ZEHN
Berlin, April 1930
Die Glocke bimmelte. Die Türen der Straßenbahn klappten auf. Kraus trat hinaus in die Sonne. Es war ein langer, harter Winter gewesen, und wie alle anderen Einwohner von Berlin war auch er froh, dass er vorbei war. Aber als er nach dem Mittagessen zurück zur Arbeit ging, konnte er die Kälte nicht aus den Knochen schütteln, trotz des warmen Windes, der über den Alexanderplatz strich.
Er erinnerte sich daran, wie verblüfft er gewesen war, als er neulich morgens an dem Trümmerfeld des einstigen Grand Hotels vorbeigegangen war und ein echtes Zigeunerlager vorgefunden hatte, das dort offensichtlich über Nacht aufgeschlagen worden war. Ein Dutzend Zigeuner stand mit ihren Wohnwagen und den Zugpferden da und brutzelte Frühstück über offenen Feuern. Am Mittag waren sie ziemlich brutal von der Polizei vertrieben worden, und jetzt befand sich dort eine bunte Plakatwand. Darauf waren zwei glänzende Bauwerke abgebildet, die schon bald die Eckpfeiler des neuen Alexanderplatzes bilden sollten. Wenn die beiden Gebäude, das Alexander- und das Berolina-Haus, im Jahr 1932 fertiggestellt waren, würden die gläsernen Galerien im ersten Stock über den Geschäften und Restaurants im Erdgeschoss schweben, sie hätten einen eigenen Zugang zur U-Bahn-Station und etliche Stockwerke mit sonnendurchfluteten Büroräumen. Wenn nur alle Dinge so verwirklicht würden, wie die Künstler sie in ihren Kunstwerken ankündigten, dachte Kraus, während er die modernen Entwürfe bewunderte. Dann wäre die Zukunft rosig. Aber nur sehr selten entsprach etwas letztendlich der Werbung, die dafür gemacht wurde.
Zum Beispiel dieses strahlend neue Jahrzehnt. Bis jetzt stank es nur.
Die große Depression, wie man den Börsenkrach jetzt nannte, zog die ganze Welt in den Abgrund, und nirgendwo geschah das schneller als in Deutschland. In Berlin machten ständig irgendwelche Firmen pleite, und die Produktion wurde überall heruntergefahren. Jede Woche wurden Tausende von Menschen entlassen. Kraus konnte selbst jetzt eine lange Schlange sehen, die nicht nur aus Hilfs- und Fabrikarbeitern bestand, sondern auch aus Verkäufern, Buchhaltern, Ladenbesitzern, leitenden Angestellten, die alle gekommen waren, um ihr Stempelgeld abzuholen. Das die neue Regierung zudem auch noch beschneiden wollte. Die große Koalition aus Zentrumspartei und Liberalen war vor ein paar Tagen auseinandergebrochen, ein weiteres Opfer der Depression. Der neue Kanzler, Brüning, ein glühender Konservativer, war der erste Führer einer Regierung, die nicht von einer Mehrheitspartei gebildet wurde, sondern direkt vom Reichspräsidenten ernannt worden war. Laut Fritz war das eine ganz klare antidemokratische Entwicklung. Kraus hatte sich einige Tiraden von seinem Freund anhören müssen.
»Ich habe Brüning erst neulich in seinem neuen Büro in der Reichskanzlei interviewt.« Fritz zuckte mit den Schultern. Sie saßen im Excelsior, und er schob sich gerade eine Gabel Shrimpscocktail in den Mund. »Er ist in jeder Hinsicht autoritär. Und er hat mir gesagt, er beabsichtige, sein Sparprogramm mit oder ohne dem Reichstag durchzupeitschen.«
»Ich dachte, wir hätten eine Verfassung.«
»Das schon, aber unter besonderen Bedingungen erlaubt Artikel 48 der Verfassung dem Reichspräsidenten, ›Notfall-Maßnahmen‹ ohne Zustimmung des Parlamentes zu ergreifen.«
»Hindenburg wird ihn unterstützen?«
»Die haben das doch gemeinsam ausgeheckt, mein Junge. Die beiden sind glühende Reaktionäre. Im besten Fall wollen sie eine neue Verfassung, die die Rechte des Parlaments beschränkt. Und schlimmstenfalls wollen sie ein Ende der Demokratie. Am meisten würde ihnen zweifellos gefallen, meinen Cousin dritten Grades wieder in seinen gottverdammten Palast zu pflanzen.«
Kraus starrte Fritz verwirrt an. Erzählte sein Freund ihm Märchen? Es kam ihm vollkommen unmöglich vor, dass die Geschichte einen solchen Rückschritt machen könnte. Wieder ein Kaiser in Deutschland? Kaum auszumalen.
