ZWÖLF
»Yasna Haptanghaiti«, sagte Kraus an der Tür und hoffte inständig, dass er es richtig ausgesprochen hatte.
»Mazdaznan.« Der schnurrbärtige Mann mit dem roten Turban streckte zum Gruß die Hand aus.
Endlich. Kraus war drin.
Es war schon ein Wunder, dass er sich an diesen Zungenbrecher überhaupt erinnern konnte. Dass Pastor Braunschweig die Worte richtig ausgesprochen hatte, musste auf göttliche Intervention zurückzuführen sein. Es war halb fünf in der Früh und stockfinster, es war kalt, und ein frischer Wind wehte; Leute huschten die Stufen der Villa an der Bleibtreustraße hinauf, stießen dieselben verrückten Worte hervor und tauchten in die Mission Göttliche Strahlung ein. Wer hätte sich eine derartige Hexenstunde mitten im Herzen des vornehmen Charlottenburg vorstellen können?
Die Eingangshalle wurde nur von einer Handvoll Kerzen erleuchtet, deren Geruch Kraus Übelkeit bereitete. Er wartete einen Moment, bis seine Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Die Regale mit den Kristallen und mystischen Figürchen wirkten vertraut. Aber als er bei seinem Besuch zuvor durch das Fenster gespäht hatte, hatte er ganz offenbar das überlebensgroße Porträt auf der linken Seite übersehen. Meine Güte! Es zeigte die Hohepriesterin in all ihrer Pracht, wie sie auf einem Kampfwagen über das Ufer eines Flusses raste, vermutlich war es der Nil, jedenfalls nach der Sphinx über ihrer Schulter zu urteilen; es war eine dickbusige Teutonin mit Püppchenlippen und platinblondem, onduliertem Haar. Die flammende Bildüberschrift direkt über ihrem Kopf lautete: HELGA – WÄCHTERIN DER ANTIKE! Neben ihr wirkte der Wurstkönig beinahe bescheiden. In einer Ecke stand eine große Büste auf einem Marmorpfeiler, die direkt der nordischen Mythologie entsprungen zu sein schien: eine weibliche Kriegerin mit einem geflügelten Helm und langen Zöpfen. Eine Walküre ... mit Helgas Gesicht.
Nach dem, was Kraus in dem dämmrigen Kerzenlicht erkennen konnte, schienen die Mitglieder der Mission durchaus wohlhabend zu sein. Sie trugen maßgeschneiderte Anzüge und elegante Lederaccessoires und schienen zumeist in den mittleren Jahren zu sein. Obwohl einige wie Studenten wirkten. Und offenbar befanden sich auch etliche Künstler darunter. Jedenfalls sah Kraus keine Kinder, obwohl er die Anwesenden nicht allzu scharf mustern mochte. Seltsamerweise schien niemand sonderlich viel auf die anderen zu achten. Es herrschte Schweigen, während die Frauen im Gänsemarsch durch eine Tür gingen und die Männer durch eine andere.
Kraus holte tief Luft und folgte ihnen.
Er trat in eine dunkle Kammer und fand sich mitten in einer Gruppe von Männern wieder, die in verschiedenen Stadien der Nacktheit waren. Offenbar sollte man, den nackten Ärschen nach zu urteilen, sämtliche Straßenkleidung gegen eine der schwarzen Roben eintauschen, die an Haken an der Wand hingen. Diese bodenlangen Roben hatten, wie Kraus an den Gestalten sah, die sie schon angelegt hatten, Kapuzen, die das Gesicht fast vollkommen verhüllten.
War das wirklich notwendig?
