Vermasseln Sie’s bloß nicht!« Ganz Berlin kannte jetzt seinen Namen, und er wurde immerhin mit einem Mindestmaß an Respekt behandelt ... sogar von seinen Kollegen. Doch das Auf und Ab dieser blutigen Nervenprobe blieb ebenso ekelerregend wie diese Fahrt mit der Achterbahn. Und mindestens genauso schwierig waren die Folgen, die diese Entscheidung bei Vicki ausgelöst hatte.

Wer auch immer Freksa ermordet hatte, er war ungeschoren davongekommen. Bis jetzt. Das Hackbeil, mit dem der Kriminalbeamte zerteilt worden war, wies nicht die geringsten Fingerabdrücke auf, und auch auf der Straße vor dem Schlachthaus hatten sie keine verwertbaren Reifenspuren gefunden. Je häufiger Kraus jedoch an das Motorengeräusch zurückdachte, desto überzeugter war er, dass er in dieser Nacht einen Lieferwagen gehört hatte. Vielleicht den des Ochsen. Der Mann jedenfalls war wie vom Erdboden verschluckt. Wiederholte Razzien auf dem Markt der freien Händler hatten trotz Massenverhören nur wenig Informationen gebracht, dafür jedoch das Problem vervielfältigt. Denn der große Markt war zwar kleiner geworden, dafür jedoch waren kleinere Märkte an einem halben Dutzend anderer Orte aus dem Boden gesprossen. Man konnte unmöglich alle überwachen. Als die Achterbahn eine steile Abfahrt hinabjagte und ihren nächsten Aufschwung zum unausweichlich folgenden Abgrund nahm, klammerte sich Kraus unwillkürlich an den Sitz. Erich und Heinz vor ihm winkten wie verrückt mit den Armen. Hoch, hoch, dann über die Kuppe ... Kraus wurde flau im Magen. Er hasste dieses Ding wirklich.

Einige Minuten später saß er im Autoscooter, der von einer merkwürdigen, expressionistischen Landschaft aus schiefen Gebäuden, Bäumen und Bergen umgeben war, die einen glauben machen wollte, man sähe alles doppelt. Kraus liebte es, schnell zu fahren, solange er derjenige hinter dem Volant war, und half Stefan, so gut er konnte, Erich und Heinz einzuholen. Aber sie schafften es nicht ganz. Wie bei der Hirtin, dachte er ... sie ist immer ein kleines Stück außerhalb meiner Reichweite. Sie war überall und nirgends. Seit Wochen bekam er Berichte, denen zufolge man diese rothaarige Entführerin angeblich gesehen hatte, aber es war nichts wirklich Hieb- und Stichfestes dabei. Selbst die Hohepriesterin Helga behauptete, sie hätte sie gesehen. Und wo? In einem Traum.

»Meine Laken waren schweißgetränkt, als ich aufwachte«, hatte sie ihm am Telefon gestanden. »Es war wirklich entsetzlich. Aber ich kann mich an keine einzige Einzelheit erinnern, Herr Kriminalsekretär.«

Großartig. Selbst die Träume waren unpräzise.

Manchmal fragte er sich, ob diese Ilse tatsächlich existierte oder ob sie einfach nur ein Phantom des kollektiven Unbewussten war.

Als sie ins Spiegelkabinett gingen, tobten die Jungs durch die Irrgänge und versuchten, sich gegenseitig in dem Labyrinth aus Spiegelungen zu finden. Selbst Kraus wusste nicht mehr genau, was real war und was nur so aussah.

Wie ganz Berlin hatte auch er den Begriff Kinderfresser akzeptiert, mit dem der Übeltäter bezeichnet wurde, der eine ganze Reihe von Entführungen und Morden auf dem Gewissen hatte. Ob diese Ilse, die Hirtin, mehr tat, als die Kinder für ihn von der Straße zu holen, wusste er nicht. Aber er war davon überzeugt, dass diese Operation nicht nur von einer einzelnen Frau durchgeführt wurde. In den letzten zwei Monaten waren weitere sechs Jungen verschwunden. Obwohl die ganze Stadt aufpasste.

Und ganz gewiss war es nicht Ilse gewesen, die Freksa in zwei Teile gehackt hatte.

