ZWANZIG
Die Lehre mochte in Wien das Licht der Welt erblickt haben, doch es war Berlin, das die Freudsche Psychoanalyse sehr schnell vereinnahmt hatte. In dem Jahrzehnt nach dem Krieg war das Psychoanalytische Institut Berlin zum unbestrittenen internationalen Hort der Bewegung geworden. Dort arbeiteten so illustre Wissenschaftler wie Karen Horney, Theodor Reik, Wilhelm Reich und Melanie Klein, und das Institut hatte nicht nur die Erforschung des Unbewussten vorangetrieben, sondern war auch die erste Institution, die neue Generationen von Analytikern ausbildete. Sie bot sogar eine kostenfreie, klinische Behandlung für diejenigen an, die sie sich sonst nicht hätten leisten können. Kraus kannte mehr als eine gequälte Seele, von der er sich bei Gott wünschte, sie würde dieses Angebot annehmen.
Nachdem er in dem Gebäude an der Wichmannstraße angekommen war, stürmte er die Treppe hoch, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Sein hagerer, übersprudelnder Cousin Kurt war eine der aufstrebenden Berühmtheiten hier. Jetzt saß er in seinem sonnigen Büro, während Kraus ihn mit der letzten, entsetzlichen Wendung des Falles vertraut machte, lehnte sich dann in seinem Ledersessel zurück und nahm langsam seine Brille ab.
»Ich habe den Eindruck, Willi«, Kurt seufzte und zog ein Taschentuch heraus, »dass der Kinderfresser dadurch, dass er diese Kinder erst auseinandernimmt und dann wieder zusammennäht«, er putzte hingebungsvoll die Gläser seiner Brille, »wahrscheinlich versucht, seine eigene gebrochene Seele zusammenzuflicken. Du musst verstehen, ein wirklicher Schizoider besitzt keinen einheitlichen Persönlichkeitskern. Diese Leute drohen ständig auseinanderzufallen. Selbst die kleinste Zurückweisung kann sie in Stücke brechen lassen.«
Wehe, man gab ihr das Gefühl, sie wäre unerwünscht. Kraus hörte die Stimme der Hohepriesterin, als sie Ilse beschrieb. Dann lief sie praktisch Amok.
»Um einen solch verheerenden Angriff gegen seine Person abzuwehren, zum Beispiel die Anschuldigung, er wäre wertlos«, Kurt setzte die Brille wieder auf, »könnte ein Schizoider möglicherweise danach streben, eine Persönlichkeit zu entwickeln, die unübertrefflich nützlich ist. Im konkreten Fall würde er vielleicht so weit gehen, zwanghaft die Körperteile seiner Opfer in etwas von Wert zu verwandeln, in Essen oder Kleidung. Höchstwahrscheinlich ist das eine ritualisierte Wiederholung der Qualen, die er selbst einst erduldet hat. Ich vermute, unser Mörder muss sich als Kind gefühlt haben, als wäre er praktisch in Einzelteile zergliedert. Als würde er bei lebendigem Leib gefressen. Obwohl«, er rieb sich besorgt das Kinn, »wenn tatsächlich mehr als eine Person in diese Angelegenheit verwickelt sein sollten, unterminiert das meine These möglicherweise ein wenig.«
Nicht unbedingt, dachte Kraus. Zum Beispiel, wenn diese Leute Geschwister sind.
Der Ochse hatte gesagt, die Taschen wären von seiner Schwester hergestellt worden.
In zwei Jahren harter Arbeit.