Er hätte natürlich seine Dienstmarke zücken und verlangen können, sofort zu Helga geführt zu werden. Aber dann würde er niemals herausfinden, was hier vor sich ging. Willst du deine Zeitgenossen täuschen, kleide dich wie sie, sagte er sich. Er legte Schuhe, Krawatte und Jackett ab. Dann die Hose. Im letzten Moment jedoch streifte er seine Robe rasch über seine Unterwäsche, statt sich splitternackt auszuziehen, und atmete erleichtert auf, weil niemand es bemerkt zu haben schien. Er hatte nicht die Absicht, ohne Unterhose herumzulaufen. Aber keiner schien sich auch nur im Geringsten um ihn zu kümmern. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, eine Wendeltreppe am anderen Ende des Raumes hinaufzusteigen.
Kraus kam sich in diesem Aufzug, mit aufgesetzter Kapuze, vollkommen merkwürdig vor. Ein Jude in den Roben eines Mönchs. Doch er schloss sich dem Pilgerzug an und stieg die Wendeltreppe immer weiter empor, bis ihn plötzlich ein Gedanke wie ein Blitzschlag traf: seine Dienstmarke. Er hatte sie in seiner Jackentasche stecken lassen. Er drehte sich herum, entschlossen, sie zu holen, doch die Wendeltreppe hinter ihm war voller Männer. Wenn er keinen Aufstand verursachen wollte, musste er weitergehen.
Herr im Himmel! Jetzt fühlte er sich wirklich nackt.
Es ging vier Stockwerke hinauf, bis zu einem Penthouse unter dem Dach, einem dunklen Saal, der in rötliches Licht getaucht war. Es gab keine Stühle, sondern nur Kissen auf dem Teppichboden, der sich rasch mit sitzenden Gestalten füllte. Von einer Treppe gegenüber betrat eine andere Prozession in Kapuzen den Raum, nur dass ihre Roben weiß waren. Die Frauen. Auf der Stirnseite des Raums führten etliche Stufen zu etwas wie einem Altar, der jedoch hinter blauen Satinvorhängen verborgen war. Darauf stand ein geflügelter, goldschimmernd bemalter Löwe, der irgendwie babylonisch wirkte. Zwei Wände des Saales waren bemalt, die Szenen zeigten Sonnenaufgänge über den sieben Wundern der antiken Welt. Ziemlich kitschig und recht kostspielig. Kraus vermutete, dass die Mitgliedsbeiträge in diesem Club astronomisch waren.
Kurz vor fünf begann eine Trommel zu schlagen. Dann drang eine Flötenmelodie durch den Raum. Zuerst leise, dann immer lauter begannen die Versammelten zu singen: »Mazdaznan ... Mazdaznan ...«
Waren das dieselben Berliner, die er noch vor wenigen Minuten in ihrer maßgeschneiderten Garderobe über die Bleibtreustraße hatte hetzen sehen? Vielleicht ist es ja gar nicht so überraschend, dachte Kraus, bei all den verblüffenden Fortschritten in der drahtlosen Kommunikation, der Hirnforschung und der Atomphysik, dass sich welterfahrene Großstädter zum Primitiven und Mystischen hingezogen fühlen. Vor allem jetzt, wo ihnen sozusagen der Teppich unter den Füßen weggezogen wurde. Aber diese Gruppe hier hatte wirklich eine Grenze überschritten. Unwillkürlich dachte er an die verrückte Autofahrt vom Admiralspalast nach Hause, an dem Abend, an dem sie Josephine Baker gesehen hatten. Was hatte Dr. von Hessler wohl gemeint, als er sagte, er studiere die menschliche Furcht?