Andererseits, wer hätte sich vor einem Jahr die große Depression vorstellen können?
Und als er ein Kind war, wer hätte sich irgendetwas von dem vorstellen können, was damals vor ihnen lag?
Hätte man den Menschen im Juli 1914 gesagt, dass sie an der Schwelle des größten militärischen Konfliktes der menschlichen Geschichte ständen, hätte das ebenso lächerlich geklungen wie wenn man ihnen erzählt hätte, man hätte einen Faun entdeckt. Und dann noch die Niederlage? Die folgende Revolution? Eine liberale Republik?
Die Musik eines Leierkastenmannes lenkte Kraus’ Aufmerksamkeit wieder auf den Bürgersteig. »Ja! Wir haben keine Bananen.« Eine kleine Menge applaudierte dem Affen, der an einer Leine in einem Grasröckchen tanzte. Kraus hatte Mühe, sich an den Straßenhändlern vorbeizudrängen, die das Trottoir bevölkerten.
Es hatte schon immer Straßenhändler auf dem Alex gegeben, die billige Krawatten, Unterwäsche oder Büstenhalter verkauften, Schuhe putzten oder einem anboten, einen zu wiegen. An Wochenenden gab es auch Jongleure und Pantomimen. Männer auf Stelzen. Seit dem Börsenkrach jedoch hatte sich die Zahl der Verkäufer verdreifacht und die Qualität ihrer Waren drastisch verringert. Jetzt hielt einem nach jedem Schritt irgendjemand einen Becher mit Bleistiften, Gummistrippen oder Schuhbänder entgegen. Der flotte Sarkasmus von früher, Komm schon, Mann, stell dich der Realität. Finde raus, wie viel du wiegst!, war der Verzweiflung gewichen. Einen Bleistift für einen Pfennig, mein Herr. Was macht Ihnen das schon aus? Sie können doch ganz sicher einen ...
Kraus hielt den Blick gesenkt.
Jedes Mal, wenn er unter der flatternden Markise von Aschinger hindurchging, einem der beliebtesten Restaurants der Stadt, breitete sich ein ekliges Gefühl in seinem Bauch aus. Denn soweit er wusste, konnte hinter diesem Fenster, in diesen langen, so lecker aussehenden Salamis ...
Aber konnte er denn mehr tun, als er bereits tat?
Natürlich war er zum Kommissar gegangen, sobald er aus Bremerhaven zurückgekommen war.
»Menschenfleisch in unserer Wurst?« Horthstaler schien so sehr mit einer Reihe von Zahlen in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch beschäftigt zu sein, dass er sich nicht einmal die Zeit nahm, hochzublicken. »Eine gewagte Behauptung. Haben Sie Beweise, Kraus?«
Genau das war das Problem, Kraus hatte keine.
Heilbutt hatte ihm unmittelbar, bevor das Schiff ablegte, noch zugerufen, dass die Laborberichte zusammen mit dem Rest der Listeria-Unterlagen verschwunden seien. Kraus versuchte, das seinem Vorgesetzten zu erklären, aber der bemühte sich nicht einmal, Interesse auch nur zu heucheln.
