ACHTZEHN
Trommelwirbel erschütterten den Sportpalast. Trompeten, Flöten und Glockenspiele stimmten einen stampfenden Marsch an. Fahnen mit roten und schwarzen Hakenkreuzen wehten über den Gängen. »Heil! Heil! Heil!« Tausende begrüßten die hereinmarschierenden Jugendbrigaden. Adrette Mützen, Stiefel, Brustriemen, Epauletten ... Neben ihnen wirkten ihre kommunistischen Widersacher wie Landstreicher. Das ist alles andere als eine normale Wahlkampfveranstaltung, dachte Kraus.
Und ganz bestimmt war das nichts, worüber man sich hätte herablassend amüsieren können.
»Was für ein Zirkus«, hatte Fritz gestern beim Mittagessen erklärt, als fünf oder sechs Lastwagen mit offenen Pritschen am Café Kranzler vorbeigerauscht waren. Auf den Ladeflächen hatten Nazis gestanden und Flugblätter unter die Menschen geworfen. MORGEN: DER FÜHRER SPRICHT! Der Ku’damm war knöcheltief mit Pamphleten bedeckt. Irgendjemand finanzierte diesen »Zirkus« und zwar im großen Stil.
»Du erinnerst dich an meinen alten Schulkameraden von Hessler?« Fritz warf einen Blick auf ein Flugblatt und verzog das Gesicht. »Er führt eine Art wissenschaftliches Experiment bei dieser Versammlung durch. Angeblich will er Gehirnströme messen. Er braucht dafür fast eine Tonne Ausrüstung, also habe ich ihn in der Pressekabine untergebracht, der beste Platz im Haus. Er war so dankbar, dass er mich eingeladen hat, ihm Gesellschaft zu leisten. Er hat eine einmalige Show versprochen. Warum kommst du nicht einfach mit, Willi?«
Das klang nach einem unterhaltsamen Abend. Kraus wusste nur sehr wenig über die Nazis, außer, dass sie die Juden für Deutschlands größtes Unglück hielten. Höchst unterhaltsam. Doch dass die Hirtin Waisenkinder hatte entführen können, während sie ganz offen eine Hakenkreuz-Anstecknadel trug, veranlasste ihn, Fritz’ Einladung anzunehmen. Wissen war Macht, und er brauchte in diesem Fall alle Macht, die er bekommen konnte. Drei weitere Jungs waren verschwunden. Diesmal direkt aus der Grundschule.
Bei der Bismarck-Schule im Arbeiterviertel Schöneberg war das Sommerschuljahr voll im Gange. Der Schulleiter konnte es einfach nicht fassen. »Keiner hat etwas gesehen. Die Kinder haben sich nach der Pause aufgestellt, und beim Abzählen stellte sich heraus, dass zwei verschwunden sind. Ich übernehme die volle Verantwortung. Aber wie es geschehen ist, Herr Kriminalsekretär? Keine Ahnung. Wir stehen alle unter Schock.« Ganz ähnlich verhielt es sich in der Lessingakademie, mehrere Kilometer entfernt in Friedrichshain. Der Lehrer war einfach untröstlich. Ein Junge war verschwunden, knapp sieben Jahre alt. Er hatte vor der Schule auf seine Mutter gewartet, die ihn abholen wollte, das war alles. Es war das letzte Mal, dass jemand das Kind gesehen hatte. Die Hirtin dehnte ganz offensichtlich ihr Einzugsgebiet aus und entführte jetzt Kinder bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Außerdem wurden ihre Opfer immer jünger.
Wie zum Teufel kam sie ungesehen davon?
»Heil! Heil! Heil! Heil!«
Die Nazis waren die kleinste Partei im Reichstag, erklärte Fritz. Bei der letzten Wahl hatten sie gerade mal zwölf Sitze errungen. Einen davon hatte ihr begabter Propagandist Joseph Goebbels inne.
Goebbels, dachte Kraus. Die Welt ist klein. Dr. Weiß hatte seinen Verleumdungsprozess gegen den Mann gewonnen. Aber das konnte diesen Terrier nicht aufhalten. Wenn man ihn trat, biss Goebbels nur umso fester zu und steigerte die Boshaftigkeit seiner Attacken. Weiß musste diesen Hundesohn erneut vor Gericht zerren.