Um Punkt fünf Uhr wurden wie durch Magie die blauen Vorhänge vom Altar zurückgezogen. Helga, die Hohepriesterin, erschien; sie lag auf einem Bett und war in einen merkwürdigen, mehreckigen Käfig gesperrt. »Mazdaznan ... Mazdaznan ... Yasna Haptanghaiti ...« Die Trommel schien sie zu wecken; sie erhob sich langsam, den Rücken den Versammelten zugewandt, und hob theatralisch ihre beiden milchigweißen Arme. »Aurora!«, rief sie. »Göttin der Morgendämmerung ... öffne deine Pforten. Auf dass sich Shamesh erhebe!«
Kraus musste sich zusammenreißen, um nicht zu kichern. Das war noch schmieriger als eine Revue auf der Friedrichstraße. Sie stand zwar mit dem Rücken zum Publikum, doch er konnte erkennen, dass Helga keineswegs ein junges Mädchen, sondern eine reife Frau war, welche die Vierzig deutlich überschritten hatte. Ihre dralle Figur war in ein metallisch-goldenes Gewand gehüllt, das ihre Schultern und den größten Teil ihres Rückens freiließ. Sie strahlte Macht aus. Mit ihrer Stimme und ihrer Haltung.
Schließlich drehte sie sich um und stellte sich der Versammlung: eine als Sirene aufgemachte Domina. Ihr anzügliches Grinsen schien zu erklären: Was ihr hier seht, ist, was ich bin. Wenn es euch nicht gefällt ... dann leckt mich doch!
Hinter ihr zog eine mürrische Rothaarige, in der Kraus Brigitta erkannte, zwei weitere Vorhänge vor einer Fensterfront zurück und enthüllte ein Panorama von Berlin, das bis zum Tiergarten reichte und über das die ersten rosa Strahlen der Morgenröte glitten. Helga hob mit einem Arm eine Art Zepter und drehte sich zu der Stadt herum, wie eine Gestalt in einem bunten Kirchenfenster.
»Fackel des Himmels, Braut der Götter. Aus dir wurden Planeten geboren. Aus dir nährt sich das Leben. Im Namen von Titan, Helios und Ra heißen wir dich mit Mazdaznan willkommen!«
»Yasna Haptanghaiti!«, intonierte die Gemeinte. Was für ein verrückter Eintopf aus längst vergessenen Religionen, dachte Kraus. Obwohl er zugeben musste, dass Helga das Menü mit sehr viel Elan servierte.
»Die Alten«, sie breitete ihre weißen Arme aus, als wollte sie Beistand spenden, »glaubten, dass es jahrelange Übung erforderte, der Göttlichen Energie zu ermöglichen, alle vierunddreißig Kammern des Rückgrats hinabzuströmen und absolute Wonne zu erzeugen.«
Sie lächelte und legte den Kopf schief, um anzudeuten, wie wenig diese Alten gewusst hatten. Dann glitt ihr Blick liebevoll über die Anwesenden und richtete sich wie zwei magnetische Strahlen auf ... Kraus. Dem lief kurz ein Schauer über den Rücken.
»Heute verfügen wir natürlich über den kosmischen Kristall, der uns befähigt, in sehr kurzer Zeit das zu erreichen, was die Alten selbst mit so viel Mühe nicht erreichen konnten, nämlich spirituelle Ekstase. Ja. Innerhalb der Aura unseres Polyeders galvanisieren unsere neunundzwanzig heiligen Bewegungen die Seele direkt in den Kontakt mit der vierten Dimension.«
Helga führte ihre Herde in eine Reihe von Streckübungen und Beugungen und schrie dabei: »Strömt und fließt! Fühlt das Licht!«, während sich der Rhythmus der Trommeln intensivierte und die Bewegungen schneller wurden. »Denkt daran: Raum existiert nicht!« Schließlich, als das Licht der aufgehenden Sonne auf das rote Seidenbett fiel, verkündete sie: »Jetzt ist der Moment gekommen, den sich öffnenden Kosmos zu füllen.«
Kraus brauchte nicht lange zu warten, um ein genaues Bild von dem zu bekommen, was genau am Kosmos sich öffnen sollte.
Die Reihen aus weißen und schwarzen Roben an den gegenüberliegenden Wänden bildeten zwei parallele Linien, und die unterschwellige Spannung steigerte sich zu offener Erwartung.
