ELF
»Nicht in einer Million Jahren!«
»Glaubst du wirklich?«
»Bei seinem rechten Haken? Glaub mir: Er wird ihn zu Hackfleisch verarbeiten.«
Die Aufzugskabine war voll gepackt mit hemdsärmeligen Kriminalbeamten, die auf dem Heimweg waren und darüber spekulierten, ob Deutschlands neuer Boxchampion im Schwergewicht, Max Schmeling, eine Titelchance bei dem bevorstehenden Weltmeisterschaftskampf in New York hatte. Kraus stand hinter dem breitschultrigen Freksa und war viel zu wütend, um auf das Gerede zu achten. Jedes Mal, wenn er an diese Zigeuner dachte, hätte er diesen Schwachkopf von Freksa am liebsten ungespitzt in den Boden gerammt.
Eine Woche nach dieser alptraumhaften Pressekonferenz schämte er sich immer noch zuzugeben, dass er überhaupt die Möglichkeit in Betracht gezogen hatte, Freksa könnte den Fall tatsächlich gelöst haben. Er hatte, wenn auch nur für einige Minuten, ebenfalls angenommen, die Zigeuner könnten wirklich die Schuldigen sein. Doch auf dem Weg nach Hause hatte es ihn wie eine linke Gerade getroffen: Freksas Theorie mochte möglicherweise zu den Säcken passen, die in der Nähe der S-Bahn-Station an der Frankfurter Allee gefunden worden waren, südlich von der Fabrik, in der die Zigeuner ihr Lager aufgeschlagen hatten. Aber die Baustelle, zu der man Kraus gerufen hatte und wo der erste Sack hochgespült worden war, befand sich fast zehn Häuserblocks weiter nördlich, unmittelbar am Viehhof.
Und der Überlaufkanal Fünf floss nach Süden.
Dieser erste Sack, sein Sack, konnte unmöglich stromaufwärts geschwommen sein.
Jetzt konnte Kraus die Erinnerung an die tränenüberströmten Gesichter der Zigeuner, an die jammernden Frauen und kreischenden Kinder nicht mehr loswerden. In all seinen Jahren bei der Polizei hatte er sich einen solchen Machtmissbrauch nicht vorstellen können, ganz zu schweigen davon, dass er so etwas miterlebt hatte. Sicher, man hatte Freksa zweifellos unter Druck gesetzt, ebenso wie Dr. Riegler, und ihn gezwungen, den Fall so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen. Dafür hatte man sich auch hier wie schon bei Kleist-Rosenthaler eines probaten Mittels bedient: eines Sündenbocks.
Nur dass man diese armen Zigeuner nicht dafür bezahlte, dass sie die Schuld auf sich nahmen.
Es war entsetzlich, mitzuerleben, wie begeistert die Presse und anschließend auch die Öffentlichkeit die Schuld der Zigeuner akzeptiert hatte. Alle waren nicht nur erleichtert, dass man die Monster gefangen hatte, sondern auch, dass es keine Deutschen waren. Die Zeitungen brachten Schlagzeilen wie: ZIGEUNERPLAGE VERBREITET TERROR!
Die Zigeuner hatten eine lange und schmerzhafte Geschichte in Deutschland hinter sich. Sie wurden entweder romantisiert als bunte Gestalten in Planwagen, die musizierten und Tamburin schlagend herumtanzten, oder aber als geborene Verbrecher abgestempelt, die einen großen Bogen um jede ehrliche Arbeit machten. Jedenfalls scheute man vor ihnen zurück und verfolgte sie. Selbst heute noch, 1930, galten für Zigeuner besondere Gesetze, obwohl doch angeblich jeder vor dem Gesetz gleich war: Es war ihnen verboten, in großen Gruppen umherzustreifen, und sie mussten Arbeitsnachweise vorlegen können, wann immer die Behörden sie zu sehen verlangten. Ansonsten drohte ihnen Zwangsarbeit. Dazu wurden sie bei der Polizei registriert, fotografiert, ihnen wurden die Fingerabdrücke abgenommen, sogar den Kindern und Säuglingen. Als wäre die ganze Rasse von Geburt an schuldig. Es ist wirklich eine Schande, dachte Kraus.
