FÜNFUNDZWANZIG
Ein dämmriges, gedrungenes Universum aus Ziegelsteinen.
Himmel und Horizont verschwanden; die Gewölbedecke über ihren Köpfen wirkte wie die einer mittelalterlichen Burg und war kaum hoch genug, dass man darunter stehen konnte. Durch die Mitte floss, flankiert von schmalen Gehwegen und kaum wahrnehmbar, ein schmaler Strom von Wasser. Schwarz und stumm. In größeren Abständen spiegelten sich Glühlampen auf glatten Oberflächen. Kalt, feucht und ruhig. Eine klaustrophobische Katakombe, die sich ins Nichts verjüngte.
Überlaufkanal fünf.
Ziegelbogen um Ziegelbogen lockte die neun Mann starke Gruppe immer tiefer in diese bedrückende Unterwelt, in der jeder Schritt ein Echo erzeugte. Selbst Kraus’ Herzschlag schien von den runden Wänden widerzuhallen. Und waren das nicht seine Ängste, die durch die Gullys tropften? Wenn Magda jetzt gewarnt worden war? Wenn sie Berlin schon längst verlassen hatte? Wenn er sich vollkommen geirrt hatte, was dieses unterirdische Verlies anging? Es konnte ja sein, dass Wörner ihm wohlgesinnt war, aber wenn Kraus auf diese Weise scheiterte, würde er es zweifellos auf sämtliche Titelseiten schaffen.
Eine große braune Ratte huschte über seinen Fuß. Er hatte es damals in den Schützengräben gelernt, ihre glatten, glitschigen Schwänze und ihre harten, spitzen Krallen zu ertragen. Aber der Zeitungsmann hinter ihm stieß einen Schrei aus, dessen Echo ohne Ende durch den Tunnel zu hallen schien.
Ein Zulauf auf der linken Seite speiste noch mehr Wasser in den langsam fließenden Strom ein. Es hatte ein paar Wochen nicht geregnet; aber die Flut letzten Oktober hatte diesen Tunnel vollkommen ausgefüllt, wie Eberhard mit seiner Taschenlampe zeigte.
Eine dünne Schlammkruste klebte immer noch an der Decke.
Kraus’ Brustkorb schien sich zusammenzuziehen. Wenn das erneut passierte, während sie hier waren ... er sah sich um: Es gäbe keinerlei Entkommen.
Bilder stiegen Kraus in den Kopf. Jutesäcke, die durch Stromschnellen sausten, weiße Knochen, die aneinander klapperten. Axel, der weinte, als er kopfüber in die Luft gerissen wurde.
War das wirklich erst ein paar Stunden her?
Übelkeit durchströmte ihn, und er schüttelte sich.
Plötzlich hatte er das Gefühl, er müsste die Mauern, die Decke zurückstoßen. Alles, was ihn bedrängte. Er musste seinen Knien befehlen, nicht nachzugeben. Sie fühlten sich an wie Gummi, wie die des armen Pastors Braunschweig, möge er in Frieden ruhen. Eine absurde Furcht zuckte durch seine Innereien, so als wollte etwas seine Knöchel packen und ihn unter Wasser ziehen. Er würde seine Frau und seine Kinder nie wiedersehen.
Kraus zwang sich, an die Zukunft zu denken. Er durfte jetzt nicht zaudern. Magda war irgendwo direkt vor ihnen. Eine Frau, die von ihrem Vater vergewaltigt und gefoltert worden war, der ihr ein Baby gemacht hatte, das er wie ein Lamm geschlachtet hatte, und die schließlich selbst zu einem mörderischen Monster herangewachsen war. Zweifellos würde sie ihm einen wütenden Kampf mit einem Schlachtmesser liefern. Wahrscheinlich ist sie sogar äußerst geschickt im Umgang damit, ermahnte er sich. Immerhin waren die Köhler-Kinder von einem wahren Meister unterrichtet worden.
Man konnte ihre Entschlossenheit gar nicht überschätzen.
Kraus konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ignorierte die Ratten, die Mauern, das Wasser und suchte mit der Nase das bisschen frische Luft, das er finden konnte. Einen Moment lang stellte er sich diese drei Kinder vor, wie sie allein in diesem unterirdischen Verlies saßen. Tagelang. Beinahe erstickt von dem Gestank. Ihr eigener Vater, der Mann, der sie ernähren und beschützen sollte, drohte, sie bei lebendigem Leib zu häuten und sie dann zu fressen. Was konnte ein Vater einem Kind Schlimmeres antun?
Und Bruno Köhler – was musste sein Vater ihm angetan haben?
»Hier herein.« Eberhard deutete mit dem Lichtstrahl seiner Taschenlampe auf einen Zulauf. »Zulaufrohr J, direkt unter dem Keller der alten Brauerei.«
Kraus verspürte den Drang, dem Kerl eins auf die Nase zu geben. All die Karten, die er ihnen oben gezeigt hatte, hatten nicht ahnen lassen, wie eng es hier unten war und wie wenig Luft es gab. Doch Überlaufkanal Fünf war im Vergleich zum Zulaufrohr J der reinste Grand Canyon.
