VIERUNDZWANZIG
Kraus’ Körper vibrierte förmlich vor Anspannung.
Er setzte sich auf, rollte mit den Schultern und versuchte, sich zu konzentrieren. Aber irgendwie wirkte alles verschwommen. Die beiden Männer am Tisch gegenüber strahlten einen merkwürdigen, ätherischen Glanz aus, wie Wesen aus einer anderen Welt, die ihm zu Hilfe gekommen waren. Er hätte kaum dankbarer sein können, wenn das tatsächlich der Fall gewesen wäre.
Eberhard und Rollmann waren beide Hydraulikingenieure und brüteten mit ihm über Karten, die die Infrastruktur unter der Knochengasse zeigten, die Wasserleitungen, die Kanalisation, die Zisternen und die Überlaufkanäle. Auf der anderen Seite des Raumes bebte Gunthers Stimme von kaum unterdrücktem Enthusiasmus, als er die Pläne mit der Assistentin aus dem Büro des Viehhofdirektors abglich, einer schlaksigen Brünetten namens Trudi. Gerd Wörner von der Abendzeitung marschierte auf und ab, machte sich Notizen und warf immer wieder einen Blick nach draußen.
Kraus blickte ebenfalls hinaus.
Aus dem Büro im zweiten Stock des Pumpenhauses des Viehhofs konnte man in der einen Richtung den gigantischen Entladebahnhof sehen, den Komplex mit Bahnsteigen und Inspektionsrampen, wo aus jeder Ecke Europas stündlich mit einem Frachtzug Vieh ankam. Auf der anderen Seite sah man die Produktionsstätten, wo dieses Vieh zu Fleisch und Nebenprodukten verarbeitet wurde. Auf der Thaerstraße unter ihnen drängte sich der dichte Feierabendverkehr. Lastwagen suchten Parkplätze, Makler hasteten zu ihren Terminen, um einen Handel abzuschließen, und alles war wieder normal, so schien es jedenfalls.
Bis auf Kraus. Er stand immer noch unter Schock.
Erst vor wenigen Stunden, obwohl es sich beinah wie Monate, Jahre oder auch nur Sekunden anfühlte, war er von einem Lieferwagen gerammt und danach beinahe erwürgt worden. Dann hatte er mitangesehen, wie ein Mann in zwei Hälften gesägt wurde. Die meisten Menschen würden sich von so einem Schock niemals erholen. Zum Glück hatte er bereits Übung darin. Von seinen Jahren an der Front kannte er das gummiartige Gefühl, das einem solchen Trauma folgte, und wusste, wie man weitermachen konnte, trotz der Last, die einem so etwas auf die Seele bürdete. Er wusste, dass man sich auf andere Gefühle konzentrieren musste, auf Dinge, die es wert erschienen ließen, weiterzumachen.
Und welche Wahl hatte er schon? Der Auftrag musste erledigt werden.
Damit das passierte, musste er genauso entschlossen weiterarbeiten wie diese fünf riesigen Generatoren unter ihnen.
»Das hier könnte es sein.« Eberhard, der für das Wassersystem des Viehhofs verantwortlich war, deutete auf die Karte. Rollmann, ein Chefingenieur der Wasserwerke, schien ihm zuzustimmen. Und Wörner, der Reporter, beugte sich vor, um auf die Stelle zu blicken, auf die Eberhard zeigte.
Kraus sah ebenfalls hin. Hatten sie endlich den Eingang zu diesem ganzen Ding gefunden?
Er schien durch die Zeit zurückzufliegen.