Vor zwei Jahren war Kraus ohne Ersuchen des Kommissars in dessen Abteilung versetzt worden, und Horthstaler hatte sich nie die Mühe gemacht, seine Abneigung gegen Kraus zu verbergen. Normalerweise machte er das, indem er sich Kraus gegenüber vollkommen gleichgültig verhielt. So wie jetzt zum Beispiel, als er keine Sekunde lang aufhörte, etwas zu kritzeln, auszuradieren oder an seinem Bleistift zu lecken. Gelegentlich äußerte sich diese Abneigung auch in offener Feindseligkeit, wenn er zum Beispiel bei den wöchentlichen Mittagessen in die demütigenden Witze der Kollegen einstimmte. Trotzdem konnte er nicht umhin, Kraus’ Fähigkeiten oder dessen nicht gerade geringen Erfolge zur Kenntnis zu nehmen.
»Na gut, wenigstens lassen Sie diesmal Ihre große Nase da, wo sie hingehört. Ach ... um Himmels willen, tun Sie einfach, was Sie für nötig halten, Kraus. Hauptsache, Sie halten mich auf dem Laufenden.«
In gewisser Weise hatte Kraus Horthstalers Verachtung zu schätzen gelernt. Es hatte gewisse Vorteile, wenn man ein Aussätziger war. Horthstaler verschwendete keine Zeit mit ihm und klärte auch den Rest der Abteilung nicht über Kraus’ Fälle auf, wie er es bei den anderen tat. Deshalb hatte Kraus viel Spielraum und konnte arbeiten, ohne dass jemand ihm über die Schulter sah. So funktionierte er am besten. Das hatte er damals, hinter den feindlichen Linien, mehr als einmal machen müssen. Andererseits erschwerte es seine Lage erheblich, wenn er alleine arbeitete. Und in diesem Fall war die Laufarbeit fast nicht zu schaffen. Außerdem konnte es nie schaden, Unterstützung zu haben.
»Übrigens, wie sieht es mit einem Assistenten aus ...?«
»Ich arbeite immer noch daran, Kraus. Ich gebe mir Mühe. Ich habe bereits ein halbes Dutzend Kollegen befragt. Tja, bedauerlicherweise ... sobald sie erfahren, dass Sie ein Jude sind ...«
»Vielleicht muss der Herr Kommissar das ja nicht betonen?«
Jetzt blickte Horthstaler hoch. Menschenfleisch in der Wurst schien ihn nicht zu irritieren, diese Bemerkung dagegen ging ihm offenbar nahe.
Er warf den Bleistift auf den Tisch und starrte Kraus scheinbar aufrichtig enttäuscht an. »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst. Wie kann man jemanden denn so etwas Schreckliches antun, Kraus?«
In dem Geschäft neben Aschinger, im Schaufenster des Pelze-Salons, drapierte eine Verkäuferin liebevoll eine Fuchsstola um die Schultern einer Schaufensterpuppe. Kraus’ zehnter Hochzeitstag stand bevor. Was sollte er Vicki schenken? Die Knopfaugen des Fuchses schienen ihn anzustarren, während er in das Schaufenster blickte und sich vorzustellen versuchte, wie die Pelze an seiner Frau aussehen würden. Schwarzer Nerz? Russischer Zobel?
Kraus wusste sehr genau, dass er Heilbutts Geständnis dem Gesundheitsministerium hätte melden sollen. Aber er hatte es nicht getan. Wenn sich die Regierung einmischte, würde die Fleischindustrie davon Wind bekommen, und er legte keinen Wert auf mitternächtliche Anrufe von irgendwelchen »Freunden«, die ihm rieten, Deutschland zu verlassen. Es war vorteilhafter, diese Angelegenheit alleine zu erledigen.
Luchs? Chinchilla? Nichts schien für Vicki das Richtige zu sein.
Und normalerweise vertraute Kraus seinem Urteilsvermögen.
Selbst nach all den Wochen bedauerte er nicht, dass er davon Abstand genommen hatte, eine Mordanklage im Listeria-Fall anzustrengen. Dr. Riegler mochte vielleicht ihrem schlechten Gewissen erlegen sein, aber das bereitete ihm keine Kopfschmerzen. Theoretisch hätte man Strohmeyer anklagen können, weil es in seiner Firma versäumt worden war, die erworbenen Produkte zu überprüfen, aber man hatte dort keine Gesetze gebrochen. Die Mitarbeiter hatten nur gegen ihre eigene Sicherheitspolitik verstoßen. Außerdem hatte die Firma dichtgemacht, so wie er es vorhergesehen hatte; der Wurstkönig und seine Familie hatten sich nach Paraguay abgesetzt.