»Das Ego ist tot, und die Erregung des Astralkörpers findet im engelsgleichen Zustand ihren Höhepunkt!«
Helga nickte dem ersten Mann und der ersten Frau in jeder Reihe zu. Sie ließen jeweils ihre Roben fallen und schritten langsam und förmlich zum kosmischen Kristall. Als sie den roten Seidendiwan erreichten und nackt hinaufkletterten, begannen die anderen zu singen: »Yasna Haptanghaiti ... Yasna Haptanghaiti ...«
Verrückt. Und irritierend. Aber nicht kriminell, jedenfalls soweit Kraus das erkennen konnte. Männer und Frauen stand es in diesem Land frei, zu tun, was sie wollten, solange es aus freiem Willen geschah. Ganz offenbar war auch der Vorwurf des Kindesmissbrauchs nicht gerechtfertigt, da sich hier kein einziges Kind aufhielt. Und nicht ein Tropfen Tierblut war zu sehen. Aber in zehn Jahren Ehe hatte er Vicki niemals betrogen, und er beabsichtigte nicht, jetzt damit anzufangen. Doch was für ein inspirierendes Spektakel, dachte er. Ein himmlischer Sexclub. Die Leute bezahlen dafür, anonym miteinander vögeln zu dürfen, und haben das Gefühl, sie würden dadurch erleuchtet.
Er bemerkte, wie Helga, die Hohepriesterin, Brigitta etwas zuflüsterte und dann durch eine Seitentür verschwand. Danke, Gott, dachte er. Mein Ausreisevisum. Er zählte bis zehn, raffte dann seine Robe hoch, damit er nicht stolperte, und schob sich durch die Tür hinter ihr her. Dann lief er auf Zehenspitzen eine lange Treppe hinab und kam sich dabei in seinem Aufzug ziemlich lächerlich vor. Aber er war fest entschlossen, diese Dame zu stellen. Immerhin war er ihr schon seit Monaten auf der Spur.
Am Fuß der langen, mit einem Teppich ausgelegten Treppe, am Ende eines dunklen Flures, sah er den Schimmer ihres blonden Haares, bevor sie durch eine Tür verschwand. An die Wand gepresst glitt er vorsichtig weiter und hätte fast den Stuhl gegenüber ihrem Zimmer nicht bemerkt, auf dem ein großer Mann mit Schnurrbart saß. Es war der rote Turban, der die Leute im Erdgeschoss hereingelassen hatte. Natürlich, ein Leibwächter. Kraus drückte sich in eine Nische.
Was jetzt?
Die Decke bebte förmlich von stöhnenden Paaren, die offenbar direkt über seinem Kopf kopulierten. Kraus brach der Schweiß aus. Er erinnerte sich noch sehr gut an Vickis Miene, als er erzählt hatte, dass er diesen Ort auskundschaften wollte. Wenn sie ihn jetzt sehen könnte ... Er wischte sich die Stirn ab und bemerkte in diesem Moment, dass er das Spiegelbild des Leibwächters in einer Messingvase auf der anderen Seite des Ganges beobachten konnte. Der schnurrbärtige Kerl saß einfach nur da und wippte mit dem Fuß. Ein schöner Schlamassel. Kraus konnte nicht wieder nach oben zurückgehen. Aber wie lange konnte er hier stehen bleiben, ohne gesehen zu werden? Schließlich griff das Schicksal ein. Der Mann mit dem Turban fand offenbar die sexuellen Vorgänge über ihm zu stimulierend, um sie weiterhin zu ignorieren, und begann, sich unter seiner Tunika selbst zu befriedigen. Kraus schloss die Augen. Jetzt drang Stöhnen von allen Seiten an seine Ohren und prüfte seine moralische Standfestigkeit. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis er einen erstickten Schrei hörte, dann ein Keuchen, und als er die Augen öffnete, watschelte der Turbanträger durch den Gang und verschwand in einem Raum, bei dem es sich vermutlich um ein Badezimmer handelte.