Zu Mittag aßen die Jungs Schnitzel mit Sauerkraut, während Kraus bei Kaffee blieb. Er dachte an das lange Gespräch, das er mit seinem Cousin beim Passahfest geführt hatte. Nach dem Seder, dem traditionellen Abendmahl, hatte er sich mit Kurt in sein kleines Arbeitszimmer zurückgezogen, während die Jungs in Erichs Zimmer gegangen waren, um an dem Flugzeug des Roten Barons weiterzubasteln. Verblüffenderweise waren sie eine knappe Stunde später herausgekommen, um es vorzuführen. Es war komplett fertig. Es hatte nur ein bisschen Fleiß gebraucht, und schon erhob sich dieses einzigartig schöne Flugobjekt in die Luft wie ein merkwürdiger, dreiflügeliger Vogel. In der Zwischenzeit hatte Kurt eine Theorie über einen noch bizarreren Vogel umrissen, einen Verbrecher, dem darüber hinaus jegliche sonderbare Schönheit abging.

»So wie der Ordnungszwang möglicherweise gegen das innere Chaos hilft«, er hatte die Brille abgenommen und sah Kraus grimmig an, »könnte der Verkauf von Menschenfleisch, dieses Arrangieren der Knochen, ihre Nutzung, sehr gut eine Illusion von Nützlichkeit erzeugen.« Er blickte Kraus an, ohne zu blinzeln. »Und es ist mehr als wahrscheinlich, dass diese Handlung einen ebenso tief sitzenden Glauben an ihre oder seine eigene Nutzlosigkeit kompensiert.«

Armut könnte da ebenfalls eine Rolle spielen.

Und ganz gewiss besaß die Person auch Erfahrung, wie man Häute bearbeitete und daraus Leder herstellte.

Die berühmte Straße der Attraktionen bestand aus kleinen Buden, von denen jede gruselige Blicke auf Absonderlichkeiten bot, wie man sie vom Zirkus her kannte. Schwertschlucker. Feuerschlucker. Die Jungs wollten unbedingt die bärtige Dame sehen, aber das untersagte Kraus. Er würde nicht zulassen, dass sie irgendeine unglückliche Frau angafften.

Da die freien Fleischhändler sich jetzt auf viele verschiedene Märkte verteilten, hatte er seine Taktik geändert und konzentrierte seine Beobachtung nun direkt auf den Viehhof, vor allem auf das Areal, wo es von Gerbern und Knochensiedern nur so wimmelte.

Dort hatte er eine ziemlich seltsame Begegnung gehabt.

Nach etwa einer Woche angestrengten Brütens über Karten und Zulassungspapieren hatte er einen Haufen Einsichten in eine Welt gewonnen, von deren Existenz er kaum etwas geahnt hatte. Gekleidet in den langen weißen Kittel eines Viehhof-Inspektors war er in der Lage, tagelang überall herumzuschnüffeln, konnte mit Leuten reden und erfuhr, wie ihre Betriebe funktionierten. Ein Geflecht aus miteinander verbundenen Gassen beherbergte Dutzende von verschiedenen Firmen, von denen die größten, die Salzereien, ganze Häuserblocks in Beschlag nahmen. Er hatte etliche dieser riesigen Fabriken inspiziert, die teilweise Hunderte von Arbeitern beschäftigten. Lastwagen um Lastwagen mit frischen Kuhhäuten wurden jeden Tag aus den Schlachthäusern angeliefert. Sie wurden in riesigen Fässern eingeweicht, die Fleischreste wurden von Hand abgeschabt, dann wurden sie in großen Trommeln gewälzt und zum Trocknen aufgespannt. Schließlich wurden sie zwischen gigantische Mangeln geschoben, gepresst, gefaltet und dann ausgeliefert. Aus dem Leder machte man alles Mögliche, von Uhrarmbändern bis hin zu Polstermöbeln.

Nicht ganz so groß, aber erheblich übelriechender, waren die Talgschmelzen, die Tierfett zu Kerzentalg verarbeiteten. Fässer mit dem stinkenden Fett wurden nach jeder größeren Schlachtaktion angeliefert und zu Kerzen, Seifen, Rasiercremes und Lippenstiften weiterverarbeitet. Die Gelatinefabriken machten etwas ganz Ähnliches; hier wurden Häute, Sehnen, Bänder und Hufe gekocht, und diese Flüssigkeit fand sich in so ziemlich allem wieder, angefangen von Nahrungsmitteln bis hin zu Shampoos. Hörner, Federn, Federkiele, Borsten. Nichts wurde verschwendet. Es gab sogar Firmen, die für die Kosmetikindustrie Öle aus der Plazenta von Kühen herstellten. Etliche Darmschleimereien verarbeiteten Tierdärme zu dünnen, zähen Sehnen für Musikinstrumente oder Tennisschläger oder zu Fäden für die Chirurgie. Diese Firmen interessierten Kraus besonders.