Extremisten aller Schattierungen gediehen in einer solchen ökonomischen Krise prächtig, merkte Fritz an. Die Nazis träumten davon, ihre Sitze bei den Wahlen im September zu verdreifachen. Das hielt Kraus keineswegs für unwahrscheinlich angesichts der Tatsache, dass jeden Tag eine weitere Fabrik die Pforten schloss, ein weiteres Geschäft Bankrott anmeldete. In Berlin irrten die Arbeitslosen überall herum, ganz gleich, wohin man blickte. Sie saßen auf Parkbänken und standen Schlange vor den Wohlfahrtseinrichtungen. Zumeist waren es Männer, deren Kleidung immer noch Zeugnis von ihrem verflossenen Wohlstand abgelegte. Sie trugen elegante Anzüge und Lederschuhe, die jetzt verschlissen und schmutzig waren, und auf ihren Gesichtern zeigte sich eine grimmige Wandlung von Ungläubigkeit zu Resignation. Es war entsetzlich, mitansehen zu müssen, in welch rasender Geschwindigkeit das Elend sich ausbreitete.
Von 1914 bis 1924 hatte Deutschland schon schreckliche Jahre ertragen müssen. Den Krieg. Den Hunger. Die Revolution. Die Hyperinflation. Dem war ein unglaublicher wirtschaftlicher Aufschwung gefolgt, aber jetzt stürzte die Wirtschaft erneut in einen Abgrund, und die Menschen gerieten in Panik. Sie sehnten sich verzweifelt nach Führung. Kraus teilte dieses Bedürfnis, aber was er hier und heute sah, hatte nichts mit Politik zu tun. Das hier war eine neue Religion. Und alles andere als ein Witz. Ein kurzer Blick auf Fritz verriet ihm, dass auch seinem Freund das Grinsen vergangen war.
Auf der Bühne unter ihnen, die wegen der zahlreichen Hakenkreuzfahnen kaum zu sehen war, leitete der Dirigent des Orchesters seine Musiker mit mörderischer Überzeugung, stach mit seinem Taktstock zu, als rammte er jemandem einen Dolch ins Herz. Er konnte kaum älter als sechzehn Jahre alt sein. Durch die Gänge marschierten Hunderte von Frauen in langen schwarzen Röcken, die ihnen fast bis zum Knöchel reichten. Dazu trugen sie weiße Blusen und schwarze Krawattenschals.
War vielleicht die Hirtin unter ihnen? Kraus hielt nach einer Rothaarigen Ausschau.
Die Presseloge hing zehn Meter über dem Hallenboden, parallel zum Podium, und bot so einen unvergleichlichen Blick auf die ganze Halle. »Ich sagte Ihnen ja, dass sie wirklich ein Schauspiel bieten«, erklärte von Hessler ohne das geringste Interesse. Er hatte unmissverständlich klargemacht, dass er nicht gekommen war, um Hitler zu sehen, sondern um seine eigene wissenschaftliche Arbeit voranzutreiben. Er hatte einen Vorhang quer durch die Presseloge gezogen, um auf diese Weise ein kleines, privates Laboratorium abzugrenzen. Dort widmete er sich jetzt einer ganz normal aussehenden Frau, die ebenfalls bei ihnen saß – dem Subjekt seiner Experimente. Die silberne Augenklappe des Doktors glitzerte, als er Frau Klopstock einen Barbierkittel überlegte und sie an eine bizarr wirkende Maschine anschloss, die von zwei Arbeitern hochgeschleppt worden war. Sie wies Reihen von Schaltern und Knöpfen auf, und Dutzende von Drähten kamen aus ihr heraus, die, wie von Hessler behauptete, »Gehirnströme« maßen.
