EINS

Berlin, Oktober 1929

»Ich werde euch Respekt lehren!« Die Peitsche der Schulmeisterin erzeugte Gänsehaut auf Kraus’ Beinen. »Runter mit den Unterhosen!«

Unten auf der Bühne zitterten die nur mit Unterhosen bekleideten Jungen, als sich ihnen ihre Zuchtmeisterin in glänzenden, schwarzen Lederstiefeln näherte. »Bückt euch!« Sie ließ die Peitsche knallen. Welche andere Wahl hatten sie, als zu gehorchen, alles zu tun, was sie wollte? »Es ist nur zu eurem Besten!« Ihr kräftiger, weißer Arm hob sich. Als ihr Zorn auf sie herabfuhr, machte sich überbordende Heiterkeit im Admiralspalast breit, denn die traumatisierten Frechdachse auf der Bühne waren, wie das Scheinwerferlicht jetzt enthüllte, gar keine Frechdachse, sondern Männer in mittleren Jahren mit schlaffen, an Kartoffelsäcke erinnernden Kehrseiten.

»Keine Scham, was? Keine Furcht vor Autorität?« Die Lehrerin kam allmählich in Fahrt. »Nehmt das, ihr nutzloses Gesindel! Und das. Und das!«

Je härter sie zuschlug, desto begeisterter reagierte das Publikum. Diese Opfer liebten es ganz offensichtlich, versohlt zu werden, und die Perversion dieser Darbietung reizte offenbar ein kollektives, tief sitzendes Gefühl von Vergnügen. Außer in einigen wenigen, uninteressierten Seelen – wie der von Kraus. Oder der preußischen Baroness, die neben ihm saß und die Vorführung unbeweglich verfolgte, als wäre sie aus Gusseisen.

»Also.« Schließlich nahm sie die Zigarettenspitze aus dem Mund. »Soweit hat euch also eure kostbare Freiheit gebracht, Fritz.« Ihr Kinn deutete wie eine Kanone auf ihren Gastgeber. »Seit dem antiken Rom hat die Welt eine solche Dekadenz nicht mehr erlebt.«

»Sie vergeben mir sicher, Baroness, dass mich diese Darbietung Ihrer Aversion nicht sonderlich erschüttert.« Fritz’ blonder Schnurrbart kräuselte sich, als er spöttisch grinste.

»Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun?«, erwiderte die Baroness. »Mich errötend hinter meinem Ärmel verstecken?«

Kraus saß eingeklemmt zwischen den beiden. Ihr Argument war stichhaltig, weil sie schlicht und einfach nichts hatte, wohinter sie sich hätte verstecken können. Sämtliche Damen trugen schulterfreie Abendgarderobe, auch die alte Baroness. Kein einziger Ärmel war zu sehen. Allerdings war das angesichts ihrer Oberarme eher ein Pyrrhus-Sieg, und als jetzt die Zuschauer erneut begeistert brüllten und die Schreie auf der Bühne zu einem unverkennbaren Gruppenhöhepunkt anschwollen, entrang sich ein lauter Seufzer ihrem juwelengeschmückten Busen.

»Ein höchst unheilvolles Omen unserer Zeit.«

Dann schob sie sich die Zigarettenspitze wieder zwischen die Zähne.

Bei ihren Worten konnte sich Dr. von Hessler, der ihr gegenübersaß, kaum noch beherrschen. »Wie Sie wissen, Baroness, ändern sich die Zeiten. Noch vor zwei Jahrhunderten wäre es undenkbar gewesen, dass ein Prinz nach dem Dinner seinen Stuhlgang vollzogen hätte, ohne dass seine Gäste den königlichen Gestank mitbekommen hätten.«

Die übrigen Gäste am Tisch erstarrten.

Von Hessler war ein alter Schulfreund von Fritz und so etwas wie ein Wissenschaftler. Allerdings hielt er sich mit genaueren Erklärungen zurück. Kraus konnte nicht genau sagen, ob er tatsächlich ein Doktor war; aber jedes Mal, wenn sie sich begegneten, ließ von Hessler durchschimmern, dass er an einem »bahnbrechenden Werk« arbeitete. Ein ziemlich wichtigtuerischer Kauz, dachte Kraus, obwohl er nicht behaupten konnte, den Mann gut zu kennen, trotz ihrer gemeinsamen langen Bekanntschaft mit Fritz. Von Hessler war ebenfalls an der französischen Front gewesen. Nach dem Krieg hatte er die schwarze Klappe über dem Auge, das er in Verdun verloren hatte, durch eine aus Sterlingsilber ersetzt, die mit einem Lederband befestigt war. Das Silber war auf Hochglanz poliert, sodass man, wenn man mit ihm redete, immer eine Reflektion von sich selbst wahrnahm ... was recht merkwürdig war.