Eines Tages nun stieß er in einer besonders stinkenden Gasse, in der einige kleine Betriebe lagen, die Gelatine und Knochen verarbeiteten, auf einen Mann in einem weißen, blutbespritzten Kittel. Kraus musste zweimal hinschauen. Der Bursche hatte eine schwarze Arbeitermütze auf dem Kopf, hockte breitbeinig auf einem Schemel und rauchte. Kraus glaubte eine Sekunde, es wäre der Ochse. Der Mann war beinahe ebenso groß und genauso furchteinflößend, aber je schärfer Kraus hinsah, desto sicherer war er, dass es sich nicht um den Ochsen handelte. Im Gegenteil, in ihm wuchs zunehmend die Überzeugung, dass es nicht einmal ein Er war. Zufällig trafen sich ihre Blicke, und Kraus sah, wie ein dunkler Schatten über das fleischige Gesicht huschte, bevor die Person sich zur Seite drehte.

»Verdammt heiß, was?«, sagte Kraus in dem Bemühen, ein Gespräch zu beginnen.

Die Antwort bestand aus einem unartikulierten Grunzen. Die Stimme der Person klang heiser und männlich. Auch die Gesichtszüge wirkten derb. Selbst die Hände, die von mehreren blutroten Schichten permanent bedeckt zu sein schienen, waren so dick und kräftig wie die eines Mannes. Nur fand sich nicht das geringste Härchen auf den Unterarmen. Und an der Kehle war auch kein Adamsapfel zu sehen.

»Muss hart sein, hier zu arbeiten«, meinte Kraus. »Für eine Frau. Sie sind die Erste, die ich im Viehhof gesehen habe.«

Ein Anflug von Furcht huschte über ihr Gesicht. Ihr Blick zuckte hin und her, als sie sich davon überzeugte, dass niemand in der Nähe war. Dann sah sie ihn unsicher an.

»Ich will Ihnen nichts Böses«, beruhigte Kraus sie.

Sie kam eindeutig nicht aus Berlin, das hörte er, als sie schließlich antwortete. Ihr Akzent war so stark, dass er sie kaum verstehen konnte. Sie musste irgendwo aus der Provinz kommen. Aber Kraus konnte die Furcht nicht übersehen, die in ihren Augen brannte. Sie war ganz eindeutig nicht die Hirtin; Helga, die Hohepriesterin, hatte ihre ehemalige Gespielin als schlank und attraktiv beschrieben. Diese Frau hingegen hatte eine dicke, rote Knollennase und aufgeblähte Wangen, die von feinen Äderchen durchzogen waren. Gott allein wusste, was sie aß, um eine solche Körperfülle zu erlangen. Sie ist wirklich eine Laune der Natur, dachte Kraus. Abstoßend und zugleich mitleiderregend.

»Ich arbeite seit dem Krieg hier.« Die runden, glasigen Augen sahen ihn an, mit einem Blick, der eindringlich um Mitleid flehte. »Als die Männer an der Front waren.«

Kraus wusste, dass es in jener Zeit die Frauen gewesen waren, die Berlin über Wasser gehalten hatten. Sie hatten in den Fabriken gearbeitet, Straßenbahnen gefahren. Und auch im Viehhof geschuftet. Und sie mussten ihre Arbeit gut gemacht haben, denn in der Stadt war niemand verhungert.

»Ich wollte meine Arbeit nicht verlieren, als der Krieg zu Ende ging, also habe ich mich als Mann ausgegeben. Bitte, Herr Inspektor, ich stehe ganz alleine auf der Welt ... und ich muss mich um meine kleine Schwester kümmern. Melden Sie mich nicht.« Sie faltete die fleischigen Hände zwischen den fetten Knien, als würde sie beten.

Sie tat Kraus leid. Warum sollte man einer Frau nicht erlauben, die gleiche Arbeit zu erledigen wie ein Mann, wenn sie dazu in der Lage war? Er notierte sich ihren Namen, ihre Arbeitsstelle und ließ sich auch ihre Sozialversicherungsnummer geben, nur um so zu tun, als wäre er wirklich offiziell hier. Aber er erklärte, sie solle sich keine Sorgen machen. Solange sie ordentlich registriert wäre, versicherte er ihr, wäre ihr Geheimnis bei ihm sicher. Als er jedoch am nächsten Tag die Personalregister der Reiniger-Gelatine-Werke durchsah, wo sie angeblich arbeitete, konnte er den Namen, den sie angegeben hatte, nirgendwo finden. Und ihre Versicherungsnummer war ebenfalls falsch.