»Wenn wir in den Schädel hineinblicken könnten, würden wir vielleicht sehen, wie eine Person denkt«, erläuterte er an niemand im Besonderen gerichtet, während er sich darauf konzentrierte, die Drähte von der Maschine an Frau Klopstocks Schädel zu befestigen. Die lächelte dabei in stoischer Ruhe. »Bis jedoch Experimente an lebenden Menschen erlaubt sind, muss ich mich wohl hiermit begnügen. Man nennt es Elektroenzephalogramm, EEG. Mein Kollege Hans Berger hat die Maschine letztes Jahr erfunden.« Mit Kontaktgel und Wattekissen befestigte der Doktor einen Draht nach dem anderen am Kopf der armen Frau Klopstock, bis sie aussah wie ein Tiefseefisch. »Dieses Gerät misst elektrische Aktivität auf der Kopfhaut, erzeugt von Neuronen, die im Hirn gezündet werden. Berger hat bis jetzt zwei Arten von Wellen feststellen können: Alpha- und Betawellen. Jede der beiden wird in unterschiedlichen Linien auf dieser Maschine aufgezeichnet, einem Galvanometer von Siemens mit zwei Aufzeichnungsspulen. Frau Klopstock hat, glaube ich, bisher ihre Stimme immer der katholischen Zentrumspartei gegeben. Habe ich recht, Frau Klopstock?«
»Allerdings, Herr Doktor.« Die Frau lächelte tapfer, trotz ihrer etwas unvorteilhaften Kopfbedeckung.
»Angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Lage ist sie jedoch verunsichert und weiß nicht, welcher Partei sie diesen September ihre Stimme geben wird. Indem ich jetzt ihre Gehirnwellen aufzeichne, versuche ich, ihre psychische Reaktion auf diese Kundgebung zu messen. Sie könnte zum Beispiel abstreiten, dass Herr Hitler sie in irgendeiner Weise aufwühlt, ihre Gehirnwellen jedoch könnten etwas ganz anderes zeigen.«
Als er die Maschine mit einem halben Dutzend Schaltern anstellte, tauchten zwei parallele Zickzackwellen auf einer Papierrolle auf. Sie bewegten sich jedes Mal, wenn das Orchester unter ihnen einen weiteren Militärmarsch anstimmte und weitere uniformierte Abteilungen eintrafen. Während der langen Pausen dazwischen zeigten sie jedoch fast keine Ausschläge. Von Hessler versicherte Frau Klopstock wiederholt, dass sie ihre Sache »einfach exzellent« machte.
Bedauerlicherweise schien der angekündigte Sprecher, dieser Führer, einfach nicht aufzutauchen. Die beiden Linien auf dem Galvanometer wurden immer flacher. Kraus wollte sich bereits verabschieden und sich in sein behagliches Heim davonschleichen, als plötzlich gewaltiges Gebrüll vor der Halle das Gebäude förmlich erschütterte. Mit der Gewalt eines Orkans brach der Lärm durch die Türen, erfüllte den Raum und riss die vierzehntausend Menschen auf die Füße. Sie kreischten »Heil! Heil!« Selbst Frau Klopstock, die, wie sie behauptete, keine besonderen Gefühle für Hitler hegte, musste ermahnt werden, sich nicht zu abrupt zu bewegen und damit die Drähte vom Kopf zu reißen, die von Hessler so sorgfältig dort angebracht hatte. Kraus dagegen hatte nicht unter solchen Einschränkungen zu leiden. Die Energie in der Halle war so intensiv, dass er wie alle anderen auf die Füße sprang, um den Einmarsch des Sprechers zu verfolgen.
»Heil! Heil! Heil! Heil!«
Umringt von einer kleinen Gefolgschaft schritt eine uniformierte Gestalt den Mittelgang hinauf. Sie hatte eine Hand erhoben, deren offene Handfläche nach oben zeigte. Das Brüllen schwoll beinahe ohrenbetäubend an. Kraus hatte noch nie so etwas gehört. Selbst bei dem aufregendsten Fußballspiel gab es keinen solchen Lärm. Die Leute kreischten, weinten, drängten sich nach vorne und streckten ihre Arme aus. Kraus war klar, dass sie keinen Politiker begrüßten, sondern einen Erlöser.
»Mein Gott«, stammelte Fritz in Kraus’ Ohr. »Seit den messianischen Kulten des Mittelalters hat Europa so etwas nicht mehr erlebt.«
Das Gebrüll ebbte erst ab, als der Führer der Nazipartei das Podium erreicht hatte. In der Halle breitete sich angespannte Erwartung aus. Kraus konnte das Gesicht des Mannes ganz deutlich erkennen. Abgesehen von dem zwei Finger breiten, rechteckigen Schnurrbart war kaum etwas an dem Mann besonders auffällig. Er hätte ebenso gut ein Lebensmittelhändler oder ein Postbeamter sein können. Bis auf die Augen. Selbst aus zehn Metern Höhe spürte Kraus ihr Feuer.