Für Freksa waren die Polizeiakten über die Zigeuner wohl mehr als hilfreich gewesen, als er seinen zynischen Plan ausgeheckt hatte. Was für eine verzweifelte Taktik, überlegte Kraus, als der Aufzug das Erdgeschoss erreichte. Möglicherweise stellte er damit die Öffentlichkeit einstweilen zufrieden, aber was würde geschehen, wenn weitere Knochen auftauchten?
Er ließ die anderen vorausgehen und trat dann ins Foyer.
Aber vielleicht würde es ja keine Knochen mehr geben. Vielleicht waren das die letzten Knochen gewesen. Vielleicht war der wahre Mörder ja froh, dass man irgendjemandem die Schuld in die Schuhe geschoben hatte, und hörte auf, solange er noch auf freiem Fuß war.
Vielleicht. Wahrscheinlich war das nicht.
Kraus warf sich sein Jackett über und verließ das Polizeigebäude. Draußen glühte die Nachmittagssonne auf dem großen gläsernen Globus auf dem Dach des Kaufhauses Tietz und schickte ihre orangefarbenen Strahlen über den Alexanderplatz. Kraus atmete tief ein und beobachtete, wie Freksa an einer Ecke darauf wartete, dass das Licht der Verkehrsampel auf Grün sprang. Was mochte er als Nächstes planen? Wollte er einen Prozess gegen diese armen sechs Männer mit gefälschten Beweisen führen? Damit sie alle schuldig gesprochen und ... exekutiert wurden?
So weit konnte Kraus es unmöglich kommen lassen.
Aber wie sollte er diesen schrecklichen Schwindel aufdecken? Er ging langsam zu der Ecke, an der Freksa stand. Die Zeitungen würden sich natürlich mit Vergnügen darauf stürzen, und Kraus hatte genug Verbindungen, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Aber Freksa und Horthstaler würden genau wissen, wer die Geschichte hatte durchsickern lassen. Und das konnte er sich nicht leisten. Noch nicht. Er brauchte mehr Munition. Alles, was er bis jetzt hatte, war graue Theorie. Wenn der echte Kinderfresser glaubte, er wäre vom Haken, wurde er vielleicht nachlässig. Machte einen Fehler. Also mussten diese armen Zigeuner einstweilen nur als ...
Er blieb stehen. Freksa stand immer noch an der Ecke und wurde gerade von einem höchst merkwürdigen Jungen angesprochen, der halb Mann und halb Mädchen zu sein schien. Er trug einen Poncho und eine Kappe mit Federn, in einem Ohr baumelte ein großer, goldener Ohrring, und er hatte mehr Make-up aufgelegt als eine Straßendirne.
»Bitte, Herr Kriminalsekretär«, der Junge bettelte förmlich, »es hat selbst jetzt noch nicht aufgehört.«
Freksa wirkte vollkommen angewidert, als hätte der Junge Lepra. »Bei Gott, wenn ich dich hier noch einmal sehe!«, rief er über die Schulter zurück, als das Licht umsprang und er über die Dirksenstraße stürmte, »buchte ich dich wegen Landstreicherei ein!«
Der Junge blieb einfach stehen.
Kraus wurde klar, dass er ihn bereits einmal gesehen hatte, wenn auch nicht an dieser Straßenecke, sondern drüben, vor dem Kaufhaus Tietz. Dieses Halstuch ... und die gefiederte Kappe. War er nicht die »Freundin« des Häuptlings der Roten Apachen?