Auf der gigantischen Treppe, auf der man wie bei einem Erdbeben hin und her geschleudert wurde, wenn man sie herunterging, mussten die Jungs so lachen, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Kraus wurde an sein Leben in den letzten Monaten erinnert: Jeder Schritt musste neu ausbalanciert werden.

Freksas Tod hatte ganz Berlin erschüttert, und man erwartete von seinem Nachfolger, dass er in die Fußstapfen des besten Schnüfflers der Kripo trat. Über Nacht wurde Kraus zu einer kleinen Berühmtheit. Die Presse verfolgte ihn. Der Bürgermeister von Berlin hatte ihm seine Aufwartung gemacht. Er hatte noch nie so viel Aufmerksamkeit erfahren, war noch nie mit so vielen Erwartungen konfrontiert worden. Andererseits hatte er jedoch endlich auch Zugang zu bestimmten grundlegende Dingen bekommen. Zum Beispiel hatte er jetzt einen Partner.

Ein paar Tage, nachdem er ihm den Kindermörder-Fall übertragen hatte, war Kommissar Horthstaler mit Kraus’ neuem Assistenten hereinmarschiert, Gunther. Eine Giraffe von einem Jüngling, dreiundzwanzig Jahre alt. Er lief Kraus schon bald wie ein Entenküken hinterher. Gunther war ein Junge vom Lande, der Berlin noch nie gesehen hatte, bis er auf die Polizeiakademie ging, und es war beinahe unmöglich, ihn nicht zu mögen. Manchmal wirkte Gunther allerdings auch ziemlich lächerlich. Zum Beispiel, als sie nach draußen gingen und sich sein absonderlich langer Hals in alle Richtungen gleichzeitig zu drehen schien, weil ihn die Gebäude, der Verkehr und alles andere faszinierten. Vor allem die Mädchen. Er stolperte schon über seine großen Füße, wenn er eins auch nur ansah.

Bei der Arbeit jedoch war Gunther geschickt und eifrig. Sein Enthusiasmus kannte keine Grenzen. Kraus musste ihn praktisch auffordern, mit dem Grinsen aufzuhören. Weshalb nach der Hälfte der ersten Woche die mürrische Miene auf dem langen Gesicht unmöglich zu übersehen war. Es war nach dem Mittagessen. Als Kraus ihn nach dem Grund für seine schlechte Laune fragte, antwortete Gunther mit entwaffnender Ehrlichkeit.

»Stimmt es, Herr Kriminalsekretär, dass Sie ein ... ein Jude sind?«

Noch 1930 bestand Deutschlands ländliche Bevölkerung zum größten Teil aus Bauern, die kaum des Lesens und Schreibens mächtig waren. Gunther war noch nie mit einem Juden in einem Raum gewesen, ganz zu schweigen davon, dass er einen kennengelernt hätte. Aber natürlich wusste er einiges über sie. Die Juden hatten nicht nur Gottes Sohn getötet, sondern waren auch zu überheblich, um selbst jetzt, nach all den Jahrhunderten, an ihn zu glauben. Es waren faule, skrupellose Schwindler, Diebe und Perverse. Sie hatten die russische Revolution und die große Depression verursacht. Und sie hatten sich im Krieg gegen das Vaterland gewendet, sich mit ihren Brüdern weltweit verschworen, Deutschland zu besiegen und zu demütigen.

Kraus hatte nicht die Energie, zwei Jahrtausende Hass zu bekämpfen. Andererseits wollte er den Jungen auch nicht verlieren. Er hatte zu lange auf einen guten Assistenten gewartet. Also lud er Gunther zum Abendessen in die Beckmannstraße ein. Der Junge wusste nicht genau, was er davon halten sollte, aber die Aussicht auf gute Hausmannskost war so verlockend, dass er einwilligte. Am Ende des Abends war er so von Vicki und den Kindern fasziniert, dass er gar nicht mehr gehen wollte. Ganz besonders verblüfft war er, als die Jungs ihm Kraus’ Eisernes Kreuz zeigten, das er für Tapferkeit im Feld bekommen hatte. Dann kramte Vicki einen blauen Seidenschal hervor, den sie in Paris gekauft hatte, den Kraus jedoch nie trug.