Sekunden nachdem Axel an dem Förderband in den Schlund des Todes geruckelt war, hatte ein weißes Licht Kraus’ Augen geblendet. Es war keine göttliche Erscheinung gewesen, sondern das Blitzlicht einer Kamera. Und sie gehörte ... ausgerechnet Wörner von der Abendzeitung. Der Reporter, der vor allen andern geschrien hatte: »Wie viele Kinder müssen denn noch sterben, Kraus?« Der Reporter hatte einen Anruf bekommen, in dem man ihm von einer verrückten Verfolgungsjagd über das Gelände des Centralviehhofs berichtet hatte, und war, so schnell er konnte, hergekommen. Dann hatte er die beiden demolierten Autos gesehen, den Lieferwagen und den Opel, und schließlich hatte er die Augen weit aufgerissen, als er Kraus fand, von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert, und Axel, der zerteilt in der Säge hing. »Allmächtiger Gott!«
Kraus hatte keine Wahl gehabt, als zu versuchen, ihn in die Ermittlungen einzubinden. »Ich kann Sie nicht hindern, mit den Fotos sofort zur Zeitung zu laufen und die Geschichte drucken zu lassen, Wörner. Aber Sie würden damit eine sehr wichtige Ermittlung gefährden. Außerdem ist das längst nicht die ganze Geschichte. Es gibt noch eine ganze Menge mehr zu berichten, das verspreche ich Ihnen. Ich gebe Ihnen die Geschichte exklusiv, aber zuerst müssen Sie mir helfen.«
»Mal abgesehen von dem Versuch der Bestechung, Willi, für Sie ... selbstverständlich.«
Kraus bat Wörner, Gunther zu rufen und alle seine Männer in der Knochengasse zusammenzutrommeln. Dann ließ er sich von Wörner zu einem Platz führen, wo er sich waschen konnte, und ließ sich saubere Garderobe bringen.
»Das würde ich für keinen anderen tun als für Sie, Kraus«, meinte der Reporter, der Schmiere stand, während sich Kraus in der Umkleidekabine des Schlachthauses duschte. »Wären das Freksa, Horthstaler oder irgendein anderer Beamter der Mordkommission gewesen, wäre ich so schnell mit den Fotos zum Verlag gefahren, dass sie mein Verschwinden nicht mal bemerkt hätten. Haben Sie eine Ahnung, was diese Fotos wert sind? Der Tod des Kinderfressers!«
»Ich sagte Ihnen ja schon«, erklärte Kraus unter dem Wasserstrahl, »er war es nicht.« Er hatte das untrügliche Gefühl, es wäre klug, wenn der Reporter alles aufzeichnete, was sie hier unten fanden. »Halten Sie sich einfach an mich, Gerd. Diese Story ist etwas für die Geschichtsbücher.«
Die Stimme des Reporters wurde düsterer. »Ich habe fast Angst davor, alles zu erfahren, Willi. In meinen zehn Jahren auf den Straßen Berlins habe ich noch nie so viel Blut gesehen.«
Kraus sah zu, wie das Blut, das er sich aus dem Haar wusch, im Abfluss verschwand.
In der Zwischenzeit stellte auch Gunther seine Fähigkeiten unter Beweis. Er führte eine Gruppe von Männern an, die Schlachthaus Zwei wegen einer angeblichen »Gesundheitsinspektion« versiegelten, die kaputten Fahrzeuge davor abdeckten und einen falschen Bericht für die Gründe der Verfolgungsjagd durch den Viehhof verbreiteten. Außerdem verbargen sie sämtliche Überreste von Axel. Kraus hatte befohlen, alles Menschenmögliche zu tun, um den Tod des Ochsen geheimzuhalten.
Er hatte diesen Tod auch keineswegs gewollt. Er hätte Axel gebraucht, damit der ihm half, Magda und Ilse in die Falle zu locken. Denn er hegte den schrecklichen Verdacht, dass diese beiden perversen Schwestern auch ohne ihren Bruder ihr schreckliches Handwerk weiterführen könnten. Und wer konnte schon sagen, ob nicht noch andere in diese Morde verwickelt waren? Die Geschwister Köhler waren vielleicht nur kleine Rädchen in einem großen Getriebe. Ein Grund mehr, sie aufzuhalten.
Sobald die Mädchen jedoch hörten, was mit Axel passiert war, würde sie niemand mehr finden.
