FÜNFZEHN

Regen fegte über den Alexanderplatz, in dichten, silbrigen Schleiern; er strömte über die Pflastersteine und das Netz der eisernen Straßenbahngleise, verwandelte die neuen Gräben der U-Bahn in schlammige Kanäle. Er prasselte gegen die wunderschöne Fassade des Kaufhauses Tietz, ließ die Markise von Aschingers Restaurant erzittern und schien den ganzen Alex durchzuschütteln.

Kraus wandte sich von dem Fenster im fünften Stock des Polizeipräsidiums ab und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Seit er vor etlichen Tagen zu seiner Arbeit zurückgekehrt war, hatten seine Kollegen ihn im Grunde ignoriert; also war alles beim Alten. Bis auf die Sekretärin der Abteilung, Frau Garber – Ruta. Sie hatte ihn förmlich verhört, wie seine Reise gewesen war.

»Nun stellen Sie sich das vor ... eine zweite Hochzeitsreise«, hatte sie geseufzt und ihm Kaffee von ihrem Wägelchen eingeschenkt. »Und dann auch noch nach Venedig.«

Wusste sie denn nicht, dass er suspendiert worden war?

»Sie haben wirklich ein großes Herz, Herr Kriminalsekretär. Das unterscheidet Sie von allen anderen hier.«

Natürlich wusste sie es. Sie wollte ihn nur aufbauen. Er war so gerührt, dass ihm sogar das Souvenir einfiel, das er ihr mitgebracht hatte. »Übrigens«, meinte er und reichte ihr einen kleinen Beutel mit Kaffeebohnen. »Das ist für Sie.«

»Italienische Röstung! Herr Kriminalsekretär, Sie ... sind ein Engel!«

Als sich Kraus jetzt auf seinem Stuhl zurücklehnte und dem Wüten des Sturms lauschte, fühlte er sich aber nicht wie ein Engel. Es sei denn, dass auch Engel von Unsicherheit gepackt werden konnten.

Die ganze Woche über hatten Unwetter getobt.

Bereits am ersten Tag hatte er sich gezwungen, zur Verwaltung hinaufzugehen. Jeder Schritt über den langen, mit Granit ausgelegten Flur schien anklagend zu hallen. Er hatte noch nie zuvor einen Kollegen angeschwärzt. Aber er hatte sich letztendlich Vickis Argument angeschlossen: Welche Rolle spielten Ehre und Ruf, wenn unschuldige Menschenleben auf dem Spiel standen?

Dr. Weiß wirkte so froh wie immer, ihn zu sehen, obwohl er auch ein bisschen erschöpft schien. Die persönlichen Angriffe in der Nazipresse gegen ihn gingen unaufhörlich weiter. Es war nicht gerade der beste Zeitpunkt für einen der wenigen anderen jüdischen Beamte in dem Gebäude, ihn um einen Gefallen zu bitten. Trotzdem musste es sein.

»Das ist ja vielleicht eine Geschichte.« Weiß’ scharfe Augen blitzten hinter seiner runden Metallbrille, nachdem Kraus seine Geschichte beendet hatte. Der stellvertretende Polizeipräsident betrachtete die Karten mit den Kanälen und die anderen Beweise vor sich auf dem Schreibtisch und rieb sich die Schläfen. »Mein Gott, diese Leute treiben es wirklich auf die Spitze, Willi. Ich wusste zwar, dass sie versuchen, die Kripo zu infiltrieren, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie schon so weit gekommen sind. Verdammt!« Er schlug mit der Hand auf die Tischplatte. »Goebbels, in diesem Haus!« Weiß nahm einen Bleistift in die Hand. »Die Frage ist nur, was unternehmen wir diesbezüglich?« Er trommelte auf die Schreibtischplatte. »Das wird nicht einfach. Wie immer, wenn es um Politik geht.« Er kritzelte etwas auf die Schreibunterlage. »Geben Sie mir ein paar Tage Zeit. Ich melde mich bei Ihnen.« Kraus sah, dass er ein Hakenkreuz zeichnete. »Es war richtig, dass Sie zu mir gekommen sind.« Weiß macht einen Kreis um das Hakenkreuz und ließ den Bleistift fallen. »Oh, und, Willi ...« Weiß’ Stimme hielt ihn an der Tür auf. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Suspendierung. Ich sorge dafür, dass sie aus Ihrer Personalakte gelöscht wird. Diesen Hundesöhnen zeigen wir es.«

Auf dem langen Gang zurück zur Mordkommission pulsierte eine Mischung aus Zufriedenheit und Zweifel durch Kraus’ ganzen Körper.