»Hier, Gunther, der ist für Sie.«

Vicki versuchte mit aller Macht, sich mit einer Situation zu versöhnen, über die sie alles andere als erfreut war. Dass ihr Ehemann den Kindermörder-Fall übernommen hatte, machte alle glücklich, bis auf Vicki.

»Nehmen Sie ihn ruhig. Ich wette, Sie sehen hinreißend damit aus.«

»Sie schenken ihn mir?« Gunther konnte es nicht fassen.

»Na ja, mein Ehemann trägt ihn nicht.« Vicki tat, als wäre sie verzweifelt, obwohl Kraus nur zu genau wusste, was wirklich bei ihr unter der Oberfläche brodelte. »Er glaubt, alles, was heller ist als dunkelgrau, ist zu grell.«

»Und dabei habe ich immer gehört, dass Juden so geizig wären.«

Vicki stand wie vom Donner gerührt da, während Gunther den Schal entgegennahm.

Der Junge hatte nicht einmal bemerkt, welche Unverschämtheit er soeben von sich gegeben hatte. »Ich danke Ihnen sehr, Frau Kraus.« Er schlang sich den Seidenschal um den Hals und berührte ihn, als wäre er das goldene Vlies. »Ich habe noch nie ein so schönes Kleidungsstück besessen.«

Auf dem Weg zurück zur U-Bahn hatte Kraus das Gefühl, dass er seine Karten auf den Tisch legen musste.

»Hören Sie, Gunther, wir könnten in Zukunft in schwierige Situationen kommen, Sie und ich. Vertrauen kann in einer solche Lage den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Wenn Sie mein Assistent und Partner sein wollen, muss ich eins wissen: Können Sie mir mit hundertprozentiger Sicherheit erklären, dass Sie zu mir stehen?«

Gunther schien ganz offensichtlich von dieser direkten Frage überrumpelt.

»Na ja ...« Er hob die Hände und schien abzuwägen. »Meine Eltern haben mir beigebracht, einen Mann nach dem zu beurteilen, was ich sehe, nicht nach dem, was ich höre. Sie und Ihre Familie ...« Er streckte eine seiner riesigen, knochigen Hände aus. »... sind in Ordnung.« Er schüttelte Kraus fest die Hand. »Ich kann also sagen, ich stehe zu Ihnen, ja, Herr Kriminalsekretär. Hundertprozentig.«

Links, rechts, links, rechts. Die Treppe schaukelte, wie auch immer man darauf trat, bis am Ende ein Luftstrahl aus einem großen Gebläse aus dem Boden zischte und die Röcke der Damen aufbauschte, was erneut einen Lachanfall bei den Jungs auslöste.

Mittlerweile wollten alle unbedingt ins Wasser. Für zehn Pfennig Eintritt pro Person konnten sie Badeanzüge und Handtücher leihen und das berühmte Wellenbad besuchen, mit seinen tollen, künstlich erzeugten Wellen. In der Umkleidehalle hockte der dicke kleine Heinz vor Aufregung eine Ewigkeit auf der Toilette. Dann verklemmte sich auch noch sein Reißverschluss, und Erich und Stefan wurden ungeduldig, weil sie so lange warten mussten. Während Kraus, selbst müde und erhitzt, Heinz half, befahl er seinen Söhnen, draußen an der Tür der Umkleidehalle zu warten. Sie sollten sich unter gar keinen Umständen weiter entfernen und schon gar nicht zum Becken hinuntergehen. Offenbar war das keine besonders gute Idee von Kraus. Denn als er nur wenige Momente später mit Heinz aus der Umkleidekabine trat, waren Erich und Stefan nicht mehr da.

Er sah sich hektisch um. Menschenmassen strömten in die Umkleidehalle herein und aus ihr heraus und drängten sich auf den Wegen zum Becken. Bleib ruhig, sagte er sich. Sie können nicht weit gegangen sein. Aber wenn sein Magen schon auf der Achterbahn rebelliert hatte, dann wurde ihm jetzt fast speiübel. Normalerweise beruhigte es ihn, wenn die Jungs zusammen waren, diesmal jedoch konnte ihn dieser Umstand nicht wirklich trösten.

Auch wenn die Hirtin ein Schemen zu sein schien, wusste Kraus sehr genau, dass sie real war. Sie war unzweifelhaft irgendwo in Berlin unterwegs und ging ihrem schmutzigen Geschäft nach. Aber immerhin hatte er etwas erreicht, worauf er stolz sein konnte: Seit sich unter den Straßenjungen herumgesprochen hatte, dass sie nur zu dritt oder in noch größeren Gruppen herumlaufen sollten, war kein einziger von ihnen mehr entführt worden. Leider verschwanden jetzt dafür Kinder aus Waisenhäusern.