Man konnte nicht häufiger über den Alexanderplatz gehen, ohne auf die Banden der Wilden Jungs zu stoßen, heimatlose Jugendliche, die ihre Reviere an verschiedenen Häuserblocks hatten. Sie führten Klienten zu illegalen Einrichtungen, veranstalteten verbotene Hütchenspiele, betätigten sich als Taschendiebe und tanzten für ihr Abendessen – wenn man so wollte. Von all diesen Banden waren die Roten Apachen wahrscheinlich die auffälligsten. Sie drückten sich am Fuß der Berolina herum, der großen Kupferstatue vor dem Warenhaus Tietz. Sie waren sehr auffällig gekleidet und ärgerten die Passanten mit ihren Mätzchen und schrillen Schreien. Es war nahezu unmöglich, den gut aussehenden »Häuptling« oder seinen hageren Partner zu übersehen. Die beiden waren immer die lautesten. Aber worüber wollte dieser Junge so unbedingt mit Freksa reden?
Kraus beschloss, dem Burschen nachzugehen. Aber als er sich dem Jungen näherte, bemerkte der ihn. Da er nicht wusste, wer Kraus war, rannte er einfach davon.
»He, warte!«, rief Kraus ihm nach. Aber es war schon zu spät. In nicht mal einer Sekunde war der Junge schon einen halben Block weit entfernt. Kraus musste sich entscheiden, was er tun wollte. Er hatte es nicht so weit bei der Polizei gebracht, weil er seine Ahnungen ignoriert hatte. Also machte er sich an die Verfolgung.
Es herrschte jedoch Feierabendverkehr, und die Bürgersteige waren überfüllt von Menschen, die aus Geschäften und Büros strömten. Es war nahezu unmöglich, mit niemandem anzustoßen. Der Junge warf einen Blick über die Schulter, und als er sah, dass Kraus ihm folgte, beschleunigte er seine Schritte noch. Kraus bahnte sich rücksichtslos den Weg durch die Menschenmenge, und die Passanten riefen ihm wütende Flüche nach. Jemand schlug ihn mit einer zusammengerollten Zeitung auf den Rücken. Aber er holte allmählich auf und hätte fast den wollenen Poncho zu packen bekommen, als der Junge auf die Straße zwischen den lebhaften Verkehr rannte, eine vorbeifahrende Straßenbahn erwischte, zwischen die Wagen auf die Kupplung sprang und zu entkommen drohte. Kraus keuchte, stieß ein kurzes Gebet aus, dass die Sache sich wirklich lohnte, wartete auf den letzten Wagen der Straßenbahn, sprang ebenfalls auf die Straße, erwischte die Haltestange an der letzten Tür und klammerte sich an den Wagen wie ein Feuerwehrmann im Einsatz.
Der Fahrtwind hätte ihm beinahe den Hut vom Kopf gerissen, als die Bahn in einer scharfen Kurve auf die Kaiser-Wilhelm-Straße einbog. Und mehr als einmal hätte ihn fast ein dicker Ast vom Wagen gefegt. Aber der Junge schien nicht bemerkt zu haben, dass Kraus ihm gefolgt war. Als die Straßenbahn über den Fluss ratterte und neben dem Haupteingang zur Kathedrale langsamer wurde, sprang Kraus vom Wagen und folgte dem Jungen in den Lustgarten, das herausgeputzte Zentrum der Altstadt. Es war ein riesiger Platz mit Statuen und Springbrunnen, umringt von den monumentalsten Gebäuden Berlins.
»He, Moment mal.« Endlich hatte Kraus den Jungen erreicht und packte ihn entschlossen an der Schulter. »Ich will nur mit dir reden. Ich arbeite in derselben Abteilung wie Kriminalsekretär Freksa.«
Der Junge erstarrte und drehte sich dann langsam herum. Jetzt sah Kraus zum ersten Mal, dass seine Augen mit schwarzem Mascara und violettem Lidschatten geschminkt waren. Seine Lippen schimmerten pinkfarben, und die Fingernägel waren in einem schmutzigen Grün lackiert. Aber etwas Zerbrechliches im Blick der blauen Augen ermöglichte Kraus, die Maskerade zu durchschauen und das verängstigte Kind dahinter zu erkennen. Das verzweifelt genug war, um offenbar mehrfach einen dieser bedrohlichen Beamten der Kriminalpolizei anzusprechen. Kraus hatte das Vertrauen des Jungen jedoch offensichtlich noch nicht gewonnen, und das änderte sich auch nicht, als er ihm seine Polizeimarke zeigte. Der Junge stand da und starrte ihn an, während seine goldene Kreole herunterbaumelte und seine Brust sich unter seinen angestrengten Atemzügen hob und senkte.