Kraus gab seine Suche nach einem passenden Pelz auf und nutzte stattdessen die spiegelnde Schaufensterscheibe des Pelze-Salons, um seine Krawatte zu richten. Im Krieg hatte er auf die harte Tour lernen müssen, dass man sich seine Feinde klug aussuchen musste, sonst riskierte man, sich aufzureiben. Er schob mit dem Finger den Hut ein wenig schief und ging weiter. Die Fleischindustrie zu bekämpfen war den Aufwand nicht wert, ganz gleich, wie er es anfangen würde. Gewiss, sie hatten das Ministerium unter Druck gesetzt, damit die eine Geschichte erfanden, um die Öffentlichkeit in dem Glauben zu wiegen, die Wurst wäre wieder ungefährlich. Doch als sie das getan hatten, war die Wurst ja tatsächlich nicht mehr giftig gewesen. Also, welchen Nutzen hätte es gehabt, gegen sie zu kämpfen?
Vor sich sah Kraus das Werbeschild von Zwilling J. A. Henckel. DIE BESTEN MESSER DER WELT.
Andererseits musste diesem Unhold, der sein Unwesen mit Menschenfleisch trieb, das Handwerk gelegt werden.
Und Kraus war mehr als zuvor davon überzeugt, dass es dieselbe Person war, die auch diese Knochenarrangements gemacht hatte.
Die beiden Fälle waren in Wirklichkeit ein und derselbe.
Zerstreut starrte er in die funkelnden Auslagen im Fenster von Henckel, die langsam auf Ständern rotierten. Er überlegte zum tausendsten Mal, wie sehr alle Fakten auf den Viehhof wiesen. Die gekochten Knochen. Der Überlaufkanal. Heilbutts Behauptungen, was die Wurst anging. Bedauerlicherweise erforderte eine Untersuchung angesichts der Vielzahl von Firmen und der vielen Tausend Beschäftigten ungeheure Mühe. Seiner Meinung nach war der logische Ort, um mit der Untersuchung anzufangen, nicht der Viehhof, sondern die Stelle, wo damals das Hundefleisch in der Wurst aufgetaucht war. Und wo, dessen war er sich sicher, auch die Listerien hergekommen waren.
Der Markt der Illegalen. Die freien Händler.
Es hatte nicht lange gedauert, bis der größte dieser freien Märkte in einer Nebenstraße der Landsberger Allee nach der Schließung im letzten November wieder geöffnet hatte. Kraus konnte das blutige Messer nicht vergessen, mit dem er dort konfrontiert worden war. Da er nicht vorhatte, diese Dummheit zu wiederholen, hatte er nach sorgfältiger Erkundung ein altes Lagerhaus am Rand des Marktes ausgesucht, das eine Hintertreppe hatte, von der niemand zu wissen schien. Dort hatte er sich einen versteckten Aussichtspunkt auf dem Dach eingerichtet, war dann losgegangen und hatte sich einen dieser neuen Feldstecher gekauft. Jetzt konnte er den Leuten dort unten sogar bis auf die Mandeln blicken.
Ab und zu, so wie zum Beispiel heute, zeigte er sich im Büro, damit man ihn nicht vergaß. Aber im Prinzip hockte er jetzt seit zwei Monaten hier oben. Das Anstrengendste waren die Kälte und der Schnee. Und der Regen. Aber Stück für Stück hatte er ein Bild zusammengesetzt, wie dieser Markt funktionierte. Wer ihn betrieb. Wie die Produkte geliefert wurden. Indem er die Nummernschilder auf den Lastwagen zurückverfolgte, hatte er herausgefunden, dass selbst nach dem Alptraum der Listerien die großen Wurstproduzenten weiterhin billiges Füllmaterial von diesen Verkäufern erstanden. Es gab an den lebhaftesten Tagen Dutzende von Buden und Hunderte von Kunden. Es war vollkommen unmöglich, zu erkennen, welches Fass möglicherweise Fleisch von Kindern enthielt. Aber der Mann, der hier die Fäden zog, war derselbe, der Kraus mit dem Messer bedroht hatte. Ein massiger, kahlköpfiger Bulle von Mann mit Armen wie Baumstämmen. Er fuhr einen kleinen, geschlossenen Lastwagen, der überhaupt keine Nummernschilder hatte. Kraus war klar, dass er ihn beschatten musste. Aber er wollte vorher noch die Identität von einem halben Dutzend anderer Widerlinge herausfinden.