Die Regierung der Weimarer Republik rühmte sich ihrer fortschrittlichen sozialen Wohlfahrtprogramme, angefangen vom modernen Gesundheitswesen und der Strafrechtsreform bis hin zu Heimen für ledige Mütter. Um nichts jedoch wurde mehr Wirbel gemacht als um die Fortschritte des Jugendwohlfahrtgesetzes. Obwohl immer noch zahllose Kinder auf den Straßen hausten, gab es mittlerweile ein Dutzend Waisenhäuser rund um Berlin – für jene, die das Glück hatten, einen Platz zu ergattern. Jetzt hatten jedoch auch drei dieser Heime das Verschwinden von Jungen gemeldet.

Das Köpenick-Haus war typisch für diese Art von Heimen. In der freundlichen, sonnigen Einrichtung mit grünem Garten, Spielzimmern und Schlafsälen mit Pritschen und regelmäßig frischer Bettwäsche beaufsichtigten wachsame Frauen in weißen Uniformen die Kinder. Aber das Heim war voll bis unter die Dachsparren. Kinder in den Gärten, den Schlafsälen, den Laufgittern und den Krippen. Überall waren Kinder, in sämtlichen Räumen.

Schwester Wolff fasste die Situation zusammen. »Das Heim ist ganz ausgezeichnet. Das Problem ist nur, dass wir aus allen Nähten platzen. Und angesichts der Wirtschaftskrise tauchen hier nicht nur Kleinkinder auf, sondern auch Kinder im Schulalter. Sie werden in Bussen herangekarrt. Wir tun unser Bestes, aber es ist einfach unmöglich, sie alle im Auge zu behalten. Selbstverständlich schließen wir nachts die Türen ab, aber tagsüber kann jeder hier einfach hereinkommen.«

Am Tag zuvor waren zwei Jungen verschwunden, sieben und acht Jahre alt. Der Hausmeister behauptete, er hätte gesehen, wie eine Frau mit ihnen hinausgegangen sei, aber er habe sich nichts dabei gedacht, weil sie einen weißen Schwesternkittel getragen hatte. Kraus unterhielt sich ausführlich mit dem Mann.

»Gibt es noch etwas, woran Sie sich erinnern können, wie die Frau aussah, wie sie sprach oder wie sie sich benahm? Bitte versuchen Sie, sich selbst an die kleinste Einzelheit zu erinnern. Alles könnte ungeheuer wichtig sein.«

»Ich weiß nur, dass sie für ein so junges Mädchen ziemlich hässlich war.«

»Hässlich? Inwiefern hässlich? Und wie alt war sie, was schätzen Sie?«

»Etwa so alt wie meine Tochter, vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Dürr wie ein Besenstiel und mit einem aufgedunsenen Gesicht, mit vielen Pockennarben. Aber es waren ihre Augen, die sie so hässlich machten. Sie waren eiskalt. Sie lächelte mich zwar strahlend an, als sie an mir vorbeiging, tat charmant, aber unter der Fassade ...« Er schüttelte den Kopf. »Ach ja, außerdem hatte sie eine dieser kleinen, rotschwarzen Anstecknadeln am Kragen ihres Kittels, mit diesem Hakenkreuz.«

»Interessant. Ist Ihnen zufällig auch ihre Haarfarbe aufgefallen?«

»Ihr Haar? Wie gesagt, sie trug eine Schwesternhaube. Aber darunter ... tja, ich glaube, ihr Haar war rot.«

Zum ersten Mal hatte jemand die Hirtin wirklich gesehen.

Und so kam sie also an ihre Kinder. Jedenfalls war das eine Art und Weise. Als Schwester verkleidet. Die charmant sein konnte, wenn sie wollte. Und darüber hinaus Nationalsozialistin war.

Diese Information brachte Kraus einen großen Schritt weiter.

Nur war das kein Trost, solange er seine Jungs nicht finden konnte.

Er suchte die Menschenmenge ab, die zum Schwimmbad unterwegs war und von dort zurückkehrte, aber von seinen Jungs war nichts zu sehen. Stattdessen sah er Vickis Augen vor sich, die ihn düster und anklagend anstarrten.