»Ich habe nichts angestellt«, murmelte der Junge schließlich.
»Davon ist auch nicht die Rede. Ich will nur wissen, worüber du mit Kriminalsekretär Freksa reden wolltest. Es schien wichtig zu sein.«
Der Junge presste seine geschminkten Lippen zusammen.
»Hör zu!« Kraus hatte allmählich die Nase voll. »Ich kann mir nur schwach vorstellen, wie es sein muss, in deinem Alter auf der Straße zu leben.« Genau genommen fühlte er sich beinahe körperlich abgestoßen von dem clownesken Aufzug des Jungen und spielte mit dem Gedanken, ihn mit nach Hause zu nehmen, ihm ein gründliches Bad und anständige Kleidung zu verordnen. Dann würde der Junge sogar ganz gut aussehen. »Aber eines sage ich dir ganz ehrlich, ich weiß sehr genau, wie es sich anfühlt, Außenseiter zu sein. Davon verstehe ich etwas. Ich weiß, wie es ist, verspottet und gefürchtet zu werden, und ...«
»Es geht um die verschwundenen Jungen.« Die geschminkten Augenlider schlossen sich flatternd. Als er sie wieder öffnete, konnte Kraus erkennen, dass der Junge beschlossen hatte, dem Gespräch eine Chance zu geben.
Kraus’ Brust schwoll an. Seine Ahnung war richtig gewesen.
»Diese Sache mit den Zigeunern ...« Der Junge runzelte die Stirn so stark, dass sich seine blonden Augenbrauen beinahe berührten, und holte tief Luft. »Das ist völliger Quatsch. Sie waren es nicht.«
Jetzt schlug Kraus’ Herz fast einen Salto. »Setz dich doch einfach hin und erzähl mir alles. Ich habe es nicht eilig. Und niemand muss davon erfahren. Pass auf, wir treffen eine Abmachung: Diese Angelegenheit bleibt strikt unter uns, einverstanden? Wie heißt du überhaupt?«
»Kai.«
»Schön, dich kennenzulernen, Kai. Ich bin Kriminalsekretär Kraus – Willi Kraus.«
Sie setzten sich auf eine Bank in der Nähe des Alten Museums, direkt vor die achtzehn dorischen Säulen. Kraus musste sich Mühe geben, die vielen erstaunten Blicke zu ignorieren, die man ihnen zuwarf, und außerdem seinem eigenen Wunsch zu widerstehen, dem Jungen den Lippenstift vom Gesicht zu wischen. Er erfuhr, dass Kai aus einem kleinen Dorf mitten auf dem Land stammte und seit seinem siebten Lebensjahr alleine lebte. Er war keinen einzigen Tag zur Schule gegangen. Was nicht bedeutete, dass er dumm war. Oder ungebildet. Seine Freunde hatten ihm alles beigebracht, was er wissen musste, Schreiben, Lesen und Rechnen.
Es verblüffte Kraus immer wieder zu sehen, wie diese Kinder überlebten.
Nirgendwo in Europa hatten Kinder es schwerer als in Deutschland. Vor allem auf dem Land, wo unbedingter Gehorsam Vater und Mutter gegenüber verlangt wurde. Kinder hatten die Bedürfnisse der Erwachsenen zu respektieren, nicht umgekehrt, und mussten sich ihr täglich Brot durch viel harte Arbeit verdienen. Wurden die Zeiten härter, wurden viele dieser Kinder einfach als überflüssiger Ballast abgeworfen, an einen Freund, einen Verwandten oder einen durchreisenden Kaufmann verschachert. Früher oder später landeten sie in jener glitzernden Stadt, die man unbedingt gesehen haben musste. Jeden Tag nahm die Zahl dieser Kinder auf den Straßen von Berlin zu. Sie drängten sich in den Bahnhöfen, vor den Hotels, den Parks. Sie taten einem entsetzlich leid, aber was konnte man schon tun? Die Regierung musste einfach umfassendere Maßnahmen einleiten.