»Das hier sind keine Zwangsjacken-Fälle, Kurt. Diese Leute laufen da draußen frei herum und betreiben eine Art von Geschäft. Sie operieren dabei direkt vor unserer Nase, und das seit Jahren. Ich habe das Gefühl, dass sie möglicherweise sogar verwandt sein könnten: Bruder und Schwester.«
»Das wäre höchst ungewöhnlich.« Kurts Ledersessel knarrte. »Aber ganz gewiss nicht außerhalb des Bereichs des Möglichen. Es gibt sehr viele Schizoide, die sich nach außen hin als engagierte, interaktive Persönlichkeiten geben, Willi. Darum geht es ja gerade. Sie wirken interessiert, sehen einen ganz normal an. Innerlich jedoch sind sie vollkommen distanziert von allem ...« Kurt beugte sich vor und kniff hinter seinen sauberen, klaren Brillengläsern die Augen zusammen. »Die äußere Realität flößt ihnen nicht nur Angst ein, Willi. Sondern sie ist für sie wirklich lebensbedrohlich. Ihr Sozialverhalten ist reiner Überlebensinstinkt. Animalische Mimikry.«
»Hermann Braunschweig?« Vicki ließ das Tagesblatt sinken. »Ist das nicht dieser arme Pastor, von dem du mir erzählt hast?« Sie reichte ihm die Zeitung und deutete auf eine schwarz umrandete Traueranzeige. Kraus warf einen Blick darauf. Offenbar hatte Baden-Baden Pastor Braunschweig nicht helfen können. Seine Beerdigung war für den heutigen Donnerstag angesetzt. Wie traurig. Kraus fühlte sich seltsam verpflichtet, dorthin zu gehen.
Als er einige Zeit später am evangelischen Friedhof in Pankow aus seinem klapprigen Opel stieg, hielt neben ihm ein langer, weißer Daimler. Hinter dem Steuer saß Zoltan mit seinem roten Turban. Dem Fond entstieg Hohepriesterin Helga in einem schwarzen, mit Perlen bestickten Kleid. Trotz ihrer dunklen Sonnenbrille bemerkte er, dass sie über seinen Anblick erleichtert zu sein schien. Sie verzog ihre glänzenden Lippen zu einem Lächeln.
»Kraus, Sie habe ich hier wahrlich nicht erwartet.« Sie gestattete ihm, sie über den mit Efeu überwucherten Weg zwischen den Gräbern zu begleiten.
»Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen, Hohepriesterin.«
»Nun.« Sie warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, während sie vorsichtig mit ihren hochhackigen Pumps durch das Efeu stakste. »Der Tod transzendiert wohl selbst eine Scheidung.« Ihr vertraulicher Ton ließ darauf schließen, dass Kraus mittlerweile in die Rubrik guter alter Freund aufgestiegen war. »Ich war elf Jahre lang mit Braunschweig verheiratet.« Sie holte tief Luft, offenbar weil sie ihre Aussage selbst kaum glauben konnte. »Das heißt, eigentlich nur sechs Jahre. Die restliche Zeit war ich mit einer Schnapsflasche verheiratet.« Sie blieb stehen und drehte sich zu Kraus herum. Die Perlenreihen auf ihrem Kleid hüpften. »Hören Sie, Herr Kriminalsekretär, ich möchte Ihnen etwas gestehen ... diese Geschichte mit dem Lampenschirm neulich abends ...« Sie legte die Hand auf ihr Herz und schluckte. »Das war wirklich zu viel. Selbst für mich.«
Sie nahm die Sonnenbrille ab, und zum ersten Mal sah Kraus echte Gefühle in ihren Augen. »Ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Ich habe Angst davor, dass sie mir auflauert, wohin ich auch gehe. Deshalb mache ich den Laden dicht. Ich gehe sozusagen auf Tournee. Und zwar so weit weg von Ilse und Deutschland, wie ich kann, nach Südkalifornien. Wäre doch gelacht, wenn ich der guten Schwester Aimee dort drüben nicht ein bisschen Konkurrenz machen könnte.«
Kraus konnte ihr diese Entscheidung wirklich nicht verübeln.
Sie gingen weiter zwischen den Gräbern entlang. Auf halbem Weg hakte sie sich bei ihm ein.
»Wirklich«, sie zuckte mit den Schultern und schenkte ihm ein fast mädchenhaftes Lächeln. »Sie sind der netteste Kriminalbeamte, den ich je kennengelernt habe; zu schade, dass Sie so glücklich verheiratet sind.«
An Braunschweigs Grab gesellten sie sich zu der kleinen Gruppe von Trauernden. Die Perlen auf Helgas Kleid tanzten klickend in dem trockenen Sommerwind.
Und der Mensch, seine Tage sind wie Gras
...
der Wind weht darüber und sie sind verschwunden.
Als der Sarg in die Grube hinabgelassen wurde, stützte Helga sich schwer auf Kraus. Er reichte ihr sein Taschentuch, damit sie sich die Tränen vom Gesicht wischen konnte. Jeder der Trauergäste warf eine Rose in die Grube, dann kehrten sie zusammen über den überwucherten Weg zurück. Als plötzlich ein kleines graues Kaninchen vor ihnen über den Weg sprang, schnappte Helga jedoch plötzlich vernehmlich nach Luft und blieb wie erstarrt stehen, als hätte sie einen Wolf gesehen.