Kraus sog so viel Luft in seine Lungen wie er konnte und bückte sich.
Während er geduckt weiterging, kam er sich vor wie ein Höhlenmensch. Nach einer Weile merkte er, dass seine Fingerknöchel über den Boden schabten, so als hätten sie sich zu Schimpansen zurückentwickelt. Was kam als Nächstes? Schnecken auf dem Boden des Abwasserkanals?
»Mann, hoffentlich ruiniert mir das hier nicht meine Kamera«, stöhnte Wörner.
Einer der Polizisten verlor die Beherrschung. »Ich kann nicht atmen«, hörten sie am Ende der Reihe. »Mein Gott, holt mich hier raus!«
»Du schaffst das schon«, versuchte ein anderer Beamter ihn zu beruhigen. »Hol tief Luft und atme ruhig weiter. Wir sind gleich da.«
Kraus befolgte diesen Rat ebenfalls.
Aber was war mit den Gullys 27–29 passiert, die die alte Brauerei entwässert hatten? Angeblich sollten sie sich irgendwo hier über ihren Schultern befinden und durch das Lösen von ein paar Schrauben leicht zu öffnen sein. Plötzlich schienen Eberhard und Rollmann sich nicht mehr so sicher zu sein. Offenbar hatte die Flut im letzten Oktober nicht nur die Jutesäcke weggespült, sondern auch sämtliche Hinweisschilder. Die Schicht getrockneten Schlammes, die diesen Abschnitt des Zulaufs bedeckte, war immer noch so dick, dass sie sämtliche Hinweise verhüllte, dass es hier überhaupt Gullys gab.
»Unsere Wartungstrupps haben ganz offenbar geschlafen.« Rollmann ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe gereizt über die Decke gleiten.
»Bei den vielen Entlassungen«, fuhr Eberhard ihn wütend an, »ist es ein Wunder, dass es überhaupt noch Wartungstrupps gibt!«
Wir wollen uns jetzt nicht streiten, meine Herren, dachte Kraus und warf einen Blick auf die Uhr. In drei Minuten würde die Verstärkung die Düngemittelfabrik betreten und in die unterirdische Zufahrt hinabsteigen. Es würde sie etwa vier Minuten zu Fuß kosten, das Versteck der Köhlers zu erreichen, und dort würden sie sämtliche Türen eintreten, die sie fanden, und den Bau stürmen. Wenn sie diese Abflussrohre nicht bald entdeckten, würde die zweite Gruppe ihnen zuvorkommen und möglicherweise den ganzen Plan zunichte machen.
Magda mochte psychotisch sein, aber sie war äußerst gerissen. Sie hatte Kraus bereits einmal überlistet, und zusammen mit ihren Geschwistern war es ihr jahrelang gelungen, die grauenvollsten Verbrechen in der jüngeren Geschichte ungestraft zu begehen. Kraus wollte sich nicht vorstellen, was passieren würde, wenn sie es nur mit den Schutzpolizisten zu tun bekam und nicht mit ihm. Aber Rollmann und Eberhard waren sich plötzlich nicht einmal mehr einig, ob das hier überhaupt Zuflussrohr J war.
Kraus hätte am liebsten ihre Köpfe zusammengeschlagen.
Während sie stritten, zwängte er sich entschlossen an ihnen vorbei, atmete langsamer und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe über seinen Kopf gleiten. Er war während des Krieges ein halbes Dutzend Mal in das Niemandsland zwischen den deutschen und französischen Linien eingedrungen und hatte niemals die Fähigkeiten verloren, die er bei diesen todesmutigen Aufträgen hatte entwickeln müssen; er hatte Stacheldraht durchschneiden und über Felder kriechen müssen, die von Maschinengewehrfeuer zerfurcht und von Minen gespickt waren. Wenn er sich in Gefahr vollkommen konzentrierte, wurde sein Blick beinahe mikroskopisch; er konnte sich auf die winzigsten Objekte fokussieren, und sein Gehirn konnte blitzschnell einordnen, ob sie nützlich oder gefährlich waren. Jetzt glitt er mit seinen Fingerspitzen unaufhörlich über den trockenen Schlamm und hielt an einer unverkennbaren Delle inne ... einer vollkommen geraden Linie. Etliche Zentimeter daneben befand sich die nächste. Ein Gitter, zweifellos.
Nachdem sie sich zwei Minuten daran zu schaffen gemacht hatte, öffnete es sich. Abfall klatschte in den Zulauf und eine Wolke aus Unrat stieg auf. Als sie sich hindurchgezwängt hatten und sich erhoben, standen sie vollkommen aufgerichtet auf dem Boden einer dunklen, gemauerten Höhle.
»Das ist es«, flüsterte Eberhard, als hätten sie das Grabmal eines Pharao betreten. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel auf einen großen Stapel von Holzfässern, auf denen der Name TANNHÄUSER BIER stand. Überall lagen verrottete Ausrüstungsgegenstände herum: Röhren und Filter. Die stickige Luft schien sich seit einem Jahrhundert nicht mehr verändert zu haben. Eine beinahe unergründliche Düsterkeit lag über allem. Vielleicht gab es nicht einmal eine Verbindung von diesem Ort zum Bau der Köhlers, fürchtete Kraus.