Kraus sah sich um. Über ihnen tanzten weiße Blüten in den Lindenbäumen. Links von ihnen verdeckte die gewaltige Kuppel der Kathedrale, in deren Krypta fünf Generationen Hohenzollern zur letzten Ruhe gebettet waren, die Hälfte des Himmels. Und direkt vor ihnen drohten dunkel und verlassen die Hallen des kaiserlichen Palastes. Seit der Abdankung des Kaisers vor elf Jahren wusste niemand so recht etwas damit anzufangen. Sollte man ein Museum daraus machen oder den Palast einfach sprengen? Kraus fröstelte, als ihm Fritz’ Worte wieder einfielen, dass viele Deutsche nach dieser kurzen Zeit der Demokratie nichts lieber wollten, als dass der Kaiser wieder seinen Palast bezog.
»Also gut, Kai, jetzt erzähl mal ... Worum geht es hier eigentlich?«
Der Junge kniff seine geschminkten Augen zusammen, dann jedoch riss er sie auf. Sie glühten förmlich. »Seit fast einem Jahr verschwinden in ganz Berlin wilde Jungs, in Wedding, Pankow, Friedrichshain und Kreuzberg ... ein paar hier, ein Pärchen dort. Woche um Woche. Monat um Monat. Vor ein paar Tagen haben sich endlich die Bandenführer aus ganz Berlin zusammengesetzt. Als sie die Zahl der Verschwundenen addiert haben, sind sie auf über vierzig gekommen.«
Kraus’ Kehle zog sich so fest zusammen, dass es weh tat.
»Keiner von ihnen war älter als vierzehn. Die meisten acht oder neun.«
Mein Gott!, dachte Kraus. So alt wie Erich.
»Wir haben uns die Hacken abgelaufen, so oft sind wir bei der Polizei gewesen.« Kai verzog verbittert seine pinkfarbenen Lippen. »Vor allem bei diesem Freksa. Aber er hat immer nur gemeint, unser Anblick würde ihn krank machen. Diese Sache mit den Zigeunern, die er da aus dem Hut gezaubert hat, ist absoluter Unsinn.«
»Woher weißt du das?«
»Weil«, Kais Augen blitzten, »vier weitere Jungen verschwunden sind, seit er diese angeblichen Mörder gefangen hat.«
Kraus’ Magen brannte. »Kannst du mir ihre Namen verraten?«, erkundigte er sich und zückte sein Notizbuch. Ihm war aufgefallen, dass mittlerweile ungewöhnlich viele Menschen durch den Park spazierten.
Kai schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wo sie verschwunden sind?«
Auch das wusste der Junge nicht.
»Und niemand hat irgendetwas gesehen oder gehört, in der ganzen Zeit nicht?«
Kai zuckte hilflos mit den Schultern. »Nicht dass ich wüsste. Ich weiß nur, dass es passiert, wenn die Jungs alleine oder zu zweit sind. Sie gehen los, irgendwohin, und kehren nicht mehr zurück.«
Mittlerweile war es unmöglich geworden, den Lärm hinter ihnen zu ignorieren. Tausende von Menschen strömten plötzlich in den Lustgarten und begannen zu singen. »Wachet auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt!«
Rote Fahnen schwenkend und mit Spruchbändern bewaffnet, auf denen zu lesen stand: NIEDER MIT DER BRÜNING-DIKTATUR!, marschierten endlose Reihen von Kommunisten heran, die geballten Fäuste hoch in die Luft gereckt. In Deutschland gab es die größte marxistische Bewegung außerhalb Russlands, und die Zahl ihrer Anhänger schwoll wie die der Obdachlosen jeden Monat an, seit die Wirtschaft zusammengebrochen war. Vickis Vater wetterte gegen den Tag, an dem sie jemals die Macht ergreifen sollten, und behauptete, sie würden das Land vernichten und die Juden würden mehr leiden müssen als alle anderen. Aber sehr viele Menschen, manchmal sogar Fritz, hielten es fast für unausweichlich, dass die rote Fahne irgendwann über dem Reichstag wehen würde.