Und Weiß reagierte schneller als erwartet.

Bereits am späten Vormittag des nächsten Tages tauchte Freksa an der Tür von Kraus’ Büro auf. Er lungerte dort herum wie ein Bluthund. »Sie glauben wirklich, dass Sie die Sache geklärt haben, hab ich recht?« Er verzog grimmig seine dünnen Lippen. »Das ist eine echte jüdische Verschwörung.«

Kraus holte tief Luft. »Merkwürdig, so etwas aus Ihrem Mund zu hören, Freksa. Aus dem Mund eines Mannes, der keinerlei Skrupel hat, sechs unschuldige Männer festzunehmen und dafür einen Massenmörder frei herumlaufen zu lassen.«

Freksas kantiges Kinn zitterte vor Wut. »Ich mache, was man mir befiehlt, Jude. So wie ich es auch jetzt mache, nachdem mir Ihr hakennasiger Freund angedroht hat, mir gehörig den Kopf zu waschen. Aber ich warne Sie, der Tag der Abrechnung ist nah.«

Kraus hatte nichts erwidert.

In Wahrheit war Freksa glimpflich davongekommen. Viel zu glimpflich, dachte Kraus, obwohl er es verstand, nachdem Dr. Weiß ihm die Lage erklärt hatte. Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage, hatte der Polizeivizepräsident am Telefon erklärt, wäre die öffentliche Enthüllung eines so schrecklichen Vergehens durch Deutschlands berühmtesten Kriminalbeamten viel zu riskant. Zusammen mit der Reichswehr war die Polizei zur Zeit einer der wenigen stabilen Eckpfeiler der Republik, und sie konnte sich einen so verheerenden Schlag gegen diese Integrität nicht leisten. Freksa musste die Schweinerei beseitigen, die er angerichtet hatte, und unter der Demütigung leiden, ertappt worden zu sein. Kraus befriedigte sein Sieg über den Kollegen nicht sonderlich, bis zum nächsten Tag, als die Schlagzeilen sich förmlich überschlugen: BEWEISE NICHT ÜBERZEUGEND ... ALLE SECHS ZIGEUNER FREIGELASSEN!

Vicki war so stolz auf ihn, dass sie ihm in dieser Nacht eine ihrer besonderen Fußmassagen zuteil werden ließ.

»Siehst du – fühlst du dich jetzt nicht besser? Du hast richtig gehandelt, Liebling. Lassen wir die ganze Sache hinter uns.« Kraus war nicht dumm genug zu glauben, sein Ärger mit Freksa wäre vorbei, aber das Drama am folgenden Tag hatte nichts mit dem Nazi zu tun. Als er vor die Haustür trat, um die Flasche Milch hereinzuholen, die jeden Morgen dorthin gestellt wurde, hörte er merkwürdige Geräusche vom Treppenabsatz über ihm. Er schlich auf Zehenspitzen hinauf und fand seinen Nachbarn Winkelmann auf den Stufen sitzen. Er weinte wie ein Kind.