»Lieber Gott!« Sie presste sich die Hand auf die Brust und atmete tief. Kraus wartete auf eine Erklärung, aber sie schien nicht dazu in der Lage zu sein. Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Mir ist plötzlich etwas eingefallen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum es mir ausgerechnet jetzt kommt.« Sie drehte sich zu Kraus herum. »Die Stadt, aus der Ilse angeblich stammt ...« Sie senkte die Stimme. »Sie hat immer darüber geredet, als gäbe es keinen schlimmeren Ort auf der Welt. Sie hatte praktisch Schaum vor dem Mund, wenn sie uns davon erzählte. Sie wollte die Welt von dem Gewürm befreien, das dort lebte, sagte sie. So hat sie es ausgedrückt: die Welt davon befreien. Jetzt fröstelt es mich, wenn ich nur daran denke. Aber damals ... Wir haben gedacht, sie wäre einfach nur ein unglückliches Kind. Sie war noch nicht ganz achtzehn, als sie sich unserer Gemeinde anschloss. Hermann und ich haben sie praktisch adoptiert. Sie hatte keine Eltern. Nur Geschwister.«
Geschwister? Kraus spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte.
»Was für Geschwister, Helga? Brüder, Schwestern?«
»Ich weiß es nicht.«
»Denken Sie nach. Es könnte sehr wichtig sein.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dann sagen Sie mir, wann genau sie zum ersten Mal zu Ihnen gekommen ist.«
»Was meinen Sie mit ›wann genau‹?«
»Der Tag, der Monat. Ganz gleich, irgendetwas.«
»Oh, warum quälen Sie mich so?« Helga legte die Hand an ihre Kehle. »Ich weiß ja kaum, welches Jahr wir gerade haben.« Sie ballte die Fäuste und seufzte, dann riss sie die Augen weit auf. »Sekunde, es war am Ende der Inflation. Welches Jahr war das, 1924, richtig? Das muss es gewesen sein. Jetzt bin ich mir sicher. Man hatte gerade die Reichsmark eingeführt, und Ilse brachte uns Steaks mit, um zu feiern. Wir hatten noch nie so saftige Fleischstücke gesehen.«
Das Gedächtnis war tatsächlich unergründlich. Kraus kritzelte alles in sein Notizbuch. Alles lagerte dort, irgendwo. Und wurde manchmal höchst willkürlich aufgerufen. Aber war es wirklich willkürlich?
»Also gut, dann ... Wie war der Name dieser Stadt?«
Helga hielt sich den Bauch, das Gesicht verzerrt, so als wäre ihr Blinddarm geplatzt. »Ich habe nie herausgefunden, wo genau es war, aber es muss irgendwo in der Provinz gewesen sein. Ihrem Akzent nach vermute ich in Sachsen. Aber wann immer sie die Stadt erwähnte, sprach sie mit dieser seltsamen, unheimlichen Stimme, wie eine Aufziehpuppe, als würde sie einen Fluch ausstoßen ... Niedersedlitz ... Niedersedlitz. Einmal hat sie mir erzählt, der Teufel selbst wäre aus der Hölle direkt dorthin gezogen.«
Helga umklammerte ihre Brust, taumelte und fiel mit einem unterdrückten Schrei gegen Kraus, als würde sie Ilse hier auf dem Friedhof sehen, wie sie ein blutiges Messer schwang. »Halten Sie sie mir bloß vom Leib!«
Kraus musste sie bis zum Auto begleiten. Zoltan hielt ihr den Wagenschlag auf. Bevor sie einstieg, packte Helga Kraus’ Revers. »Mein Gott, Kraus.« Ihre Stimme war heiser vor Furcht. »Wenn diese verrückte Hexe jemals herausfindet, dass ich mit Ihnen darüber geredet habe ... Sie müssen sie einfach schnappen!« Es gab tatsächlich eine Stadt namens Niedersedlitz in Sachsen, südlich von Deutschlands wunderschöner Kunst- und Musikstadt an der Elbe, Dresden. Kraus und Gunther fuhren gleich am nächsten Morgen mit dem Zug dorthin. Vicki war nicht gerade begeistert, zu hören, dass er sie mit den Kindern allein ließ, obwohl sie gar nicht alleine war, weil ihre Schwester Ava zu Besuch kam. Als er sich mit einem Kuss verabschieden wollte, hielt sie ihm nur die Wange hin. Er wurde wütend und fragte sie, ob er sie unter Polizeischutz stellen sollte. Sie antwortete nicht, und er ging. Kraus wusste, dass sie eine melodramatische Ader hatte, genau wie ihre Mutter. Ihre Reaktion war übertrieben, aber trotzdem fühlte er sich lausig, weil er sie aufgeregt hatte. Andererseits fühlte er sich nicht schlecht genug, um zu bleiben.