»Und worauf wollen Sie mit diesem zauberhaften Bonmot hinaus?« Die Baroness lächelte gereizt. »Wollen Sie vielleicht andeuten, dass der Unterschied zwischen Tugend und Laster nur relativ ist, Herr Doktor?«

Von Hessler hob bedauernd seine Handflächen.

In diesem Augenblick bemerkte Kraus, wie Vicki ihn von der anderen Tischseite aus unter ihrem braunen Pony hinweg betrachtete. Grundgütiger Himmel, dachte er. Sie hatte ihn mitten beim Gähnen erwischt. Als sie den Kopf schief legte, als wollte sie damit fragen, ob es ihm gut ginge, durchzuckten ihn Gewissensbisse. Normalerweise erzählte er ihr stets von seinen Fällen, diesmal jedoch hatte er es nicht getan. Wenn es um Kinder ging, regte sie sich zu sehr auf. Also zwinkerte er ihr beruhigend zu und konzentrierte sich wieder auf die Feier.

Von allen Anwesenden, die Fritz’ Geburtstag feierten, fühlte sich Kraus hier am deplaziertesten; er wäre noch lieber woanders gewesen als die Baroness. Nicht, dass er Fritz nicht mochte. Er würde für seinen alten Kriegskameraden alles tun; schließlich besuchte er ja ihm zum Gefallen sogar mitten in der Woche diese geistlose Revue. Aber Fritz war ein Aristokrat, und so froh Kraus auch über ihre Freundschaft war, historisch betrachtet war sie dennoch nur ein Zufall. Was Kraus problemlos akzeptieren konnte. Es lag auch nicht an Fritz, sondern an dieser Art von Unterhaltung; diese perverse Melange aus Zucker und Exkrementen ging Kraus unter die Haut. Nicht etwa, weil er ein Gesetzesvertreter war. Es gab keine Gesetze gegen ordinären Tingeltangel, zumal wenn er veranstaltet wurde, um ein Waisenhaus zu unterstützen. Es ging ihm einfach nur gegen den Strich.

Nach allem, was er an diesem Morgen gesehen hatte.

Der unaufhörliche Wolkenbruch in der Nacht hatte etwa eine halbe Stunde weiter östlich ein wahres Horrorszenario hochgespült, draußen, im industriellen Lichtenberg. Im Untergeschoss einer Baustelle war ein Jutesack hochgespült worden, offenbar wegen einer Verstopfung in der Kanalisation. Als Kraus am Schauplatz eintraf, standen mindestens zwölf Leute um den Sack herum und starrten auf den Inhalt, der herausgeschwemmt worden war. Wahrlich ein Spektakel! Es handelte sich um Knochen. Fast zwei Dutzend, aber nicht einfach willkürlich durcheinandergewürfelt, sondern nach Größe und Form sortiert. Und zusammengebunden zu etwas, das man nur als ... Arrangements bezeichnen konnte. Arm- und Beinknochen, die fast wie Blumenbuketts angeordnet waren. Zehenund Fingerknochen, die mit irgendeinem kräftigen Faden zu so etwas wie ... Schmuckstücken gebunden waren. Kleine Lendenwirbel, in die kleine Löcher gebohrt worden waren. Kraus hatte so etwas noch nie gesehen oder auch nur davon gehört. Nach einer ersten flüchtigen Untersuchung hatte der Rechtsmediziner Dr. Hoffnung erklärt, dass die Knochen höchstwahrscheinlich menschlicher Natur waren und eindeutig keinem Erwachsenen gehört hatten. Nach Größe und Dichte zu urteilen, waren es Knochen von Kindern. Die Form der Beckenknochen ließ Hoffnungs Worten zufolge auf Jungen schließen. Auf insgesamt vier oder fünf verschiedene Jungen.

Kraus rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.