Ihr Bruder hatte seine Familie bedauerlicherweise selbst im Tod noch beschützt. Er hatte nicht ein einziges Dokument bei sich, das seine Identität verraten hätte: keinen Führerschein, keine Adresse. Nichts, was den Namen trug, den er nach dem Mord an seinem Vater angenommen hatte. In seiner Tasche befanden sich nur ein Haufen blutiger Banknoten und mehrere Schlüssel. Sein Lieferwagen hatte keine Kennzeichen. Selbst in einer Stadt, die so kontrolliert wurde wie Berlin, hatten diese drei Kinder des Zorns es irgendwie geschafft, anderthalb Jahrzehnte gleichsam unter den Bodendielen zu leben.
»Wie Ratten.« Eberhard seufzte und fuhr mit den Fingern über die Karte. Kraus konzentrierte sich wieder auf ihre Angriffspläne. »Und selbstverständlich werden sie mehr als einen Zugang zu ihrem Bau haben.«
Kraus starrte auf die Strecke, die Eberhard ihm zeigte, und sah dann aus dem Fenster auf den Viehhof. Er räumte ein, dass sie im Moment Ilse nichts anhaben konnten. In der ganzen Zeit war sie nur einmal wirklich gesichtet worden. Diese große, rothaarige »Krankenschwester« mit dem pockennarbigen Gesicht war so schlüpfrig wie ein Aal. Aber Magda hatte er mit eigenen Augen gesehen. Sie war kein Aal. Allerdings konnte sie durchaus gefährlich werden, wenn man sie in die Enge trieb. Nur würde es ihr nicht gelingen, davon zu schlüpfen. Sie würden sie erwischen. Und hoffentlich lebend.
Es erwies sich als eine sehr gute Idee, dass Kraus Gunther angewiesen hatte, bei ihrem Erkundungsgang neulich nachts Skizzen des Geländes anzufertigen, das sie unter der Knochengasse gefunden hatten. Als sie jetzt diese Skizzen mit den Blaupausen des Viehhofs verglichen und diese beiden Karten wiederum mit den Leitungsplänen der Wasserwerke, bekamen sie eine ungefähre Vorstellung, was unter dieser kleinen Straße vorging. Sie hatten den Lageplan eines zweistöckigen unterirdischen Bunkers vor sich. Kraus brach der kalte Schweiß aus, als er es begriff; die Köhler-Kinder hatten das unterirdische Verlies ihrer Kindheit neu geschaffen, vergrößert und verbessert.
Wie sie jedoch möglichst schnell darin eindringen sollten, ohne Magda die Chance zur Flucht zu geben, war die Herausforderung, der sie sich nun gegenübersahen. Abgesehen von einer offenbar versteckten Zufahrt gab es zumindest einen weiteren Weg hinein und heraus, das wussten sie, nämlich eine Verbindung zu den Abwasserkanälen und Überlaufkanälen der Stadt. Immerhin waren etliche ziemlich große Jutesäcke voller Knochen durch letztere Kanäle gespült und zwei Kilometer weiter angeschwemmt worden. Wenn sie genau bestimmen konnten, wo diese Säcke in die Kanalisation geraten waren, hatten sie die Hintertür in das dunkle Reich der Köhlers gefunden.
Berlin verfügte über beinahe zehntausend Kilometer Regenwasser-Überlaufkanäle, die vollkommen von der Kanalisation getrennt waren. Die Überlaufkanäle wurden von kleineren Zuläufen, Entlastungskanälen und Tausenden von Oberflächenschächten gespeist, die das Regenwasser aus den Straßengullys sammelten. Bei starkem Regen war dieses System oft verstopft, erklärte Eberhard. Der letzte Oktober war besonders schlimm gewesen. Am fünfundzwanzigsten dieses Monats hatten drei Tage unablässiger Sturm dazu geführt, dass Äste, Reifen und anderes Treibgut sich in einer Biegung im Überlaufkanal Fünf gesammelt hatten – er deutete auf die Karte, dort, wo der Kanal nach Südwesten abzweigte, um in die Spree zu fließen. Das hatte zu einem Rückstau im gesamten Kanal geführt, angefangen von der Station unter der Frankfurter Allee, wo die zweite Ladung Knochensäcke aufgetaucht war, dann unter der Baustelle, wo der erste Sack angespült worden war, bis hin zu den Zuläufen unter dem Centralviehhof.