Die Messermodelle drehten sich unaufhörlich in Henckels Schaufenster.
Vicki liebte es zu kochen, das schon, aber Kraus musste ihr etwas ... etwas Wundervolles schenken. Und das nicht nur wegen seines schlechten Gewissens, weil er ständig über diesen Fall nachdachte, worüber sie sich zweifellos aufregen würde. Aber, mein Gott, zehn Jahre!
Das war wirklich ein Grund, ernsthaft zu feiern.
An der Ecke Dircksenstraße wartete er geduldig mit den anderen Passanten auf das Zeichen des Polizisten. Die Ermittlungen waren selbstverständlich zeitraubend, so wie es meistens bei guter Ermittlungsarbeit war. Und so lange blieb der Mörder auf freiem Fuß. Aber Freksa hatte trotz all seiner Ressourcen bisher keinen Erfolg gehabt. Dutzende von Männern waren Hunderten von Spuren gefolgt, die alle sozusagen im Schnee verliefen. Das war eine gewaltige Demütigung für die gesamte Berliner Polizei. KRIPO RATLOS!, titelten die Schlagzeilen. WAS IST MIT UNSERER KRIPO LOS? Und die ganze Zeit wurden Knochen am Ufer der Spree angespült, bis hinauf nach Spandau.
Auf halber Strecke über die Dircksenstraße musste Kraus auf der Verkehrsinsel warten, während eine Straßenbahn vorbeiratterte. Ein hellgelber Wagen nach dem anderen fuhr an ihm vorbei, mit Werbung: KAFFEE HAAG ... NIVEA CREME FÜR EIN WEICHERES SELBST ...
Während Kraus den Rest der Straße überquerte, tat ihm Freksa fast leid. Der Goldjunge stand unter einer ausgewachsenen Regenwolke. Vor ein paar Tagen war derselbe Kerl mit dem Klumpfuß, den er schon einmal in seinem Büro gesehen hatte, wieder bei Freksa gewesen und hatte ihn mit beinahe hysterischer Stimme hinter verschlossener Tür zusammengestaucht.
»Sie müssen etwas unternehmen, sonst muss ich Sie warnen, Freksa: Die Konsequenzen werden fürchterlich sein. Wir haben Sie in dieser Angelegenheit die ganze Zeit unterstützt, und jetzt lassen Sie uns schwächlich aussehen. Und das gerade jetzt, wo die Zeit für uns gekommen ist, zu wachsen.«
Worauf hatte sich Freksa da eingelassen?
Als Kraus das Polizeipräsidium erreichte, überflog er mit einem raschen Blick die Titelseiten der Zeitschriften am Kiosk an der Ecke und erwartete die üblichen Schlagzeilen über die Depression. Doch dann schlug ihm das Herz fast bis zum Hals. KINDERFRESSER GEFASST!
Er konnte es nicht glauben.
Oben in seinem Büro erfuhr er jedoch nicht mehr als das, was in den Zeitungen stand: Angeblich hatte Freksa das Monster verhaftet. Es war eine Pressekonferenz einberufen worden, auf der die Einzelheiten enthüllt werden sollten ... aber nur ausgesuchte Journalisten würden anwesend sein. Aus Sicherheitsgründen wurde der Ort der Pressekonferenz geheim gehalten. Nur ein kleiner Kreis von Eingeladenen kannte ihn. Er war so geheim, dass selbst Kraus nichts Näheres herausbekam. Und er war eindeutig nicht eingeladen. Jeder, den er fragte, tat, als wisse er von nichts. Er musste Fritz anrufen, der wiederum seine Kontaktleute anrufen musste, um die Adresse herauszufinden.