»Otto.« Er setzte sich neben ihn. »Meine Güte, nun komm schon, das wird schon wieder.«

»Ich habe alles verloren«, jammerte Winkelmann und rang nach Luft. »Alles.«

»Ach, Mensch! Was passiert ist, ist schrecklich, das stimmt. Aber das kriegst du schon hin. So wie wir schon so viel gemeinsam überstanden haben. Vicki und ich werden alles tun, was wir können ...«

Schlagartig hörte Otto auf zu weinen, und seine Augen blitzten plötzlich vor Wut. »Das verstehst du nicht, Kraus. Du bist ein gemachter Mann. Und ich dachte, ich hätte endlich auch eine Chance. Dieses Geschäft war mein Baby.« Seine Stimme brach, und erneut rannen Tränen über seine Wangen. »Ich habe alles getan, was ich konnte, um es zu halten.«

Kraus legte ihm einen Arm um die Schultern. »Natürlich hast du das. Du trägst keine Schuld daran. Es ist einfach eine schlimme Situation. Diese Krise entwickelt sich zu einer echten Depression, sagt man.«

»Wir haben ein bisschen zur Seite gelegt, aber was ist, wenn das aufgebraucht ist? Du siehst doch all die Familien, die aus ihren Wohnungen geworfen werden und mit ihrer ganzen Habe auf dem Bürgersteig landen. Das kann ich nicht zulassen, Willi. Ich schäme mich so.«

Kraus schnürte sich vor Mitleid die Kehle zu. Er wusste nicht, was er noch sagen sollte.

Der Sturm schien jede Minute stärker zu werden. Der Regen prasselte wie ein Trommelwirbel gegen die Fensterscheibe. Er war froh, dass er jetzt wenigstens nicht auf dem Dach über dem Markt sein musste, wo er den größten Teil der Woche verbracht hatte; in der ersten richtigen Sommerhitze des Jahres hatte ihn der Gestank selbst fünf Stockwerke über der Straße geradezu erstickt. Er hatte nicht das geringste Verlangen, sich im Juli dort oben aufzuhalten. Bedauerlicherweise waren all seine Bemühungen, die Operationsbasis des Ochsen zu finden, nicht von Erfolg gekrönt worden. Es war ihm nur einmal gelungen, den Kerl zu verfolgen, und zwar zu einem Biergarten in Kreuzberg. Danach war der Ochse vollkommen abgetaucht, was eigentlich merkwürdig war, weil sich der Mann normalerweise immer irgendwo auf dem Markt herumdrückte.

Mehr als einmal erwog Kraus seine anderen Möglichkeiten; Helga, die Hohepriesterin, oder Kai, der Straßenjunge zum Beispiel. Er fragte sich, was er tun würde, wenn sie plötzlich mit neuen Nachrichten über die Hirtin auftauchten. Er war sich nicht sicher, angesichts des Versprechens, das er seiner Frau gegeben hatte. Aber auf dem Weg zur Arbeit am gestrigen Tag war wie aus heiterem Himmel eine Erleuchtung über ihn gekommen. Nicht nur Helga kannte die Hirtin, sondern auch Pastor Braunschweig. Diese Bibelpassage aus dem Brief an die Epheser! Natürlich! Überwältigt von der Möglichkeit, an neue Informationen zu kommen, sprang Kraus an der Spandauer Straße von der Straßenbahn und eilte an den Mietskasernen vorbei. Erst als er vor der Kapelle stand, wurde ihm bewusst, dass er dabei war, sein Versprechen zu brechen – ein Versprechen, das er Vicki vor noch nicht ganz einer Woche gegeben hatte.

Vielleicht war es ganz gut so, dass die Putzfrau in der Kirche keine guten Neuigkeiten für ihn hatte. Er versuchte, sich mit diesem Gedanken zu trösten. »Der Pastor ist für drei Monate in einer Entzugsklinik in Baden-Baden.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Die Kirche hat ihn dazu gezwungen. Ich fürchte, das ist seine letzte Hoffnung.«

Kraus nahm diese Neuigkeit mit gemischten Gefühlen entgegen, aber was blieb ihm übrig, als dem armen Teufel Glück zu wünschen?

Und dann jetzt, zu allem Überfluss, heute Morgen, mitten in diesem stürmischen Wind und dem Regen, diese Nachricht ... persönlich überbracht mit einer Tasse Kaffee.

»Alle sind geradezu süchtig nach dieser italienischen Röstung.« Ruta zwinkerte ihm zu, als sie ihm eine Tasse einschenkte. »Sie müssen bald wieder nach Venedig fahren, um Nachschub zu holen.«

Nichts lieber als das.