Als die Schulmeisterin und ihre Schülerinnen sich unter tosendem Beifall verbeugten und der »Lektion gut gelernt« betitelte Sketch endete, klatschte Kraus automatisch mit. Drei Jahre an der Westfront. Sieben bei der Kripo, Berlins überaus fleißiger Kriminalpolizei. Niemand konnte behaupten, er hätte nicht sein gerüttelt Maß an Wahnsinn gesehen. Aber ... Knochenkunst?

»Die Nächsten, die die Waisenkinder von Berlin unterstützen«, drang die Stimme des Conférenciers durch das Theater, »sind die bestaussehenden und bestausgebildeten Damen der Stadt ...«

Vierundsechzig wunderschöne Beine steppten in perfekten Reihen über die Bühne.

»Sie tanzen synkopisch zu einem Stück namens ›Massenproduktion‹ ...«

Zweiunddreißig geschmeidige Körper in winzigen, schulterfreien Miedern, in weißen Minihöschen und Spitzensöckchen in glitzernden Pumps.

»Der Admiralspalast präsentiert Ihnen mit großer Freude seine ... Tiller-Girls!«

»Eins, zwei, drei, los!«, kreischte eine, und alle zweiunddreißig Mädchen begannen eine einstudierte Hommage an moderne Produktionsverfahren. Ihre Reihen formten sich zu drehenden Zahnrädern, pumpenden Kolben, Keilriemen, selbst zu einer gigantischen Schreibmaschine. Sie hoben die Beine, ihre Absätze steppten, und sie bewegten die Schultern in rasend schneller Effizienz, während ihre einzelnen Muskeln alle wie einer arbeiteten. Kein Zeh traute sich, aus der Reihe zu tanzen. Das Publikum johlte vor Begeisterung. Das ist eine Welt, in der sie sich glücklich fühlen können, dachte Kraus. Eine synchrone, eine geordnete Welt. Das Individuum, von der Masse absorbiert und im Gleichschritt. Die Zuschauer jubelten noch lange, nachdem die Tiller-Girls als Diesellokomotive von der Bühne gerauscht waren.

»Wirklich phantastisch«, meinte Fritz’ Frau Sylvie, deren Zähne weiß strahlten.

»Welche Präzision«, setzte Vicki mit nahezu glaubwürdiger Aufrichtigkeit hinzu. Kraus wusste, dass sie hundertmal lieber einer Symphonie gelauscht hätte, aber sie wäre niemals so unhöflich gewesen, das auch zu sagen.

Die Baroness dagegen nahm selbstverständlich auf solche bourgeoisen Empfindlichkeiten keinerlei Rücksicht. »Ein perfekter Haufen von Sie-wissen-schon.« Sie steckte eine weitere Zigarette in ihre Spitze. »Keine Moral. Keine Geschichte. Nur ein großer Eimer von ...«

»Zufällig bin ich diesmal Ihrer Meinung.« Von Hessler rückte seine Augenklappe zurecht. »Die Revue hält unserer Republik in brutaler Weise einen Spiegel vor. Wie glänzend sie auf der Oberfläche auch sein mag, darunter ist sie völlig zersplittert. Mich überkommt tatsächlich zurzeit auf den Straßen von Berlin immer wieder das Gefühl, dass alles in einem Moment einfach ...« Er breitete ruckartig die Hände aus.

In der Pause flammten die Lichter im Saal auf. Wie es aussah, gab sich bei der Wohltätigkeitsgala toute le Monde die Ehre. In den Logen drängten sich Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute, deren aufgedonnerte Gemahlinnen aufgeregt miteinander plauderten. Im ersten Rang, wo Kraus saß, wimmelte es von Industriellen und Kaufhausbesitzern, Verlegern, Politikern und Dutzenden von Unterweltbossen, die sich bunt gemischt an den Tischen drängten. Fritz, Cousin dritten Grades des abgesetzten Kaisers und dazu Korrespondent für fünf oder sechs Zeitungen, hatte einen gut platzierten Ecktisch mit Blick auf das Orchester ergattert. Unter ihnen, direkt vor der Hauptbühne, wo die Fotografen Platz für Nahaufnahmen hatten, wimmelte es von Stars. Weltbekannte Dramatiker, Architekten und Künstler: Brecht, Gropius, Klee und Kandinsky. Selbst Albert Einstein war mit seiner Frau erschienen, um das Waisenhaus für Jungen und Mädchen zu unterstützen. Es ging hier vielleicht nicht zu wie im Florenz der Medicis, aber gegen alle Logik und Wahrscheinlichkeit war Berlin, das erst vor einem Jahrzehnt im Krieg bezwungen und anschließend von der großen Inflation heimgesucht worden war, irgendwie als Kulturhauptstadt Europas wieder auferstanden.