Um nicht von diesem revolutionären Mob aufgesogen zu werden, mussten Kraus und Kai ihre Bank aufgeben und sich zur Kathedrale zurückziehen, in deren Schatten sie stehen blieben.
»Viel mehr habe ich auch eigentlich nicht zu sagen.« Der Junge zuckte mit den Schultern. »Ich bin nur froh, dass endlich jemand von der Polizei die Wahrheit kennt.«
Kraus fand den Burschen recht liebenswert, und unter all dem Make-up steckte seiner Meinung nach ein kluger Kopf. Aber was konnte die Zukunft ihm schon bieten?
»Wie ich dir schon gesagt habe, bin ich nicht mit diesem Fall betraut.« Kraus gab ihm seine Visitenkarte. »Aber wenn du jemals an irgendwelche Informationen kommen solltest ...«
»Danke, Herr Kriminalsekretär. Ich nehme an, Sie wissen, wo Sie mich finden können.«
Kai verzog die geschminkten Lippen zu einem Lächeln, als er ironisch mit den Schultern zuckte und seine Kreole hüpfte. »Jedenfalls gehe ich jetzt hier rein und wechsle ein paar Worten mit dem alten Mann da oben, falls man mich nicht schon an der Tür abweist. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mit mir geredet haben.« Er machte einen Schritt auf die Kathedrale zu, drehte sich dann jedoch herum. »Oh, übrigens, ich bezweifle zwar, dass Ihnen das weiterhelfen wird, aber ich habe da so Gerüchte gehört. Klingt ein bisschen verrückt, aber ein paar Jungs glauben nicht, dass ein Mann dahintersteckt. Sie behaupten, es wäre eine Frau. Beim Treffen der Anführer habe ich Gerede über eine rothaarige Frau gehört, die die Jungs in Neukölln die Hirtin nennen.«
Kraus explodierte fast der Kopf. Wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört?
Nachdem Kai verschwunden war, blieb Kraus noch einen Moment vor der Kathedrale stehen. Fast vierzig Jungen? Das kam ihm unbegreiflich vor. Wie konnte ein Mann unbemerkt so viele Kinder töten?
Oder eine Frau.
Trotz des Geschreis von tausend Kommunisten fühlte er sich plötzlich sehr allein. Und hatte das Gefühl, er bräuchte dringend jemanden, mit dem er reden konnte. Er brauchte ein wenig moralische Unterstützung. Er hasste es zwar, den Polizeivizepräsidenten zu stören, aber obwohl es schon nach achtzehn Uhr war, würde Weiß höchst wahrscheinlich noch an seinem Schreibtisch sitzen.
Er fuhr im Präsidium mit dem Hauptaufzug hinauf zur Verwaltungsebene. Die Sekretärin war zwar bereits gegangen, aber er hörte eine Stimme im Büro des Doktors. Kraus steckte seinen Kopf hinein und sah Weiß, der allein am Telefon saß. Enttäuscht wollte er gerade gehen, als der Doktor hochblickte, Kraus nachdrücklich hereinwinkte und ihm bedeutete, sich hinzusetzen.
»Ja, natürlich ist mir klar, dass es nur Propaganda ist.« Weiß verdrehte die Augen, als er die Hand über die Sprechmuschel legte und Kraus lautlos zu verstehen gab, dass er mit seinem Anwalt redete. »Aber ich kann das nicht durchgehen lassen, Freytag. Ich muss mich wehren.«
Auf Weiß’ Schreibtisch bemerkte Kraus eine Zeitung mit steifen, aggressiven Buchstaben über dem Impressum:
DER ANGRIFF.