»Und«, sie griff in ihre Schürze und zog einen Umschlag heraus, »Herr Freksa wollte, dass ich Ihnen das gebe. Es ist eine Art Einladung in ein richtig gutes Restaurant, wie ich annehme.«

Kraus sah sie erstaunt an. Sowohl der Umschlag überraschte ihn, als auch die Erkenntnis, dass die Sekretärin der Abteilung offenbar über alles Bescheid wusste, was zwischen ihm und Freksa vorgefallen war. Hatte sie sich vielleicht als Vermittlerin betätigt? Als sie mit ihrem Servierwägelchen sein Büro verließ, sah er, wie sie ihn verschwörerisch anlächelte.

Sein Herz hämmerte, als er den Umschlag aufriss. Es war keineswegs eine Einladung in ein vornehmes Restaurant. Aber es war eine Einladung, das schon. Und zwar eine der merkwürdigsten Einladungen, die er jemals bekommen hatte. Können Sie sich bitte heute mit mir im Mittelbogen der Oberbaumbrücke treffen, um Punkt zwölf Uhr?

Kraus kämpfte mit seiner Unsicherheit, während er auf den Umschlag auf seinem Schreibtisch starrte und dem Heulen des Windes und dem Prasseln des Regens an die Scheiben lauschte. Sollte er gehen? Oder nicht? Wenn er doch nur einen Partner hätte! Allein beim Anblick von Freksas Handschrift verkrampfte er sich bereits. Er hatte das Gefühl, jede Bewegung exakt überlegen zu müssen, so als ob er sich den Weg durch ein Minenfeld suchte. Er kippte mit dem Stuhl nach hinten und blickte an die Decke, um nachzudenken, als er es plötzlich merkte.

Er war zu weit nach hinten gekippt.

Als er noch ein Kind war, hatte seine Mutter ihn immer gewarnt. »Alle vier Stuhlbeine auf den Boden, Willi!« Und obwohl er ab und zu weggerutscht war, hatte er nie ein echtes Problem gehabt. Bis jetzt.

Er wusste, dass er nach hinten fiel. Er sah seine ganze Familie vor sich, Vicki, Erich, Stefan, selbst seine Schwester, die ihn entsetzt beobachteten, als er auf dem Boden aufschlug und sich das Genick brach. Gelähmt für ... Er warf sich hastig nach vorne, gegen die Schwerkraft, packte den Schreibtisch und schaffte es, sich am Rand festzuhalten und auf den Beinen zu balancieren, während der Stuhl hinter ihm mit einem lauten Krachen aufschlug.

Benommen stand er da, atmete dann tief durch und hob den Stuhl auf. Ich hätte auf dich hören sollen, Mama. Er seufzte, setzte sich hin und ließ diesmal tunlichst alle vier Beine auf dem Boden. Jetzt denk nach, um Gottes willen. Denk nach, denk nach! Warum will sich Freksa mit dir am Fluss treffen? Er massierte sich die Schläfen und starrte auf die Regenschleier, die über den Alexanderplatz wehten. Wartete vielleicht eine Bande von Braunhemden dort, um Freksas Demütigung zu rächen? Aber das ergab keinen Sinn. Der Oberbaum war eine der belebtesten Brücken in Berlin. Sogar die U-Bahn fuhr darüber. Das war schwerlich der geeignete Ort für einen Hinterhalt. Auch wenn die Geländer nicht sonderlich hoch waren. Aber Freksas Notiz war so verdammt höflich. Sein Ton war beinahe flehentlich.

Kraus warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

Die Oberbaumbrücke war zwar nicht die schönste Brücke, die über die Spree führte, aber ganz gewiss die berühmteste. Sie war im gotischen Stil aus Ziegeln gemauert, trug Ritterwappen und war mit zwei großen, festungsartigen Türmen geschmückt. Kraus kam die Treppe von der U-Bahn-Station Stralauer Tor herunter, zog den Hut gegen den starken Wind tiefer in die Stirn und marschierte los. Es war ein sehr ungünstiger Tag, um zu Fuß über die Brücke zu gehen. Selbst unter dem überdachten Fußweg, der an einer Seite der Brücke entlangführte, peitschte ihm der Wind den Regen ins Gesicht. Autos und Lastwagen fuhren spritzend durch die Pfützen auf der Straße. Über ihm donnerte die U-Bahn hinweg. Und bei jedem Schritt wuchs seine Unsicherheit. Was erwartete ihn? Offenbar hatte Freksa ihm etwas zu erzählen und wollte nicht, dass irgendjemand davon erfuhr. Aber hätten sie sich nicht auch in einem Museum oder einem anderen überdachten Raum treffen können?