»Wenn wir einen Blick auf die Karte werfen«, Eberhard klappte einen vergilbten Plan der Gegend auf, der aus dem Jahr 1852 stammte, »sehen wir, dass an dem Platz, wo sich jetzt die Knochengasse befindet, noch vor dem Bau des Viehhofs eine kleine Brauerei ihren Sitz hatte. Es ist sehr gut möglich, dass derjenige, der den Keller dieser Gebäude umgebaut hat, auch den Keller der Brauerei geöffnet hat. Der wiederum hat die Zugangsröhren siebenundzwanzig bis neunundzwanzig, die direkt in das Zulaufrohr J des Überlaufkanals Fünf führen. Zulaufrohr J war in der Nacht vom 28. Oktober vollkommen verstopft und wurde am folgenden Morgen freigespült.«
Kraus konnte diesen schicksalhaften Tag, an dem er den Jutesack zum ersten Mal gesehen hatte, schwer vergessen. Mit den so fein säuberlich arrangierten Knochen. Und dem markierten Eintrag in der von Wasser durchtränkten Bibel. Er war sich nie sicher gewesen, ob jemand die Jutesäcke absichtlich in die Kanalisation geworfen hatte oder ob sie aus Versehen mitgerissen worden waren. Eberhards Beschreibung der Flut jedoch ließ Letzteres wahrscheinlicher erscheinen, weshalb die Köhlers vermutlich ihre finstere Arbeit fortgeführt hatten, da ihnen nicht klar gewesen war, dass jemand die Beweise gefunden und die Jagd eröffnet hatte.
Jetzt endlich fügten sich die Puzzlestücke zusammen.
Minute um Minute rückte Kraus ihnen dichter auf die Pelle.
Und dann gab ihm ausgerechnet Viehhof-Direktor Gruber persönlich einen erstaunlichen Tipp.
Der Herr Direktor war sich sehr wohl der üblen Dinge bewusst, die sich auf den Straßen seines geliebten Viehhofs abspielten, und hielt es offenbar für das Beste, endlich uneingeschränkt zu kooperieren, in der Hoffnung, dieser schrecklichen Prüfung endlich ein Ende zu bereiten. Er hatte höchstpersönlich vor einer halben Stunde angerufen, um ein scheinbar unbedeutendes Detail zu erwähnen.
»Da Sie so verdammt hartnäckig in dieser Angelegenheit sind, Kraus, ist mir jetzt tatsächlich noch etwas eingefallen.«
Er hatte Kraus erklärt, dass ihm im Laufe der Jahre immer wieder Berichte über ein an diesem Ort ziemlich unpassendes Fahrzeug in der Düngemittelfabrik Müller-Schlosser, direkt außerhalb des Viehhofs, auf der Thaerstraße, zu Ohren gekommen waren. Ein Eiswagen, wie sie oft vor Schulen und Spielplätzen anzutreffen waren, war gesehen worden, wie er auf den staubigen Firmenkomplex der Düngemittelfirma fuhr und ihn später wieder verließ. Ganz offenbar verschwand er in einer Art unterirdischer Garage. Da dies jedoch nicht mehr in Grubers Zuständigkeitsbereich fiel und der Wagen offenbar auch keinerlei Probleme verursachte, hatte er nicht sonderlich darauf geachtet. Bis jetzt. Und nun dachte er, dass diese Information möglicherweise hilfreich sein könnte.
Daraufhin hatten sie die Karten erneut studiert und festgestellt, dass die angegebene Adresse der Düngemittelfabrik tatsächlich außerhalb der Mauern des Viehhofs lag, sich aber nur dreißig Meter von der Knochengasse entfernt befand. Rollmann und Eberhard hatten beide erklärt, dass ein kurzer Lieferantentunnel für Fahrzeuge durchaus in den unterirdischen Bau der Köhlers führen könnte. Eine versteckte Zufahrt mit einem getarnten Eingang.