Als sie Sachsen erreichten, glitt das fruchtbare Ackerland an den Fenstern des Speisewagens vorüber.
»Das ist wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel in einem Heuhaufen«, nuschelte Gunther, während Brötchenkrümel aus seinem Mund fielen. »Schlimmer noch. Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt eine Nadel gibt.«
»Na ja, der Knochen kommt nicht zum Hund, Gunther. Und besser einäugig sein als blind.« Kraus schätzte den Eifer seines Assistenten, allerdings nicht unbedingt dessen Tischmanieren. »Was harte Tatsachen angeht, haben wir nicht sonderlich viel in der Hand. Aber ein guter Kriminalbeamter muss versuchen, selbst die schwierigsten Puzzleteile zusammenzufügen. Und wenn Sie genauer darüber nachdenken: So schlecht sind wir gar nicht dran. Niedersedlitz, der ›Heuhaufen‹, wie Sie das Dorf genannt haben, ist nicht sonderlich groß. Wir wissen, dass Ilse ihre Heimatstadt glühend gehasst hat, als sie achtzehn war. So sehr, dass sie Helga verraten hat, dass sie die Welt von den Einwohnern befreien wollte. Und dass der Teufel selbst von der Hölle dorthin gezogen wäre. Das ist doch eine ziemlich extreme Haltung gegenüber seiner Geburtsstadt, finden Sie nicht auch?«
Gunther nickte mit großen Augen und kaute. »Ich fand es nur schrecklich, wie hässlich die Mädchen in meinem Dorf waren.«
»Ganz offenbar ist für Ilse dieser Ort mit einem langen Trauma verbunden, wahrscheinlich wurde sie als Kind verprügelt, ohne dass jemand ihr helfen konnte. Falls der Ochse wirklich ihr Bruder ist, suchen wir keineswegs eine Nadel, sondern zwei sehr perverse Geschwister. Und wenn sie tatsächlich in dieser Kleinstadt aufgewachsen sind, wird sich irgendjemand in Niedersedlitz gewiss an sie erinnern.«
»Wissen Sie, Chef«, Gunther schluckte schwer, »ich lerne in einer Stunde mehr von Ihnen, als ich aus all meinen Lehrbüchern zusammen gelernt habe.«
Dresden, Deutschlands Elbflorenz, war eine Märchenstadt aus Schokolade und Porzellan, aus Wagner und Strauss. Es gab riesige barocke Kathedralen und Paläste. Der lange, gläserne Hauptbahnhof aus dem Jahr 1892 war einer der schönsten in ganz Europa. Aber als ihr Zug dort einlief, quoll die Haupthalle von verstaubten, bedrückten Gestalten förmlich über. Die Arbeitslosen. Vor dem Bahnhof verteilten miteinander wetteifernde Reihen aus uniformierten Nazis und uniformierten Kommunisten Wahlkampfmaterial an jeden, der vorbeiging. Kraus und Gunther mussten einen echten Spießrutenlauf absolvieren, um die Bahnlinie sechs zu erreichen.
Vierzig Minuten später saßen sie in einer kleinen grünen Straßenbahn, die durch Niedersedlitz ratterte. Die Kleinstadt war ein malerischer Mix aus Weiden und Schwerindustrie, aus weiten Feldern mit goldenem Roggen, die kilometerlang von Fabrikgebäuden gesäumt wurden. Im Stadtzentrum stiegen sie aus und liefen direkt zum Rathaus. Zuerst gingen sie in das Einwohnerarchiv.
Der blasse Angestellte am Tresen blickte nicht einmal hoch, als Kraus ihn fragte, wie sie Gerbereien oder lederverarbeitende Betriebe finden könnten und ob es noch Unterlagen über Kindesmissbrauch von vor zwanzig Jahren gab.