Wie sich herausstellte, war es ein alter Fabrikkomplex, der von einem hohen, schmiedeeisernen Zaun eingefasst war. Er befand sich in Lichtenberg, nur ein paar Blocks nördlich von der Stelle, wo die drei Säcke mit Knochen gefunden worden waren. Freksa stand vor der versammelten Presse, einschließlich etwa zweier Dutzend Fotografen und Kraus, von dessen Anwesenheit er sichtlich nicht begeistert war. Die ganze Abteilung war da: Müller, Meyer, Hiller und Stoss. Selbst Kommissar Horthstaler stand hinter Freksa und sah Kraus kalt an. Aber der war zu entsetzt, um sich davon irritieren zu lassen. Wie hatte das alles so schnell passieren können?
Unter einem Blitzlichtgewitter verkündete Freksa, dass er den sogenannten Kinderfresser hinter diesem Gitter auf dem Hof der Fabrik festgesetzt hatte und dass es gar nicht ein Mann war. Sondern eine ganze Bande von Männern. Eine Gruppe von Landstreichern. Zigeuner!
Zigeuner?
Sechs abtrünnige Roma hätten Jungen entführt und ihre Knochen bei grauenvollen, geheimen Ritualen benutzt.
Kraus war wie vor den Kopf gestoßen.
Auf Freksas Wink hin wurden die Journalisten in den Hof geführt, wo sie ein richtiges Zigeunerlager erwartete. Es sah aus wie eine Bühnenrequisite aus Bizets Carmen: Drei fröhlich bemalte Wohnwagen, dieselben, die man noch vor nicht allzu langer Zeit vom Trümmerfeld am Alexanderplatz vertrieben hatte, waren jetzt in einem Halbkreis auf dem gepflasterten Fabrikhof angeordnet. In der Mitte standen sechs schwarzhaarige Männer in Handschellen. Alle ließen sie die Köpfe hängen.
Auf der anderen Seite, hinter dem Zaun, klagten ihre Frauen, Kinder und andere Familienangehörigen. Ihr Jammern wurde jedoch von uniformierten Männern fast übertönt. Es waren vielleicht ein Dutzend Männer, alle mit braunen Mützen, braunen Hemden, braunen Hosen und schwarzen Stiefeln, die den Zigeunern direkt gegenüberstanden. »Rassenschande! Rassenschande!«, brüllten sie mit schrecklicher Wut und schlugen dabei ihre Trommeln. »Deutschland, erwache!« Wer sie waren oder was sie hier taten, wo doch der Ort dieser Pressekonferenz angeblich so geheim war, konnte Kraus sich nicht vorstellen. Aber sie untermalten die ganze Szenerie mit einer eisigen Bedrohung. Kraus bemerkte ihre leuchtend roten Armbinden, die dieselbe schwarze Insignie aufwiesen, die er auf Freksas Reversnadel gesehen hatte. War Freksa irgendeiner radikalen Partei beigetreten?
Jemand stieß in eine Trillerpfeife, und die Männer hörten auf zu brüllen, als Freksa vor die Reporter trat. Langsam und dramatisch deutete der Held mit ausgebreiteten Armen auf die Übeltäter.
»Denunziert von Angehörigen ihres eigenen Clans«, Freksa hob den Arm und schien sie alle mit einem mächtigen Schlag zu enthaupten, »hat jeder dieser sogenannten Menschen den Mord an den dreiundzwanzig Jungen gestanden. Unwiderlegbare Beweise, die Jutesäcke, die Hackmesser und die Art und Weise der Entsorgung, all das haben wir hier in dieser verlassenen Fabrik entdeckt, in dem Nest, in dem dieses Ungeziefer seine ruchlose Existenz fristete. Zu meinen Füßen«, Freksa streckte die Hand aus, und Kraus bemerkte zum ersten Mal den offenen Kanaldeckel, »befindet sich eine Kloake, die direkt zum Überlaufkanal Fünf führt. Er fließt unter dem Park in der Nähe der S-Bahn-Station entlang, wo die Säcke mit den Knochen aufgetaucht sind.«
Also hat er doch auf mich gehört, dachte Kraus erstaunt und fröstelte unwillkürlich.
Hatte Freksa den Fall am Ende tatsächlich aufgeklärt?