»Dieses Land wird nicht ohne eine feste Hand überleben, die es führt. Glauben Sie mir.« Ein sardonisches Grinsen schien auf den alten, mit Rouge geschminkten Wangen der Baroness zu gefrieren.

»Ach Quatsch.« Der Blick von Fritz’ blauen Augen zuckte in ihre Richtung. »Deutschland war noch nie besser dran. Die Demokratie hat Wurzeln geschlagen. Die Wirtschaft floriert. Wir haben den höchsten Lebensstandard aller Länder in Europa.«

»Aber wir genießen keinerlei Respekt, Fritzchen.« Die Ironie troff förmlich aus ihren Worten. »Und was sind wir ohne Respekt?« Eine Welle echter Trauer flog über ihr Gesicht. »Barbaren, mehr nicht. Von Monte Carlo bis nach Moskau ist Berlin zu einem Schlagwort für ... Verkommenheit geworden.«

Dieses Wort versetzte Kraus wieder zurück nach Lichtenberg, zu den hämmernden Fabriken, den Rauchwolken. Und auf den Boden dieser Baugrube und zu dem Jutesack, in dem sich neben diesen bizarren Knochen auch eine Bibel befunden hatte. Die meisten Seiten waren durch das Wasser unleserlich geworden. Aber etliche Passagen, die immer noch entzifferbar waren, hatte irgendjemand rot umrandet. Eine fiel besonders auf. Aus dem Neuen Testament, Epheser: »... und auch Euch, die ihr tot waret durch Übertretungen und Sünden, in welchen ihr weiland gewandelt habt ... waren auch Kinder des Zorns von Natur.« Selbst wenn er jetzt daran dachte, wurden seine Hände feucht.

Irgendetwas Düsteres war mit diesem Sack hochgespült worden.

Düsterer, als er es je hätte fürchten können.

Von Hesslers Augenklappe schimmerte im Licht der Kristalllüster. »Die Baroness hat recht, fürchte ich. Im Grunde leiden wir Deutsche unter einem entsetzlichen Mangel an Selbstbeherrschung, weshalb wir uns auch so schrecklich nach Ordnung sehnen. Früher oder später wird uns jemand von dieser ganzen Emanzipation emanzipieren müssen.« Er lachte bellend, fast irre über seinen eigenen Scherz.

Aus dem Orchestergraben ertönte ein Chor von tiefen Trommeln. »Und jetzt ...«, es wurde wieder dunkel im Theater, »... die Frau, deren Name zu einem Symbol für das Zeitalter des Jazz geworden ist ... der Welt berühmteste Bühnenpersönlichkeit ... die unglaublich raffinierte ... schrecklich wilde ... absolut einzigartige ... Josephine Baker!«

Wie ein tropischer Sturm fegte die legendäre amerikanische Sängerin vom Folies Bergère in Paris, wo sie üblicherweise auftrat, auf die Bühne; zwei miteinander konkurrierende Scheinwerfer zuckten über ihre glänzenden schwarzen Haare, die sich in großen Schmachtlocken auf ihre Wangen legten. Ihre Brüste wurden von bunten Seemuscheln gehalten, und um die Taille trug sie ihren berühmten Bananenrock; jede einzelne Frucht ragte unmissverständlich hoch und hüpfte wild, während sie ihren berühmten »Dschungeltanz« aufführte. Anders als bei den Tiller-Girls schien jedes Gelenk in Bakers Körper einen eigenen Willen zu besitzen; Hüfte, Handgelenke, Knöchel, Beine, alles bewegte sich in unterschiedliche Richtungen, als hingen sie überhaupt nicht miteinander zusammen. Selbst ihre Augäpfel schienen in ihrem Kopf zu kreisen. Nicht einmal die zurückhaltendsten Zuschauer vermochten ihr zu widerstehen, und als sie schließlich fertig war, erhob sich das ganze Haus, um die dunkle Göttin mit einem Sturm aus Ehrfurcht und Bewunderung zu ehren. »Davon können wir jedenfalls noch unseren Enkeln erzählen.« Vicki schob sich unter Kraus’ Arm, als sie in die glitzernde Menge eintauchten, die aus dem Hof strömte. »Die Nacht, in der wir Josephine Baker im Admiralspalast gesehen haben.«

Über die belebte Friedrichstraße fegte der Wind vom Fluss her. Die Reihe von Taxen erstreckte sich fast bis zur Weidendammer Brücke. Es war wirklich verrückt, dass sie nichts Wärmeres mitgenommen hatte als einen dünnen Seidenschal. Aber trotz der Wettervorhersage hatte sie nicht glauben wollen, dass die Temperaturen wirklich so schnell fallen würden. »Darf ich dein Dinnerjackett haben, Liebling?«, musste sie ihn bitten.