»Zimmer 2D, Handel und Industrie. Die Gerichtsakten befinden sich unten in ...« Der Mann hielt inne, um nachzusehen, wer eine solche Frage stellte. Die Nadel mit dem Hakenkreuz loderte förmlich auf seinem Revier. »Juden sind hier nicht zugelassen.« Er sah wieder auf seine Papiere.
Gunther riss die Augen auf. »Was haben Sie gerade gesagt?«
»Das haben Sie doch gehört: keine Juden.«
»Sie Mistkerl!« Kraus war entsetzt, als sich Gunther über den Tresen beugte und drohte, den Angestellten am Kragen zu packen. Sein Gesicht war vor Wut gerötet. »Sie reden mit einem Beamten der Berliner Kriminalpolizei, der an einem Fall von nationaler Bedeutung arbeitet. Falls Sie also nicht scharf darauf sind, Ihren Hintern über glühenden Kohlen rösten zu lassen ...«
Der Mann ließ sie herein. »Genau das, was in dieser Republik stinkt«, murmelte er jedoch laut genug, dass sie ihn hören konnten. »Jüdische Polizisten.«
»Schon gut.« Kraus hielt Gunther zurück. Er freute sich über die Unterstützung seines Assistenten, auch wenn er das nicht zeigte. Und erneut gefiel ihm Gunthers Eifer weit mehr als dessen Finesse. Die Sachsen waren für ihre Engstirnigkeit bekannt. Außerdem blieben Gunther und ihm nur vierundvierzig Stunden für ihre Recherchen. Die Zeit reichte nicht, um sich mit den örtlichen Nazis herumzuprügeln. »Sie gehen nach unten; ich gehe nach oben.«
Der schnurrbärtige Beamte im Raum 2D, Herr Eisenlohr, hätte Kraus dagegen fast die Füße geküsst, als er erfuhr, dass er ein Kriminalbeamter aus Berlin war.
»O ja, Herr Kriminalsekretär. Da haben wir es schon.« Er verbeugte sich wie ein Kellner, der die Spezialität des Hauses servierte, als er Kraus einen ledergebundenen Folianten reichte. Bedeutende Industrie in Niedersedlitz – 1900 bis zur Gegenwart.
Kraus hatte jedoch das riesige Buch kaum aufgeschlagen, als Gunther schon wieder neben ihm stand.
»Das Fräulein vom Gerichtsaktenarchiv sagt, sie bräuchte einen besonderen Schlüssel, um den Schrank mit den Polizeiakten zu öffnen. Und der zuständige Beamte, der das erlaubt, ist gerade ...«
»Gunther«, unterbrach Kraus ihn. »Für so etwas habe ich keine Zeit. Lösen Sie das Problem einfach.« Er blätterte die Liste der Schlüsselindustrien durch. »Wir brauchen Einsicht in diese Akten.«
Gunther blieb regungslos stehen.
Kraus blickte hoch. »Erinnern Sie sich an das Kripohandbuch? Außer Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit besitzt der ideale Kriminalbeamte auch Findigkeit. Mit anderen Worten, mein Junge, benutzen Sie Ihr Gehirn.«
Gunther grinste etwas verlegen und trottete davon.
Kraus blätterte derweil den Folianten durch und sah, dass es in Niedersedlitz Fabriken für Kühlschränke, Lokomotiven, weltberühmte Kameras und Makkaroni gab, aber keine Gerbereien oder lederverarbeitenden Betriebe. Jedenfalls nicht mehr. Mehrere Jahrzehnte lang war hier eine einzige erwähnenswerte Firma ansässig gewesen. Aber die Vereinigten Lederwerke waren 1916 abgebrannt, in jenem schrecklichen »Rübenwinter«, auf dem Höhepunkt des Krieges. Ein Sternchen neben dem Eintrag fiel ihm in die Augen. Offenbar war der Vorarbeiter der Firma für schuldig befunden worden, den Brand gelegt zu haben, und war zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Kraus holte tief Luft, klappte den Folianten zu und beschloss, weitere Nachforschungen im Souterrain anzustellen. Außerdem wollte er sehen, wie Gunther sich schlug.
Offenbar nicht schlecht.