In seiner braunen Uniform, den hohen, schwarzen Stiefeln und dem dicken Lederriemen über der Brust baute sich der Führer vor den sehnsüchtigen Massen auf und sagte ... nichts. Eine, wie es schien, Ewigkeit lang sah er sich im Saal um, hielt den rechten Arm mit der linken Hand fest, dann umgekehrt, und verschränkte schließlich beide Arme vor seiner Brust. Die Zuhörer wurden immer stiller, wie schuldbewusst, als wäre es ihr Fehler, dass er nicht beginnen konnte. Dann jedoch schien sich der Führer an etwas zu erinnern, trat dichter ans Pult und überflog seine Notizen, als suchte er nach einem entscheidenden Punkt. Doch Kraus sah, dass er keineswegs las, was da stand. Von seinem erhöhten Standort aus konnte Kraus jede Bewegung Hitlers deutlich erkennen. Sie waren alle einstudiert, und zwar ganz offensichtlich mit der Absicht, das Publikum zu manipulieren. Je länger der Mann sich weigerte zu sprechen, desto eindringlicher gierte die Menge nach seinen Worten. Frau Klopstocks Gehirnwellen, die auf dem Papier aufgezeichnet wurden, illustrierten das grafisch.
»Außerordentlich, hab ich recht?« Von Hesslers Augenklappe schien Begeisterung auszustrahlen, nicht für den Sprecher natürlich, sondern für das Galvanometer. »Es ist Ihnen vielleicht nicht klar, meine Herren, aber was Sie hier sehen, ist die perfekte Illustration eines inneren Zustandes. Auf dieser Papierrolle findet sich eine präzise Aufzeichnung der Nervenstimulationen. Frau Klopstock mag stillsitzen, aber ihre peripheren Nerven wandeln wie verrückt Energie um und schicken sie in das zentrale Nervensystem. Aus der Bewegung dieser Stifte kann ich mit ziemlicher Sicherheit schließen, dass Frau Klopstock Herrn Hitler weit aufregender findet, als sie erwartet hat. Habe ich recht?«
»Allerdings.« Frau Klopstock konnte kaum ihren Blick von dem Podium losreißen.
Hitler sah sich um und hüstelte in seine Faust. Mit derselben Hand strich er sich dann glättend das in die Stirn gekämmte Haar und hustete noch einmal. Schließlich krächzte er, fast unhörbar: »Menschen von Berlin ...«
Die ganze Arena schien auf die Füße zu springen. »Heil! Heil! Heil! Heil!«
Es dauerte ein paar Minuten, bis sich alle wieder beruhigt hatten, so dass Hitler fortfahren konnte. Als er dann sprach, war seine Stimme so leise, dass sich die Zuhörer unwillkürlich fast vorbeugten, um sie besser verstehen zu können.
»Der Erfolg«, flüsterte er, »ist alleiniger Richter über Richtig und Falsch. Wir brauchen dafür nur auf die Straßen unserer Hauptstadt zu blicken.« Beinahe unmerklich wurde seine Stimme lauter. »Auf die Millionen ohne Arbeit. Ohne Würde. Ohne Hoffnung.« Allmählich schien jede einzelne Silbe an Lautstärke zuzunehmen. »Um zu begreifen, in welche Hölle diese Republik uns gestürzt hat.«
Dann donnerten seine Worte förmlich aus den Lautsprechern.
»Nicht persönliche Bereicherung, sondern das Gemeinwohl muss das vorrangige Streben derer sein, die Deutschland führen. Die Tage der individuellen Glückseligkeit sind vorbei. Der Untergang dieser Nation kann nur durch einen Sturm der Leidenschaft abgewendet werden. Und zwar von jenen, die selbst leidenschaftlich sind und diese Leidenschaft auch in anderen erwecken können!«
Kraus’ Mund war trocken. Er fühlte sich von diesen Worten seltsam berührt, war sich ihres zwingenden Appells bewusst und stimmte ihm sogar in einem gewissen Maße zu. Es war keineswegs übertrieben, zu behaupten, dass die Republik an den Nähten ausfranste, dass die Regierung paralysiert war und die ökonomische Krise kein Ende zu nehmen schien. Vielleicht hätte man jemanden mit dem Charisma eines Bismarcks benötigt, um das alles zusammenzuhalten und die Nation wieder zu Wohlstand und Selbstachtung zurückzuführen. Hitlers Stimme war so schrill geworden, so barsch und so aggressiv, dass sie Kraus in den Ohren schmerzte.