»Entschuldige.« Kraus riss es sich fast vom Leib. »Ich war abgelenkt ...«

... von dem Jutesack. Er hatte über den Faden nachgedacht, der benutzt worden war, um diese Knochen zusammenzubinden. Auf den ersten Blick hatte er ausgesehen wie Tierdarm. Hoffnung hatte ihm versichert, dass das Labor die genaue Herkunft bestimmen könnte. Aber so etwas brauchte Zeit.

Vicki hatte sich Kraus’ Jackett übergeworfen, stellte sich in ihren blauen Seidenpumps auf die Zehenspitzen und schüttelte ihren Pony zurück. Die Perlen an ihrem Kleid klimperten, als sie ihm ihre Lippen ans Ohr legte. »Diese Show hat mich ganz schön in Fahrt gebracht.« Ihre Augen funkelten anzüglich. Sie waren jetzt fast zehn Jahre verheiratet, aber Kraus dankte immer noch seinem Glücksstern für diese Frau.

Bedauerlicherweise strömten die Leute jetzt nicht nur aus dem Admiralspalast, sondern auch aus den Vorstellungen im Wintergarten gegenüber und dem Metropol etwas weiter unten auf der Straße. Nicht ein einziges freies Taxi war zu sehen. Nach einer Weile zitterte Vicki wieder vor Kälte, und er fühlte sich irgendwie wie ein Versager. Er hätte wirklich den Opel nehmen sollen.

Plötzlich tauchte ein offenes, schwarzes Sportcabriolet neben ihnen wie eine Erscheinung aus der Zukunft auf. »Alles in Ordnung?« Dr. von Hesslers silberne Augenklappe glitzerte hinter dem übergroßen Lenkrad. »Oder sitzen Sie hier fest?« Es war der neue Mercedes SSK, der meistdiskutierte Wagen in Deutschland. Laut der Sonntagsbeilage war dieses 1930er Modell ein »Rembrandt aus Stahl und Gummi«. Nur vierzig Exemplare hatten die Fertigungshalle verlassen, die letzten einer ganzen Reihe von Fahrzeugen, die von dem brillanten Ferdinand Porsche für Mercedes-Benz entworfen worden waren. Danach hatte er Mercedes verlassen, um seine eigene Firma zu gründen. Der Wagen hatte eine revolutionäre Silhouette, die stromlinienförmig genannt wurde. Geschwungen, niedrig und schlank wie ein Geschoss sah der Wagen fast aus, als könnte er auch genauso schnell fliegen. Zusammen mit dem Luftschiff Graf Zeppelin, dem Dornier-Flugboot und der gigantischen neuen Bremen, dem schnellsten Ozeanriesen der Welt, war der SSK einer der Gründe, warum die Deutschen im Augenblick die Köpfe ein wenig höher trugen.

»In welche Richtung müssen Sie denn?«, erkundigte sich der Doktor.

Willi machte eine abwehrende Handbewegung, als wäre es auf halbem Weg zum Mars. »Wilmersdorf.«

»Liegt in meiner Richtung.« Von Hessler ließ die 6,8-Liter-Maschine aufheulen. »Ich wohne in Grunewald.« Als er ihr Zögern spürte, wurde er ungeduldig. »Zwingen Sie mich nicht dazu, meine höhere gesellschaftliche Stellung zu benutzen.« Auf seine unnachahmliche Art wollte er sie anscheinend wissen lassen, dass sie keineswegs zu ordinär waren, um mit ihm zu fahren. Wirklich sehr umsichtig, dachte Kraus und machte dann den Fehler, Vicki anzusehen. Unter ihrem dunklen Pony, das weiße Dinnerjackett mit der Hand umklammernd, wirkte sie wie einer dieser Jungs, die sterben würden, wenn sie einmal Achterbahn fahren durften. Ach, zum Teufel! Machten sie es eben zu einem denkwürdigen Tag, einem für die Geschichtsbücher. Josephine Baker und eine Fahrt in einem SSK und beides in einer Nacht.