»Warum? Warum?« Sie hatte in der Nacht, in der man ihm diesen Fall übertragen hatte, geweint. Sie hatten bereits im Bett gelegen, als er es ihr erzählt hatte. »Was treibt dich dazu, so etwas zu tun? Reicht die Gefahr, in die du dich normalerweise begibst, nicht aus? Brauchst du noch mehr davon? Willst du damit irgendetwas beweisen? Machst du es, weil du ein Jude bist?«

»Jemand läuft da draußen herum, Vic, und entführt kleine Kinder. Und dann tut er ihnen schreckliche Dinge an.«

»Du hast auch Kinder!«

Sie hatte keine Ahnung, dass er sich von Anfang an nicht an sein Versprechen gehalten hatte, sich von dem Fall fernzuhalten. Der Mord an Freksa machte es ihr auch nicht gerade leichter, sich mit der Vorstellung anzufreunden, dass er jetzt den Fall übernahm.

»Ich kann den Fall nicht ablehnen, Liebling. Und außerdem will ich das auch nicht, ehrlich gesagt. Also hilf mir. Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid? Du bist vollkommen verrückt, weißt du das?« Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und fuhr wütend in ihre Hausschuhe. »Du willst diesen Fall übernehmen, also gut. Ich gehe. Ich nehme die Jungs und fahre zu meinen Eltern. Es ist mir völlig egal, ob sie Schule haben. Ihr Leben ist mir wichtiger. Ich werde sie draußen bei meinen Eltern in einer Schule anmelden. Wenn du dich umbringen lassen willst, kann ich dich nicht daran hindern. Aber ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass du ...«

»Hör mir zu.« Kraus hielt seine Frau fest und versuchte sie sanft umzudrehen, damit sie ihn ansah. »Ich verstehe deine Angst, Vic, wirklich. Und ich glaube auch, dass sie durchaus berechtigt ist; wer auch immer diese Verbrechen begeht, ist vollkommen verrückt. Und gefährlich. Aber denk an den alten Spruch: ›Furcht macht den Wolf größer, als er ist.‹ Die Jungs sind so lange in Sicherheit, wie sie unter Aufsicht stehen. Von jetzt an werden wir dafür sorgen, dass sie nie alleine sind. Nicht eine Minute. An keinem Tag. Sie gehen nicht mehr zur Schule oder von dort nach Hause, ohne dass sie von einem Erwachsenen begleitet werden. Und sie werden auch nicht mehr unbeaufsichtigt spielen, weder im Park noch hier im Hof. Die Winkelmanns machen sicher mit, und wenn ich sie morgen früh zur Schule bringe, gehe ich zum Direktor und erkläre ihm die Situation. Bis dieser Fall gelöst ist, dürfen Erich und Stefan nie ohne Aufsicht durch einen Erwachsenen sein. Niemals. Aber du darfst nicht mit ihnen weglaufen, Liebling. Die ganze Stadt blickt hilfesuchend auf mich. Wenn ich jetzt meine Frau und meine Kinder wegschicke, um sie in Sicherheit ...«

Vicki drehte sich nicht zu ihm herum, aber sie griff auch nicht nach ihrem Morgenmantel.

»Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Aber ich brauche dich wirklich. Bitte, zieh dich nicht von mir zurück.«

Doch genau das tat sie. Sie verließ ihn nicht, aber sie zog sich von ihm zurück. Er spürte es an vielen kleinen Dingen und auf vielerlei Art und Weise. Und wenn jetzt Erich und Stefan etwas passierte ...

Wie jeder Neunjährige konnte Erich recht übermütig werden, vor allem nach einem langen Tag im Vergnügungspark. Es fiel Kraus schwer zu glauben, dass er seinen jüngeren Bruder irgendwo anders hin mitgenommen haben sollte als zum Schwimmbad – wie er es ihm ausdrücklich eingeschärft hatte. Er schnappte sich Heinz’ Hand und eilte den Weg zum Becken hinab, um nach den beiden Jungs zu suchen. Unglücklicherweise war das berühmte, gigantische Wellenbad des Lunaparks an diesem glühend heißen Sommertag bis zum Bersten mit Hunderten von Menschen vollgestopft. »Halt Ausschau nach ihnen, ja, Heinzi?«, bat Willi den Jungen, während sie zu der Stelle des Beckens gingen, wo das Wasser flach war.