Darunter war die Zeichnung eines Esels auf einem vereisten Teich zu sehen, dessen vier Beine auf lächerliche Weise gespreizt waren. Das Gesicht des Tieres hatte eine unverwechselbare und groteske Ähnlichkeit mit dem von Dr. Weiß. Der folgende Artikel war überschrieben: »Isidor auf dünnem Eis«. Von Joseph Goebbels.
Kraus blickte hoch und sah hinter der Brille des Doktors, die so deutlich auf der Hakennase in der Zeichnung abgebildet war, Wut und Schmerz funkeln. Dieser Goebbels ging Weiß offenbar unter die Haut.
»Zweimal pro Woche, in jeder Ausgabe, benutzt er mich als Zielscheibe.« Weiß schlug die Zeitung auf, als wollte er sie seinem Anwalt zeigen. »Er hat mich schon so oft Isidor genannt, dass die Leute glauben, das wäre mein richtiger Name.«
Auf der Seite, die jetzt aufgeschlagen war, erblickte Kraus das Foto eines Mannes auf einem Podium, den er sofort erkannte. Diese hagere Gestalt, die sich zu dem Mikrofon beugte! Diese glühenden schwarzen Augen! Es war der Kerl aus Freksas Büro, der Humpelnde, der so laut herumschrie. Und dann dieses seltsame Zeichen auf seiner Armbinde. Es war dasselbe Emblem, das auch auf den Binden dieser braun Uniformierten gewesen war, die diese Zigeuner beschimpft hatten. Und es befand sich auch auf Freksas Anstecknadel.
Er senkte den Kopf, um die Bildunterschrift zu lesen: Dr. Goebbels spricht zu einer Versammlung der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei.
Das also war Goebbels.
Und die Braunhemden waren die berüchtigten Nazis, die so gerne Straßenkämpfe mit den Kommunisten vom Zaun brachen und die Juden für Deutschlands Schwierigkeiten verantwortlich machten. Jetzt fügte sich alles zusammen. Kein Wunder, dass sie auf Weiß herumhackten, einem der prominentesten Juden in Berlin.
»Ich weiß, dass der Mann kein Narr ist.« Der Doktor wurde ganz offensichtlich wütend auf seinen Anwalt. »Er hat einen Doktortitel in Philosophie. Die Philosophie der Hölle! Aber es kümmert mich nicht, wenn ich verliere.« Er zerbrach vor Wut einen Bleistift. »Diesmal zerre ich diesen Hundesohn vor Gericht.«
Kraus rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Ganz offensichtlich war das nicht der richtige Moment, um sich hier Unterstützung zu holen.
»Bleiben Sie«, meinte Weiß und winkte beschwichtigend mit der Hand.
Aber Kraus flüsterte ihm zu, er wäre nur vorbeigekommen, um guten Tag zu sagen, und würde ihn ein anderes Mal besuchen, wenn der Herr Vizepräsident weniger beschäftigt war.
Auf der Straße wurde Kraus klar, wie deprimierend die ganze Situation war. Freksa hatte nicht nur sechs unschuldigen Männern etwas angehängt, sondern er gehörte zu einer rassistischen, reaktionären Bewegung, die plante, die Berliner Polizei zu unterminieren und die Republik zu stürzen.
Alles war im Verfall begriffen. Vor ihnen lag Dunkelheit. Kraus wusste nicht genau, was er tun sollte. Aber er musste einfach irgendetwas unternehmen. Er stieß einen Seufzer der Verzweiflung aus und hatte plötzlich das Gefühl, als hätte sich die Bürde von Deutschland und ganz Europa auf seine Schultern gelegt. Im selben Moment flammten die Straßenlaternen auf und tauchten den Alex in ihren Schein. Blitzartig fiel ihm plötzlich wieder ein, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Die Hirtin.
Braunschweig.
Kraus hatte das Mysterium dieses »Liebeskultes« nicht lösen können, und der Geistliche hatte ihn dabei ebenfalls indirekt zumindest behindert. Denn er hatte ihm nie Zugang zu den Saturnalien verschafft, wie er es versprochen hatte, und schien jedes Mal, wenn Kraus mit ihm sprach, noch betrunkener zu sein. Also hatte er diese Spur letztlich aufgegeben und sich stattdessen auf den Markt der freien Händler konzentriert. Jetzt hielt er ein Taxi an und befahl dem Fahrer, sich zu beeilen.