Als Kraus die Beifahrertür öffnete, genügte ein Blick auf sein Spiegelbild in von Hesslers Augenklappe, um ihn das Fürchten zu lehren.

Der Wagen war ein Zweisitzer. Vicki musste sich zwischen sie quetschen. Als der Doktor den großen, schwarzen Ganghebel einlegte, brummte es, und sie rasten davon. Der Wagen beschrieb mit quietschenden Reifen eine verrückte Kehrtwendung, und sie wurden in die Sitze zurückgepresst. Es war Freitagnacht. Die Friedrichstraße war vollkommen verstopft. Dieser Verrückte aber beschleunigte, als wäre er bei einem Grand-Prix-Finale. Jenseits der S-Bahn-Station schienen die Lichter der Nachtclubs zu einem einzigen zu verschwimmen: Haller-Revue ... Salamander ... Café Imprimator. Werbetafeln fegten über ihren Köpfen vorbei. Aschinger am Bahnhoooo ... Sie rasten so schnell an einer gelben Straßenbahn vorbei, dass Kraus nicht einmal die Nummer der Linie erkennen konnte.

»Sie haben doch keine Angst, oder?« Dem Doktor schien sein spöttisches Grinsen angeboren zu sein.

Kraus konnte sich gut vorstellen, dass Leute diese Miene verabscheuten.

Während er mit einer Hand Vicki und sich selbst mit der anderen an der ledernen Armstütze festhielt, erinnerte er sich daran, wie ihm einmal als Teenager auf einem Schnellboot schlecht geworden war. Das war der Grund gewesen, warum er beim Heer gelandet und unter Stacheldraht durchgekrochen war.

»Angst?« Belustigung verzerrte Vickis Gesicht. »Au contraire!«

Sie bogen scharf in die Dorotheenstraße ein und tauchten ins Dunkel.

»Ich frage nur, weil ich die menschliche Natur erforsche«, verkündete der Doktor, der schreien musste, um die donnernden 225 Pferdestärken zu übertönen. »Furcht ist eins der Themen, auf die sich meine Studien hauptsächlich konzentrieren.«

»Wie faszinierend.« Vicki legte den Kopf in den Nacken und ließ ihre Bobfrisur fliegen. »Nein, wir haben keine Angst. Oder, Liebling?«

Kraus hätte am liebsten erwidert, dass der Doktor zumindest die Verkehrszeichen beachten könnte.

»Als Wissenschaftler muss ich natürlich mit einem kontrolliertem Versuchsaufbau arbeiten«, schrie von Hessler, als sie um den Reichstag herumjagten. Die gläserne Kuppel war hell erleuchtet, und die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik flatterte stolz darüber. »Aber einige meiner tiefschürfendsten Erkenntnisse habe ich aus rein willkürlichen Beobachtungen gewonnen.« Als sie den grünen Baldachin des Tiergartens erreichten, Berlins größtem Park, musste er wenigstens nicht mehr so laut schreien. Man konnte sogar fast die Sterne am Himmel erkennen. Was romantisch sein könnte, dachte Kraus, wenn der gute Doktor endlich die Klappe halten würde.

»Meine Experimente konzentrieren sich auf etwas, was ich Entkonditionierung nenne, den Bruch erlernter Verhaltensmuster.«

Von Hessler liebte ganz offenbar gebannte Zuhörer und stellte sich wohl vor, er stünde in einem Vorlesungssaal, obwohl Vicki aufgehört hatte, Interesse zu heucheln, und Kraus gar nicht erst damit angefangen hatte. Unter seinem Jackett versteckt, kraulte sie stattdessen sein Hosenbein, was ihm heiße Schauer über den Rücken jagte, und warf ihm hin und wieder einen glühenden Blick zu.

Im beliebtesten Teil von Berlin, rund um die erhabene Kaiser-Wilhelm-Kirche, schien sich die Nacht in den Tag verwandelt zu haben. Alles war in Bewegung. Frauen mit helmartigen Kopfbedeckungen und weiten, wehenden Röcken schlenderten über die Trottoirs. Männer in Zweireihern winkten mit ihren Filzhüten, als sie versuchten, ein Taxi zu erwischen. Werbung leuchtete auf Reklametafeln: Crème Mouson, für die Dame von heute; Audi Typ M: für den Herrn von Welt. Wohin man auch blickte: überall moderner Chic. Türen aus rostfreiem Edelstahl. Lange Bogenfenster. Die besten Boutiquen. Die angesagtesten Restaurants. Die größten Kinos der Nation, aufgereiht wie Ballettmädchen: der Gloria-Palast, das Capital, das UFA am Zoo. Alles protzig, glitzernd, hektisch.