»Es darf keine Schichten oder Klassen mehr geben!« Der Sprecher stach mit dem Finger wütend in die Luft. »Alle Deutschen sind ein Volk! Und es genügt nicht, nur zu nicken. Die Zeit ist gekommen, zu kämpfen!«
Er wandte sich an die uniformierten Reihen zu seinen Füßen.
»Ihr, meine geliebte Jugend ... denkt immer daran: Die Menschheit überlebt nicht durch die Prinzipien der Humanität, sondern nur durch gnadenlosen Kampf. Ihr müsst euch stählen. Das Schwache muss ausgemerzt werden. Ihr seid Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut. All jene, die in dieser Welt nicht kämpfen wollen, verdienen es nicht, zu leben.«
Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust und legte sie dann auf seine Kehle.
»Der Nationalsozialismus ist Deutschlands Zukunft. Um uns herum marschiert Deutschland! In uns marschiert Deutschland! Und hinter uns marschiert Deutschland!«
Das gesamte Publikum war wieder aufgesprungen und brüllte. »Heil! Heil! Heil! Heil!«
Kraus registrierte, dass Hitler geradewegs auf das zentrale Nervensystem gezielt hatte, das von Hessler soeben zu entziffern versuchte. Er stimulierte eine Leidenschaft in seinen Zuhörern, eine Leidenschaft, von der sie nicht einmal gewusst hatten, dass sie dazu fähig waren. Gebeugte alte Frauen, einarmige Veteranen, Hausfrauen und Bürger ... Sie alle starrten Hitler mit tränennassen Augen an, wie frisch Verheiratete auf ihrer Hochzeitsreise. Wie kleine Kinder ihren Papa. Der Führer würde sie aufrichten. Er würde sie erheben und wieder stark machen. Er würde dafür sorgen, dass es ihnen wieder gut ging.
»Unsere Feinde halten uns für Dreck, auf dem man herumtrampeln kann!« Hitler streckte beide Hände aus und schien jemanden direkt vor sich zu würgen. »Aber wir sind das größte Volk auf der Welt! Wir werden unseren Platz an der Sonne bekommen!« Er legte die Finger an seine Brust und riss daran, so als wollte er sich den Brustkorb aufreißen und den Zuhörern sein bloßes Herz hinhalten.
»Ich werde euch dorthin führen. Das schwöre ich bei Gott!«
Er verdrehte die Augen, und Schaum troff aus seinen Mundwinkeln.
Kraus fuhr entsetzt zurück. Man konnte Hitlers magnetische Ausstrahlung nicht leugnen seine Ideen enthielten sogar gewisse Wahrheiten. Aber der Mann war eindeutig wahnsinnig. Dies hier war keine politische Versammlung, sondern blanke Massenhysterie. Selbst Frau Klopstock liefen unter ihrer Drahtkrone Tränen die Wangen hinab, und die Nadeln des EEGs drohten fast vom Papier zu hüpfen.
»Fantastisch, hab ich recht?«, rief von Hessler. Diesmal meinte er offenkundig nicht nur seine Testergebnisse, sondern auch den Naziführer. »Das hier bestätigt vollkommen die Theorie von der Freisetzung von Energie: die Befreiung von Hitze und Kraft in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Physik. Der Prozess, der Zellen befähigt, sich zu erneuern, so wie sich auch eine Nation regenerieren muss!«
Kraus wollte nur noch eins: diesem Wahnsinn entkommen.
Aber wenigstens hatte er jetzt den Reiz begriffen, den diese Nazi-Bewegung für eine gestörte Seele wie die der Hirtin besaß. Ordnung. Ausrichtung. Ein Ort, an dem sie sich verlieren konnte. Ein Idol, das sie verehren konnte.
Er konnte sie praktisch da draußen mitten in dem kreischenden Mob spüren.
Und sobald er sie gefunden hatte, würde er auch den Kinderfresser finden.