Die kleine Kapelle an der Spandauer Straße war zwar dunkel, aber in der rückwärtigen Wohnung brannte Licht. Als Kraus an die Tür klopfte, hörte er ein Stöhnen. »Herr Pastor?«
Das Stöhnen wurde lauter.
Kraus stellte sich auf einen Vorsprung und spähte durch ein schmutziges Fenster. Braunschweig lag rücklings auf dem Boden, die Arme über dem Kopf und die Hose bis zu den Kniekehlen hinuntergezogen. Mein Gott, er war noch betrunkener als sonst. Kraus rief seinen Namen. Diesmal zog Braunschweig die Hose hoch, brach dann jedoch regungslos zusammen. Nach vielem Klopfen und Rufen zuckte der Pfarrer erneut, rappelte sich hoch auf die Knie, schaffte es jedoch nicht, aufzustehen.
Kraus hätte am liebsten die Tür eingetreten. Irgendwie musste er zu diesem Kerl vordringen. Er spielte ernsthaft mit dem Gedanken, das Fenster aufzubrechen, als Braunschweig sich wundersamerweise erhob, zur Tür ging und sie öffnete. Er bat Kraus herein, als wäre nichts geschehen. »Hallo, Herr Kriminalsekretär!«, begrüßte er ihn fröhlich, hob seine buschigen grauen Augenbrauen und sackte dann einfach seitwärts weg.
Seine Gliedmaßen waren wie Gummi. Er konnte nicht einmal sitzen. Selbst seine Finger waren zu schlaff, um irgendetwas festzuhalten. Jedes Mal, wenn Kraus ihn auf einen Stuhl wuchtete, rutschte Braunschweig wieder auf den Boden. Schließlich hockte sich Kraus einfach neben ihn.
»Hören Sie mir zu, Herr Pastor. Was wissen Sie über die Hirtin?«
»Über wen?«
»Brigittas Vorgängerin. Man nannte sie die Hirtin.«
»Bleiben Sie doch und trinken Sie einen mit mir.«
»Sie haben mir gesagt, sie hätte Tiere angeschleppt, für Rituale.«
»Für was?«
»Sie meinten, diese Mission dort wäre das reinste Schlachthaus. Die Sache ist wichtig, Braunschweig. Menschenleben hängen davon ab, um Gottes willen.«
»Halten Sie mir keine Predigt über Gott. Ich bin derjenige, der hier Predigten hält. Unser Thema heute wird sein ... Ach, seien Sie nicht beleidigt, Kraus. Bleiben Sie und trinken Sie ein Schlückchen.« Der Pfarrer hob anklagend die Arme. »Sagen Sie mir nur, wieso liebt sie mich nicht mehr?«
»Die Hirtin, Braunschweig. Es geht um die Hirtin.«
Braunschweig hatte jedoch das Bewusstsein verloren. Kraus sah sich verzweifelt um. Schmutziges Geschirr, offene Konservendosen. Flaschen und Gläser überall. Völlige Verderbtheit. Er konnte es einfach nicht fassen.
»Verdammt, sagen Sie mir wenigstens, wie ich Ihre Exfrau finden kann!«, schrie Kraus das gerötete Gesicht an.
Offenbar war dies das Zauberwort, denn aus den Tiefen seines Rausches antwortete Braunschweig. »Morgengrauen, Kraus. Hab wohl vergessen, es zu erwähnen. Deshalb haben Sie sie nie angetroffen. Gehen Sie vor Tagesanbruch dorthin, dienstags und freitags. Und sagen Sie an der Tür ...«
Der Pfarrer drohte, erneut ohnmächtig zu werden, doch dann gelang es ihm, die seltsamsten Worte auszustoßen, die Kraus jemals gehört hatte: »Yasna Haptanghaiti.«
Das war alles. Braunschweig war bewusstlos.
Yasna Haptanghaiti?