Im Flur des Untergeschosses lief eine große, etwas derbe junge Frau an ihm vorbei, die Gunthers Zwilling hätte sein können. Sie glättete hastig ihr Haar und verschwand auf der Damentoilette. Als Kraus ins Archiv mit den Gerichtsakten trat, blickte Gunther hoch und unterdrückte ein Grinsen.
»Auftrag ausgeführt.« Er hielt einen Schlüsselbund hoch, ohne auf den Lippenstift auf seinem Mund zu achten. Offenbar hatte der Junge sich ein Herz gefasst. Und Kraus brachte es nicht fertig, ihm ausgerechnet jetzt einen Vortrag über Diskretion zu halten.
Gunthers neu entdeckte Findigkeit förderte jedoch bedauerlicherweise nur wenige Resultate zu Tage – da half nicht einmal die Hilfe seiner neuen Freundin Ingeborg. Sie fanden viele Akten über Kinder, die von Autos angefahren, in Brunnen ertrunken oder von umherziehenden Fremden ermordet worden waren. Aber in den zahlreichen Polizeiakten der letzten zwanzig Jahre fand sich kein einziger Bericht, der davon gehandelt hätte, dass ein Kind von seinen eigenen Eltern verletzt worden wäre. Was nicht sonderlich überraschend war, sagte sich Kraus. Selbst in Berlin wurden solche Fälle erst seit kurzer Zeit gemeldet. Trotzdem, und darüber hatte Kraus die ganze Zeit nachgedacht, niemand anders als ein Familienmitglied konnte dieser »Teufel« sein, den die Hirtin so hasste. Nichts in den Unterlagen jedoch gab irgendeinen Hinweis. Vielleicht waren die Ursprünge ihres Traumas rein psychotischer Natur.
Nachdem Ingeborg sich wieder frisch gemacht hatte, durchsuchte sie die Geburtsanzeigen nach den Informationen, die die Hohepriesterin Helga ihrer Erinnerung abgerungen hatte. Sie förderte schließlich eine Liste mit sieben Mädchen namens Ilse zutage, die zwischen 1905 und 1907 geboren worden waren. Aber es stand ja nicht einmal fest, dass die Hirtin überhaupt in Niedersedlitz geboren worden war. Da sie keinen Nachnamen kannten, spielte das ohnehin keine große Rolle. Kraus überflog die Liste dennoch immer wieder. Schließlich schob er sie seufzend beiseite. Jedes dieser Mädchen hätte die Hirtin sein können; möglicherweise war aber ihre ganze Mühe auch reine Zeitverschwendung. Es war alles nur Glücksache.
Nach einer weiteren Stunde Suche wusste er, dass es reiner Zufall gewesen wäre, überhaupt eine Akte über den Brand in den »Vereinigten Lederwerken« zu finden. Jemand hatte ganz offenbar die Dokumente manipuliert. Ein Prozess musste doch Akten hervorgebracht haben. Ingeborg rief Herrn Eisenlohr zu Hilfe, aber der Mann raufte sich nur die Haare, weil er nicht weiter behilflich sein konnte.
»Wenn ich auch nur einen winzigen Hinweis hätte, Herr Kriminalsekretär, Gott helfe mir, dann würde ich Ihnen den auf einem goldenen Teller servieren. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Während des Krieges wurde alles, was auch nur annährend auf zivile Sabotage deutete, von den Militärbehörden entfernt. Diese Akten könnten irgendwo bei den Liebesbriefen des Kaisers vergraben sein.«
»Wir könnten es im Gefängnis versuchen.« Gunther zählte an seinen Fingern ab. »Er müsste noch ... zwölf Jahre seiner Strafe verbüßen.«
»Die Frage ist, in welchem Gefängnis«, überlegte Kraus laut. »In einer Stadt von der Größe Dresdens muss es mindestens ein halbes Dutzend Gefängnisse geben. Wir haben nicht einmal einen Namen, nach dem wir fragen können. Aber vielleicht ...« Er richtete sich auf. »Die Lokalzeitung. Sie muss darüber berichtet haben. Ich wette, dass sie dort Archive haben.«
»Hervorragend kombiniert.« Eisenlohr applaudierte. »Aber Sie sollten sich besser beeilen; hier schließt alles pünktlich um siebzehn Uhr.«
Die Büros vom Niedersedlitzer Beobachter lagen jedoch etliche Häuserblocks vom Rathaus entfernt, und als sie dort ankamen, war es eine Minute nach siebzehn Uhr. Ein kahlköpfiger Mann mit einem langen Schnauzbart stand zwar auf der anderen Seite der Tür, weigerte sich jedoch, sie hereinzulassen, selbst als Kraus seine Dienstmarke zückte. Sie sahen zu, wie er seinen Hut aufsetzte, durch die Hintertür hinausging und dann über die Straße davoneilte. Kraus spielte mit dem Gedanken, ihm nachzulaufen und den Hundesohn wegen Behinderung der Justiz einzusperren, aber die Vernunft obsiegte. Stattdessen führte er Gunther auf die Rückseite des Gebäudes und klappte den Dietrich an seinem Armeetaschenmesser auf.