Und dann ... ein Eiswagen! Mein Gott! Kraus war fast die Luft weggeblieben, als er das gehört hatte. Er hatte sich die ganze Zeit gefragt, wie es der Hirtin gelingen konnte, so viele Jungen von den Straßen Berlins wegzulocken und sie zu entführen, ohne dass sie gesehen wurde. Wie bösartig brillant sie war, das wurde ihm jetzt klar. Er stellte sie sich in einer sauberen, weißen Uniform vor, wie sie den Jungen einen Köder hinhielt, dem die unmöglich widerstehen konnten. »Willst du mal einen Blick in den Eiswagen werfen? Hier herein, mein Junge.« Dann schloss sie die Tür zu. Und das war das Letzte, was man von diesen Kindern sah ... bis sie als Handtaschen oder Lampenschirme wieder auftauchten.
Außerdem war es nun auch nicht mehr verwunderlich, warum diese Köhlers so schwer zu finden waren. Sie hatten ihren unterirdischen Bau mit einer unterirdischen Zufahrt ausgestattet.
Man konnte wirklich nicht behaupten, dass sie nicht erfinderisch gewesen wären.
Adrenalin strömte durch Kraus’ Adern. Jetzt hatten sie die Lösung.
Die Zeit des Handelns war gekommen.
Ein koordinierter Angriff. Gruppe Eins einschließlich Kraus, Gunther, den Ingenieuren der Wasserwerke Rollmann und Eberhard, Wörner von der Abendzeitung und einer vier Mann starken Truppe der Schutzpolizei ging um siebzehn Uhr fünfundvierzig durch die Abwässerkanäle hinein. Gruppe Zwei, eine Abteilung, die nur aus Schupos bestand, umstellte das ganze Gelände und betrat dann die unterirdische Zufahrt über die Düngerfabrik eine Viertelstunde später. Auf diese Weise wollten sie Magda jeglichen Fluchtweg abschneiden und außerdem für Verstärkung sorgen, falls es Schwierigkeiten gab. Kraus wollte nur sichergehen, dass er der Erste war, der in Köhlers Bau eindrang und Magdas Gefangennahme überwachte. Er hatte das Gefühl, dass es für ihn persönlich wichtig war, sie unverletzt in die Hände zu bekommen.
Sie gingen über die lange Wendeltreppe bis zum Erdgeschoss des Pumpenhauses, vorbei an den fünf 84 PS starken Generatoren, die das Hydrauliksystem des Viehhofs speisten. Die gigantischen Turbinen surrten und die Kolben zischten, während sie maximalen Druck aufbauten, damit die Abfälle selbst aus den kleinsten und entlegensten Nischen und Ecken gespritzt werden konnten.
Die neun Männer von Gruppe A betraten eine weitere lange Treppe durch eine Tür mit der Aufschrift »Zutritt für Unbefugte verboten« und stiegen hinab. Kraus atmete flacher, während die Luft immer stickiger und schwerer wurde. Am Fuß der Treppe blockierte ein schmiedeeisernes Tor ihren Weg. Während Rollmann es öffnete, warf Kraus einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war genau siebzehn Uhr fünfundvierzig.
Er wusste, dass jetzt vier Millionen Menschen in Berlin ihrem ganz normalen Tagwerk nachgingen. Vor dem Kriegerdenkmal Unter den Linden absolvierten Soldaten im Stechschritt die letzte Wachablösung vor Hunderten von klickenden Kameras. In unmittelbarer Nähe, im prachtvollen Hotel Adlon, schlürften die Gäste ihre Cocktails. Auf der Spree dampften Kohlenschiffe am Königspalast vorbei. Und auf dem Flughafen Tempelhof glitten silbern glänzende Flugzeuge an dem Terminal vorüber. Auf der Kochstraße beeilten sich wie jeden Abend die miteinander wetteifernden Zeitungen, die Spätausgaben herauszubringen, vor allem, da es nur noch eine Woche bis zu den Wahlen war. Und während die Gäste ein paar Wohnblocks weiter nördlich bei Lutter & Wegner Schnitzel aßen, strömten Gläubige gegenüber zum Abendgottesdienst in die französische Kathedrale oder in die nahegelegene Hedwigkirche oder in die Synagoge in der Oranienburger Straße.