Er kam absichtlich ein paar Minuten zu spät. Aber im Mittelbogen der Brücke war kein Freksa zu sehen. Kraus zog den Mantelkragen zusammen und sah sich um. Das übliche Panorama, das Zentrum von Berlin, von Treptow bis zum Tiergarten, mit seinen Kuppeln und Türmen und dem großen grauen Fluss, der sich hindurchwand: All das war vollkommen von Regenwolken verborgen. Plötzlich fühlte er sich gehemmt, unbehaglich. Hatte Freksa gekniffen? War es vielleicht nur ein alberner Oberschülerscherz gewesen? Waren das Schritte in Kampfstiefeln hinter ihm? Er fuhr herum und sah italienische Touristen, die an ihm vorbeimarschierten, dick eingepackt gegen den Sturm.

Dann sah er durch die Regenschleier eine Gestalt auf dem ungeschützten Bürgersteig auf der anderen Seite. Sie lehnte sich gegen die Balustrade. Die Gestalt war so dünn wie Freksa und trug einen eleganten Trenchcoat und Filzhut. Aber warum stand er da draußen im Regen? Nach einer Weile begriff Kraus, dass es sich tatsächlich um Freksa handelte, und er schrie ihm etwas zu. Aber obwohl Freksa ihn sah, blieb er einfach dort stehen. Kraus war mittlerweile wirklich wütend, wartete auf eine Lücke im Verkehr und rannte dann über die Straße. Doch als er Freksa sah, sagte er nichts, weil er auf den ersten Blick erkannte, dass mit dem Mann eine Veränderung vorgegangen war.

»Hallo«, murmelte Freksa, als wären sie sich zufällig an einer Straßenecke begegnet.

Seine Haltung und sein Gehabe erschütterten Kraus. Normalerweise war Freksa ein gut aussehender Mann, der eine derartige olympische Selbstsicherheit ausstrahlte, dass sie ihm fast eine gottähnliche Aura verlieh. Jetzt jedoch wirkte er wie eine Statue, die man vom Sockel gestoßen hatte. Die dünnen blassen Lippen teilten sich. »Gut, dass Sie gekommen sind.« Der Blick seiner leeren Augen schien durch Kraus durchzugehen. »Sie sind ein besserer Mensch als ich. Allerdings hatte ich auch nicht die Vorteile, die ihr Juden habt.«

Kraus wich leicht zurück. Freksa mochte vielleicht am Boden liegen, aber das hinderte ihn nicht daran, weiterhin Seitenhiebe auszuteilen. Was für Vorteile sollte Kraus angeblich genossen haben? Sein Vater war tot umgefallen, als Kraus neun Jahre alt gewesen war. Seine Mutter hatte als Verkäuferin für Unterwäsche bei Wertheim gearbeitet. Gewiss, sie hatten nie gehungert, aber sie waren auch nicht gerade zur Sommerfrische in die Normandie gefahren.

Und war es wirklich nötig, im Regen zu stehen, wenn auf der anderen Straßenseite ein Dach Schutz gewährte? Aber Freksas Verwirrung war so extrem, dass jede andere Reaktion als Mitleid unangemessen schien.

»Ich war auf mich allein gestellt, seit ich zwölf war«, murmelte Freksa wie ein Automat. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Stimme klang monoton.