Einen Moment lang ließ er zu, dass seine schrecklichsten Ängste in ihm aufwallten. Da spülte eine Woge von so düsterer Trauer über ihn hinweg, dass nur die pummelige Hand des Nachbarjungen verhinderte, dass er darin versank. Er musste sich zwingen, nicht loszurennen und Erichs Namen zu schreien. Es gab doch ganz sicher ein Lautsprechersystem im Schwimmbad? Erich und Stefan waren wohl kaum die ersten Kinder, die im Lunapark verlorengingen. Aber während Kraus das Becken absuchte, die zahllosen Köpfe in den künstlich erzeugten Wellen betrachtete, die Gestalten auf den Wegen, versank er immer tiefer in Verzweiflung. Er suchte nicht nur nach seinen Söhnen, sondern hielt gleichzeitig Ausschau nach einer rothaarigen Krankenschwester. Hatte man ihn vielleicht, wie Vicki fürchtete, ganz bewusst als Ziel ausgesucht? Nur, woher sollte irgendjemand wissen, dass sie heute hierher gegangen waren?

Während Kraus hektisch ein Gesicht nach dem anderen musterte, konnte er die Erinnerung an sein jüngstes Treffen mit Dr. Hoffnung einfach nicht abschütteln.

Nach all den Monaten hatte der Rechtsmediziner endlich die genaue Todesursache der Opfer in diesem ersten Jutesack feststellen können. Mittels einer hoch entwickelten Technik, die die Wellenlängen von Infrarotlicht benutzte, um für das bloße Auge unsichtbare Substanzen zu identifizieren, hatte Hoffnung winzige Flecken auf den Beweisstücken nachweisen können. Sieben, um genau zu sein: fünf auf den Knochen und zwei auf den Säcken. Bei diesen Flecken handelte es sich um Blut. Weitere Tests mit dem Chromatographie-Verfahren, bei dem winzige Fragmente dieser Proben solange erhitzt wurden, bis sie in einen gasförmigen Zustand übergingen, in dem man ihre Zusammensetzung messen konnte, hatten ergeben, dass dieses Blut gewaltige Mengen von HbCO enthielt, Kohlenoxydhämoglobin. Das deutete zweifelsfrei auf Ersticken als Todesursache hin, ein pathologischer Zustand, bei dem dem Körper Sauerstoff entzogen wurde, wie Hoffnung es formulierte.

Kraus hatte schon mehrmals mit Hoffnung zusammengearbeitet und noch nie erlebt, dass er sich so geschwollen ausdrückte. Jetzt jedoch war ihm ganz eindeutig so unwohl bei dem, was er zu sagen versuchte, dass er Kraus nicht einmal mehr ansehen konnte.

»In einfachem Deutsch, bitte, Doktor. Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Wie genau man es gemacht hat oder warum«, Hoffnungs Stimme klang brüchig, während er den Blick abwandte und auf das Mundstück seiner Pfeife biss, »kann ich natürlich nicht sicher sagen.« Er unterdrückte ein Aufstoßen. »Aber bevor ihr Fleisch vom Knochen gelöst wurde und bevor ihre Knochen gesiedet wurden«, er warf einen kurzen, unglücklichen Blick auf Kraus, »wurden diese Jungs durch Kohlenmonoxid vergiftet, Herr Kriminalsekretär. Mit anderen Worten, sie wurden vergast.«

Kraus glaubte schon, dass es nicht schlimmer werden konnte, aber Hoffnung wandte wieder den Blick ab.

»Außerdem hat die Spektralanalyse zahlreiche kleine Mulden an den Knochen gezeigt, die von menschlichen Schneidezähnen stammten. Wer auch immer das getan hat, hat zweifellos das Fleisch vom Knochen gelöst, aber er hat ebenfalls die Knochen abgenagt. Es besteht keinerlei Zweifel, Kraus. Wir haben es hier mit einem Kannibalen zu tun. Der Begriff Kinderfresser ist eine durchaus zutreffende Bezeichnung.«

Bei der Erinnerung an Hoffnungs Worte bekam Kraus beinahe einen Schwächeanfall. Verzweifelt drehte er sich vom Becken um und sah zurück zur Umkleidehalle. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte, um durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Erich und Stefan waren plötzlich wieder aufgetaucht und standen an der Stelle, an der er ihnen befohlen hatte zu warten. Sein Herz hämmerte heftig, als er Heinz hinter sich herzog. Sie wären nur kurz um die Ecke zum Trinkwasserbrunnen gegangen, verkündeten sie fröhlich, als Kraus sie erreichte. Sie hatten keine Ahnung, dass er sie überhaupt vermisst hatte. Er hätte sie beide erwürgen mögen.