Kraus lief los und betete, dass die Tür der Hohepriesterin unverschlossen war. Bitte, Knauf, dreh dich! Abrakadabra. Der Knauf gehorchte.
Helgas Privatgemächer verzichteten auf jeglichen spirituellen Schmuck. Hier herrschten Chrom und Spiegel. Eine weiße Couch, ein weißer Teppich. Große Blumensträuße. Helga saß in einer weißen Seidenrobe vor ihrem Schminktisch und rauchte eine Zigarette.
Ihr Blick zuckte im Spiegel zu ihm hinüber.
»Konntest du nicht wenigstens warten bis ...« Sie wirbelte herum, und ihre Augen wurden fast doppelt so groß. »Was zum Henker ...?«
Ihr Oberkörper zitterte, und eine Sekunde lang begriff Kraus, dass sie Angst hatte, so als hätte etwas aus ihrer Vergangenheit sie endlich eingeholt. Es musste eine ziemlich wilde Vergangenheit gewesen sein. Denn aus der Nähe betrachtet sah Helga aus, als wäre sie ziemlich weit herumgekommen.
Kraus schob die Kapuze zurück. »Kriminalsekretär Willi Kraus, Kripo Berlin«, sagte er ruhig. »Ich will Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«
Helga atmete wieder. Aber sie wirkte nicht besonders glücklich.
»Sie haben vielleicht Nerven, einfach so hier hereinzuplatzen!« Sie griff nach der Zigarette und nahm einen langen Zug. Ihr Gesicht verschwand hinter einem Rauchschleier. »Sollten Sie sich nicht eigentlich mit einer Dienstmarke oder so etwas ausweisen können? Und wieso tragen Sie eine von unseren Roben?«
»Das war die einzige Möglichkeit, zu Ihnen vorzudringen. Entschuldigung. Meine Marke ist im Umkleideraum. Bei meinen Kleidern.«
»Verstehe.« Ihre Augen funkelten, als sie sich zum Spiegel herumdrehte. »Was ist denn so dringend, dass Sie sich wie ein Fuchs hier hereinschleichen müssen, Kriminalsekretär? Und wie sind Sie an Zoltan vorbeigekommen?«
In dem Moment flog die Tür auf, und Brigitta stürmte herein. »Helga, ich ...« Sie erkannte Kraus sofort. »Sie!« Brigitta schnaubte.
»Du kennst ihn?«, erkundigte sich Helga fasziniert.
»Na klar. Ein Schnüffler. War vor ein paar Monaten da ... und hat dir nachspioniert. Ganz sicher hat Braunschweig ihn geschickt.«
Jetzt hob Helga, aufrichtig belustigt, beide Augenbrauen. Sie zog erneut an ihrer Zigarette und blies den Rauch durch ihre Nase aus.
»Er ist kein Schnüffler, Brigitta, Liebchen. Das ist Kriminalsekretär Kraus. Von der Berliner Kriminalpolizei. Mach dir keine Sorgen. Ich komme schon mit ihm klar. Lass uns eine Weile allein.«
»Aber, Helga ...«
»Ich sagte, verschwinde!«
Brigittas knochiges Gesicht schien zusammenzufallen, dann schlug sie heftig die Tür hinter sich zu.
»Eifersüchtige Schlampe.« Helga drückte ihre Zigarette aus, lächelte Kraus an und lockerte mit einer kurzen Bewegung ihrer Schultern die Robe, so dass mehr Busen zu sehen war. »Also. Mein Exmann hat Sie geschickt? Wie faszinierend. Er scheint einfach nicht fähig zu sein, mich zu vergessen. Wie geht es dem Guten denn?«
»Er ist ein hoffnungsloser Trinker.«
»Sie belieben zu scherzen. Jetzt bin ich aber wirklich schockiert.«
»Hören Sie, es ist sehr wichtig, dass wir uns über eine Frau unterhalten, die sich die Hirtin nennt.«
Die Hohepriesterin wurde eine Spur blasser.