Es dauerte eine Sekunde, dann begriff Kraus, was hier vor sich ging. Er hatte es schon oft gesehen, in den Schützengräben, wenn sich der Staub eines Artilleriefeuers gelegt hatte; wenn es einen Kurzschluss im Nervensystem gegeben hatte, Freksa hatte einen Schützengrabenschock. Nicht unbedingt einen Nervenzusammenbruch von der Art, der Männer zu vollkommen gebrochenen Hüllen machte, die nur noch zuckend dahinvegetierten. Sondern eher ein Zusammenbruch, der einen Mann in einen traumähnlichen Zustand versetzte, für Stunden, Tage oder sogar Monate, der dann jedoch nachließ und ihn wieder normal wirken ließ ... nur dass unter der Oberfläche eine Zeitbombe tickte. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was bei Freksa diesen Zusammenbruch ausgelöst hatte. Er war sehr unvermittelt und plötzlich in Ungnade gefallen. Und was hatte wohl Doktor Goebbels gesagt, als er erfuhr, dass die Zigeuner freigelassen werden mussten?

»Dabei war ich noch einer der Glücklicheren.« Freksa lachte und schien sich an sein jugendliches Glück zu erinnern. »Ich habe einen wirklich tollen Job im Kaiserhof ergattert. Hatte sogar Streifen an den Hosen. Und jede Menge Messingknöpfe. Page Erster Klasse Freksa zu ihren Diensten!« Er salutierte mit zwei Fingern. Dann ließ er die Hand sinken. »Himmel, was sie in den Hinterzimmern mit uns gemacht haben, wenn diese Knöpfe nicht glänzten.«

Es schüttete wie aus Eimern. Kraus konnte den Regen nicht mehr ertragen.

»Haben Sie mich mitten in diesen prasselnden Regen gezerrt, Freksa, um mir einen Vortrag über Ihre Pagenuniform zu halten?« Kraus versuchte, den Kollegen aus seiner Lethargie zu reißen. »In unserer Stadt läuft ein Monster frei herum!«

Seine Wut schien zumindest eine der Verteidigungsmauern Freksas zu durchdringen, denn der Mann richtete seine trüben Augen auf ihn. »Wieso haben Sie mir nie erzählt, dass Sie in einer Kommandoeinheit hinter den feindlichen Linien gearbeitet haben, Kraus?«

Kraus sah ihn verblüfft an. Freksa hatte ihn noch nie so persönlich angesprochen, und das überrumpelte ihn. Er hatte im Übrigen nie erwähnt, dass er hinter den feindlichen Linien eingesetzt worden war, weil sich in diesen zwei Jahren, die er jetzt bei der Mordkommission war, nie die Gelegenheit ergeben hatte, ein solches Thema anzuschneiden. Zudem war Freksa ihm bislang nur feindselig entgegengetreten. Kraus wusste nicht einmal genau, wie Freksa von seiner Kriegsvergangenheit erfahren hatte, es sei denn ... über Dr. Weiß.

»Diese Kerle von den Kommandos waren die Einzigen, die wir respektiert haben.« Freksa schien Kraus für einen Moment tatsächlich wahrzunehmen. »Nicht mal die Flieger haben wir so bewundert wie diejenigen, die hinter den feindlichen Linien operiert haben.«

Kraus wusste nicht, was er sagen sollte. Er hätte Freksa wirklich gerne aus dem Regen gelockt, der sich in einem Schleier über die Ränder ihrer Hüte ergoss, aber er spürte, dass er den Mann nicht stören sollte, ebenso wenig wie man einen Schlafwandler aufwecken durfte. »Sie waren also auch dabei.« Mehr fiel ihm nicht ein.

Freksas Antwort wäre den meisten Leuten schwachsinnig vorgekommen. Er gab ein scharfes, sirenenartiges Heulen von sich, aus den Mundwinkeln, unterbrochen von einem schnellen Zungenschnalzen. Aber jeder, der an der Front gekämpft hatte, wusste sehr genau, was das war. Kraus lief es eiskalt über den Rücken.

Von all den Schrecken im Krieg, Flammenwerfern, Panzern, Maschinengewehren, verkörperten vor allem die chemischen Waffen die Gräuel, zu der sich die menschliche Grausamkeit gegenüber den Mitgliedern ihrer eigenen Spezies verstiegen hatte. Über eine Million Soldaten hatten unter den Spitzenprodukten der modernen Wissenschaften gelitten: Chlor, Brom, Phosgen.