Auf dem Kurfürstendamm, Berlins Broadway, spiegelten die Schaufenster den Verkehr wie in einem Avantgardefilm, mit gebrochenen Perspektiven und strömenden Flüssen aus Licht.

»Deshalb, müssen Sie wissen, ist diese Sache mit dem Respekt, über den die Baroness sich ausließ, alles romantischer Unsinn.« Von Hessler drückte wie besessen auf die Hupe und hätte beinahe ein Paar überfahren, das sich verzweifelt aneinander klammerte, während es dieses Chaos zu überqueren versuchte. »Je mehr wir lernen, desto klarer begreifen wir, dass das, was die Menschen in diesem Universum Ordnung nennen, eigentlich nur eine Konditionierung ist. Auf welcher Straße wohnten Sie doch gleich?«

Weit entfernt von den Menschenmengen und den bunten Lichtern führten die ruhigen Chausseen rund um den Preußischen Park vorbei an stuckverzierten fünfstöckigen Mietshäusern mit Mansardenwohnungen in den hohen Spitzdächern. Sie wurden von über allem herrschenden Wasserspeiern und Walküren aus Stuck gekrönt. Auf der Beckmannstraße sprangen Kraus und Vicki vor ihrem seriösen, ehrbaren Mietshaus förmlich aus von Hesslers Rennwagen und dankten ihm überschwänglich. »Wir sollten das unbedingt noch einmal wiederholen!«, schrie der Doktor ihnen zu. »Unbedingt!«

Vicki winkte ihm nach.

In dem mit Teppichen ausgelegten und von Kristalllüstern beleuchteten Vestibül schlang sie die Arme um Kraus und küsste ihn leidenschaftlich, schob ihre warme, weiche Zunge in seinen Mund.

»Atemberaubend«, flüsterte er.

Im Treppenhaus streifte sie ihre blauen Schuhe ab und forderte ihn auf, die Haken ihres Kleides zu öffnen. Die kleinen Perlen klimperten heftig. Wenn jetzt einer der Nachbarn zusieht?, überlegte er. Das würden sie für den Rest ihres Lebens zu hören bekommen. Sie müssten wahrscheinlich sogar umziehen. Und er müsste seinen Abschied bei der Polizei nehmen. Aber so spät am Abend, mitten in der Woche ... und die Kinder, die auf einem Geburtstag waren und dort schliefen ...

Es war wirklich eine Nacht für die Geschichtsbücher.

Am nächsten Morgen summte Vicki fröhlich und küsste ihn zärtlich auf den Mund, als er zum Frühstück kam. Während die Würstchen in der Pfanne brutzelten, hielt sie sich Bananen an die Hüften und schwang sie in einem kleinen Hula-Tanz, dann fuhr sie mit den Fingern durch seine welligen, dunklen Haare. Was für ein Festtag, wenn die Kinder einmal nicht da waren. Wenn Heinz Winkelmann doch nur öfter Geburtstag hätte. Bis auf diese verdammte Party um vier ... und heute noch einen halben Arbeitstag ... es gab kein Entkommen.

Vicki ließ die Bananen sinken. »Was ist das denn?« Sie riss ihm die Zeitung aus den Händen. VERDORBENE WURST! HUNDERTE ERKRANKT! Die Flamme unter der Pfanne mit der Wurst erlosch. »Selbst während des Krieges habe ich so etwas noch nie gehört.« Sie überflog die Zeilen mit zusammengekniffenen Augen. »Verseuchtes Fleisch, hier in Berlin? Trotz aller Kontrollen, die wir haben?«

»In dieser Welt kann so ziemlich alles passieren, Liebling.« Kraus nahm ihr ruhig die Zeitung weg. »Selbst mit den besten Kontrollen.« Eine andere Geschichte war ihm ins Auge gefallen, eine kleinere Rubrik am unteren Ende der Seite. Offenbar hatte die Börse in New York einen schlechten Tag gehabt.