Langsam öffnete sie ein silbernes Kästchen und nahm eine weitere Zigarette heraus, klopfte sie fest auf das Metall, bevor sie sich zwischen die Lippen schob. »Was wollen Sie über sie wissen?«
Obwohl Helga sich so gelassen gab, konnte Kraus erkennen, dass ihre Hand leicht zitterte, als sie ein Streichholz anzündete.
»Ich muss sie finden.«
»Warum?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich hier die Fragen stellen.«
Helga zuckte mit den Schultern und verdrehte leicht die Augen. »Ich habe keine Ahnung, wo sie ist. Es ist schon lange her.«
»Wie lange?«
Sie lächelte schüchtern und spitzte ihre Püppchenlippen. »Ich glaube, es war Einstein, Herr Kriminalsekretär, der gesagt hat, die Zeit wäre relativ. Und dass sie in manchen Fällen sogar ...«
»Hören Sie, wenn Sie dieses Gespräch lieber im Präsidium fortsetzen wollen ...«
»Also wirklich. Sie brauchen mich doch nicht gleich zu schikanieren. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich weiß nicht, wo dieses Miststück ist. Ich habe sie seit Jahren nicht mehr gesehen.«
»Seit wie vielen Jahren?«
»Das weiß ich nicht. Zwei Jahre vielleicht. Mindestens zwei Jahre, wenn nicht sogar mehr.«
»Aber Sie wissen, wen ich meine?«
»Selbstverständlich weiß ich das.«
»Wie lautete ihr wirklicher Name?«
»Ilse.«
»Ilse und weiter?«
»Ich habe keine Ahnung. Sie hat ihn mir niemals genannt, und ich habe sie niemals danach gefragt.«
»Sie müssen doch jemanden kennen, der sie finden kann. Denken Sie nach.«
Helga starrte auf den Rauch, der von ihrer Zigarette aufstieg. »Nein. Ich kenne niemanden, der weiß, wo sie stecken könnte.«
»Wo haben Sie und Ilse sich kennengelernt?«
»Sagen Sie, Herr Kriminalsekretär, sind Sie immer so brüsk? Warum setzen Sie sich nicht zu mir und trinken ein Tässchen Tee? Und es macht Ihnen doch sicher nichts aus, wenn ich ein bisschen Gesichtscreme auftrage, während wir plaudern, oder? Ich weiß, dass ich das eigentlich nicht in Ihrer Gegenwart tun sollte, aber ich lege sehr viel Wert darauf, jung zu bleiben.«
»Ich habe Sie gefragt, wo Sie Ilse kennengelernt haben.«
»Zufällig bin ich ein Idealist.« Sie rieb sich die Creme mit kreisenden Bewegungen auf die Haut. »Ich neige dazu, die Welt in Pastellfarben zu malen, und sehe nur das Beste in jedem. Das führt dazu, dass ich allen möglichen Leuten behilflich bin, auch etlichen, bei denen ich das besser lassen sollte.«
»Gibt es einen Grund, warum Sie meiner Frage ausweichen?«
»Sie sind ja so einfühlsam. Ich fühle mich fast nackt vor Ihnen. Ich nehme an, ich bin etwas verlegen, weil ich Ilse in der Kirche kennengelernt habe. So, jetzt habe ich es ausgesprochen. Und zwar in der Kirche meines Ehemannes. Schon komisch, stimmt’s, wenn man zurücksieht? Ilse war ein Gemeindemitglied. Als ich weggegangen bin, kam sie mit mir.«
»Wie war ihre Beziehung zu ihr?«
Helga zuckte mit den Schultern. »Eine Weile standen wir uns sehr nahe. Bis ich dann weiterzog. Sie wurde eifersüchtig. Das ist die Hydra, gegen die ich unaufhörlich kämpfen muss. Mein Verlangen nach Harmonie ist so groß, dass ich generell Konfrontationen aus dem Weg gehe. Aber dieses Mädchen, na ja, ich musste irgendwann ihr gegenüber sehr deutlich werden. Sie hatte eine gemeine Ader.«
»Wie gemein?«
»Hässlich gemein.«
»Warum wurde sie die Hirtin genannt?«
»Weil sie uns Tiere gebracht hat, Herr Kriminalsekretär. Für Rituale. Obwohl wir so etwas schon lange nicht mehr machen.« Helga schien sehr viel Wert darauf zu legen, dass Kraus das verstand.