Freksa imitierte gerade den Alarm für einen Gasangriff.

Dort, im strömenden Regen, riss er seinen Mantel auf, öffnete die Hemdknöpfe und entblößte seinen Oberkörper. Seine Haut sah aus wie ein großer Teller Sahne. Ein groteskes Muster aus rosa und weißen Narben, für die es nur eine einzige Ursache geben konnte: die am häufigsten verwendete Chemikalie des Krieges. Ein bösartiger, ätzender Kampfstoff, der nach seinem scharfen Gestank benannt worden war. Senfgas.

»Das sind meine Medaillen, Kraus.«

Kraus holte tief Luft. Das da war, gelinde gesagt, eine sehr grausame Ehrenbezeugung. Und erklärte möglicherweise auch, warum Freksa mit vierzig immer noch Junggeselle war.

»Vielleicht verstehen wir beide uns viel besser, als uns klar ist, Hans«, erklärte Kraus, der kaum merkte, dass er Freksa beim Vornamen nannte. »Aber bitte, ziehen Sie sich wieder an, damit Sie keine Lungenentzündung bekommen.«

Freksa schloss achtlos das Hemd. »Ist schon ironisch, stimmt’s? Ich bin Polizist geworden, weil die Uniformen mich an die der Pagen erinnert haben. Und dabei habe ich nie eine Polizeiuniform getragen.« Er knöpfte das Hemd schief zu. »Weil ich Kriminalbeamter wurde, das muss ich Ihnen ja nicht sagen. Ich war der Beste. Bis ich über die Politik gestolpert bin.«

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Kraus streckte die Hand aus.

Freksa ließ zu, dass er ihm das Hemd richtig zuknöpfte.

»Ich habe mich wichtig gefühlt, weil ich einer von ihnen war«, murmelte Freksa halb flüsternd, wie ein Jüngling vor einem Richter. »Ich war Teil einer historischen Bewegung. Aber ich war Kriminalbeamter, schon lange bevor ich ein Nazi wurde. Und als sie mich gezwungen haben, falsche Anschuldigungen zu erfinden ...« Er packte Kraus’ Hand und hielt sie fest. »Können Sie sich vorstellen, wie ich mich geschämt habe, als ich dieses Schauspiel für die Presse aufführen musste?« Freksa schien um Kraus’ Mitgefühl zu betteln. »Nach all den Jahren ehrlicher Detektivarbeit? Nicht, dass mir etwas an diesen verdammten Zigeunern gelegen hätte.«

Mit dieser Bemerkung verlor er alles Mitgefühl, das er sich bis dahin erarbeitet hatte. Kraus zog seine Hand weg.

Freksa hüllte sich enger in den Trenchcoat. »Aber der Kindermörder ist immer noch da draußen, und diese Hundesöhne interessiert das überhaupt nicht. Ich habe diese kleine Missgeburt Goebbels gefragt, was ich tun sollte, wenn es weitere Morde gäbe. Er hat geantwortet, ich sollte wieder lügen! Beim nächsten Mal größere und bessere Lügen erfinden. Er meinte, je gewaltiger die Lüge wäre, desto mehr Menschen würden sie glauben.« Freksa schüttelte den Kopf. »Himmel, ich habe Sie gehasst, weil Sie mich aufgehalten haben. Aber trotzdem«, sein ganzer Oberkörper schüttelte sich bei diesem Gefühlsausbruch, »war ich verdammt froh darüber. Denn jetzt weiß ich, dass wir diesen Mistkerl erwischen werden.«

Kraus brauchte eine Weile, bis er die Bedeutung dieser Bemerkung begriff. »Wir?«

Freksa beugte sich vor. Er lächelte gequält, und seine Augen schienen blaue Funken zu sprühen. »Kommen Sie schon, Kraus. Sagen Sie nicht, dass Sie nie darüber nachgedacht haben. Sie und ich ... ein Team! Uns beide kann niemand aufhalten!«