Gunther sah ihn an, als wäre er verrückt geworden.
»Ach, nun kommen Sie schon.« Kraus zuckte mit den Schultern und tastete mit dem Dietrich ohne alle Gewissensbisse nach dem Schließmechanismus. »Sie kennen doch den alten Spruch: Je mehr Gesetze, desto weniger Gerechtigkeit. Halten Sie einfach die Augen auf und sorgen Sie dafür, dass uns keiner erwischt. Ordnung mag das halbe Leben sein, aber es ist eben nur die Hälfte. Und außerdem führen viele Wege nach Rom. Wir sind auf der Jagd nach ziemlich brutalen Massenmördern. Da muss man mit den Wölfen heulen. Und manchmal, Gunther, ist es so, dass das, was der Löwe nicht schafft«, das Schloss öffnete sich mit einem Klicken, »vom Fuchs bewerkstelligt wird.«
Mithilfe einer Taschenlampe fanden sie das Archiv, das bis in die achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zurückreichte. Schon bald stießen sie auf eine ganze Reihe von Artikeln, die den Brand bei der Firma Vereinigte Lederwerke von 1916 behandelten. Merkwürdigerweise jedoch und zu ihrer beider Enttäuschung war keiner länger als drei Absätze. Die Schlacht an der Somme in Frankreich überschattete zweifellos eine Brandstiftung am Ort, aber ebenso klar war, dass jemand die Geschichte zensiert hatte. Die Firma hatte offenbar Stiefel, Taschen und Rucksäcke hergestellt. Mehr als fünfzig Männer waren dort beschäftigt gewesen, als sie in der Nacht vom 5. November ausbrannte. Zwei Tage später wurde der Vorarbeiter der Firma, Bruno Köhler, verhaftet und wegen Brandstiftung angeklagt. Über ein Motiv stand da nichts, aber wenn man zwischen den Zeilen las und Bemerkungen wie »mürrisches Verhalten« und »nachlässig bei der Arbeit« richtig deutete, legte das nahe, dass er entweder betrunken oder über irgendetwas verärgert gewesen war oder beides. Vielleicht wegen des Krieges. Jedenfalls war in jener Zeit jedes Zeichen von Unzufriedenheit Hochverrat.
Weitere Artikel fassten den Prozess wegen Brandstiftung in noch vageren Begriffen zusammen. Darin war die Rede von »gewichtigen« Beweisen der Staatsanwaltschaft, einschließlich der Aussagen von mehr als einem Augenzeugen, und schließlich gab es auch ein Geständnis von Köhler selbst, der, wie der Beobachter schrieb, den Geschworenen erzählte: »Was ich getan habe, hat der Teufel mir aufgetragen.«
Es war jedoch der letzte Artikel, der über das Strafmaß des verurteilten Mannes, bei dem sich Kraus die Nackenhaare sträubten. Wahrscheinlich aus patriotischen Gefühlen heraus beschrieb die Zeitung, wie sich selbst ein Kind gegen diese Sabotage aussprach, und scheute sich nicht, Köhlers zehnjährige Tochter zu zitieren, die sagte, fünfundzwanzig Jahre Haft wären nicht genug für ihren Vater. Er gehörte, ihren Worten zufolge, lebenslänglich eingesperrt.
Wer würde einer Zehnjährigen eine solche Aussage in den Mund legen?
»Gunther, schnell.« Kraus’ Puls stieg unvermittelt an. »Zeigen Sie mir Ingeborgs Liste mit Ilses.«
Da war sie. Die drittletzte.
Ilse Köhler. Geboren 1906.