»Hatte sie Verbindungen zum Viehhof?«
»Zum Viehhof?« Helga hielt inne und starrte Kraus im Spiegel an. Ihr Gesicht glich einer weißen, geisterhaften Maske. »Was für eine seltsame Frage! Warum fragen Sie danach?«
»Weil man in Berlin normalerweise nur dort lebende Tiere bekommt.«
»Ah, verstehe. Ja, sehr gewieft. Könnten Sie diese Lampe für mich anmachen, Schätzchen?«
Er schaltete eine Lampe neben ihr an und bemerkte dabei den kleinen roten Indianer, der auf den Lampenschirm gestempelt war.
»Jetzt, da Sie es erwähnen ...« Helga fuhr sich mit der Hand über ihre Flanke. »Ich glaube, mich an so etwas wie einen Familienbetrieb erinnern zu können, der irgendetwas mit dem Viehhof zu tun hatte.« Sie hielt mit der Hand an ihrer Taille inne und kniff sich. »Aber fragen Sie mich bloß nicht, was genau das war. Finden Sie, dass ich fett werde, Herr Kriminalsekretär?«
Sie nahm Kraus’ Hand und legte sie auf ihren Körper.
Er zog sie zurück. »Ich bin glücklich verheiratet.«
»Ach ja?«
»Was an Ilse war so brutal und hässlich?«, drängte er sie.
Helgas Augen verdunkelten sich. »Ich glaube einfach nicht, dass sie eine besonders glückliche Kindheit hatte, das ist alles. Wehe, man gab ihr das Gefühl, sie wäre unerwünscht. Dann lief sie praktisch Amok.«
»Amok? Erklären Sie mir, was Sie damit meinen.«
»Erklären?«
»Ja. Ein Beispiel, Helga. Zum Beispiel ein besonderer Moment, bei dem Sie Ilse das Gefühl gaben, sie wäre unerwünscht.«
Helga warf ihm einen durchdringenden Blick zu und sank dann förmlich auf ihrem Stuhl zusammen, als hätte sie wirklich vor etwas Angst.
»Ein besonderer Moment. Mal sehen. Zum Beispiel gab es da den Tag, als ich ihr sagte, dass ich eine neue Ebene von spirituellem Verständnis erreicht hätte.«
»Ja ...?«
»Und dass ich deshalb keine lebenden Tiere für Rituale mehr brauchte.«
»Ich verstehe. Was hat sie daraufhin gemacht?«
»Was sie gemacht hat?« Helgas Augenlider flatterten plötzlich, ihre Finger zuckten in ihrem Schoß. »Sie wollen wissen, was sie gemacht hat?«
Sie sprang auf und fuhr zu Kraus herum. Ihr Gesicht war immer noch halb von Creme bedeckt.
»Ich werde Ihnen sagen, was sie gemacht hat.« Ihre Stimme stieg fast eine ganze Oktave an, als die Hysterie sie überflutete. »Sie hat gedroht, mich bei lebendigem Leib zu häuten. Können Sie sich so etwas vorstellen? Sie wollte mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen! Ich glaube nicht, dass man mir verdenken kann, Herr Kriminalsekretär, dass ich in diesem Moment zu dem Entschluss kam, es wäre an der Zeit, unsere Freundschaft zu beenden.«