Da sah er sie.
Am anderen Ende des Raumes ... Jutesäcke. Ein ganzer Berg davon. Die Kehle schnürte sich ihm zu, als er die Säcke mit der Lampe anleuchtete und auf ihnen die mittlerweile vertraute Aufschrift SCHNITZLER & SOHN sah. Es mussten Dutzende sein. Sie waren fein säuberlich und ordentlich aufgereiht. Wie Grabsteine auf einem Friedhof. Und sie waren prall gefüllt. Kraus trat an einen der Säcke und riss ihn auf, dann ging er zum nächsten und wieder zum nächsten. Ihm drehte sich der Magen um. Jeder Sack war mit sauberen weißen Knochen gefüllt.
»He, sehen Sie, da.« Gunther leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Wand darüber.
Auf sämtliche Steine waren Namen und Daten eingetragen:
Ernst Adler – 26. 6. 28
Christof Fürth – 16. 3. 29
Jemand hatte sich große Mühe gegeben, all das mit einem Messer in Druckbuchstaben in die Steine zu ritzen. Jeder einzelne Ziegelstein in der gesamten Wand war auf diese Art und Weise beschriftet. Es mussten weit mehr als hundert Namen sein. Die frühesten datierten, wie Kraus sah, auf das Jahr 1924. Das war das Jahr, als die Köhlers angefangen hatten, statt Hunde Kinder zu entführen.
Kraus warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sechs. Gruppe zwei war bereits aufgebrochen. Magda war irgendwo über ihnen. Er hatte noch vier Minuten Zeit, sie zu finden und sie zu schnappen, bevor ihre Tür eingetreten wurde. Aber es gab keinen offensichtlichen Weg hier heraus; sie schienen in einer Zisterne gefangen zu sein. Es gab keine Stufen, keine Türen. Und die Decke musste gut sieben Meter hoch sein. Wie zum Teufel bekam sie diese Jutesäcke hier herunter?
Es war erneut Gunther, der es zuerst bemerkte.
»Sehen Sie da oben, Chef.« Er deutete auf zwei Schienen, die in die Wand eingelassen waren und die bis in den ersten Stock hinaufführten, wo man gerade noch zwei Holztüren erkennen konnte. »Wir hatten so einen in unserer Scheune. Ein Getreideaufzug.«
»Aber wie funktioniert er? Es gibt hier keine Elektrizität.«
Gunther schob Säcke zur Seite, bis er eine wacklig aussehende, hölzerne Plattform fand, die mit Seilen und Rädern mit den Schienen verbunden war. »Man dreht diese Kurbel, die wiederum diese Flaschenzüge bedient.« Er zeigte es ihnen.
Kraus schluckte. Das war keine besonders vielversprechende Möglichkeit. Selbst wenn dieses uralte Gerät hielt, konnte immer nur eine Person gleichzeitig darauf steigen. Außerdem war der Aufzug vermutlich Gott weiß wie lange nicht mehr geölt worden und würde genug Krach machen, um selbst die Toten zum Leben zu erwecken.
Aber was hatte er für eine Wahl?
Er schickte Gunther als Ersten hinauf und konnte kaum hinsehen, als der Junge langsam hochgefahren wurde. Die beiden Polizisten, die die Flaschenzüge bedienten, brachen in Schweiß aus, aber sie arbeiteten langsam, so dass der Lärm auf ein Minimum reduziert blieb. Als Gunther endlich oben war, signalisierte er flüsternd, dass es hier eine einigermaßen geeignete Plattform gab, auf der fünf bis sechs Männer Platz fanden. Was auch gut wäre, dachte Kraus, denn wenn sie diese Türen mit Gewalt öffneten, wollte er mit möglichst vielen Leuten hindurchstürmen.
Kraus ging als Nächster. Während er immer weiter hinauf ruckelte, musste er seine Zweifel unterdrücken. Vielleicht hatte Magda bereits das Knarren der Flaschenzüge gehört und floh durch irgendeinen Ausgang, den sie nicht kannten. Oder aber sie stand mit erhobenem Hackebeil hinter der Tür, bereit, zuzuschlagen. Er blickte hinab. Ein durchtrenntes Seil, und sein Rückgrat würde so leicht brechen wie eine Brezel. Dann jedoch richtete er seinen Blick mit Mühe wieder hinauf und begriff, wie nah er nach all dieser Zeit seinem Ziel endlich gekommen war. Es spielte keine Rolle mehr, ob der Ursprung all dessen Brunos Vater oder dessen Vater war oder ob die Schuld bis zurück zu Adam reichte. Jetzt war nur noch wichtig, dass er all dem ein Ende bereitete, ein für alle Mal, dass er das qualvolle Vermächtnis der Köhlers beendete. Er erhob sich über die Gedenkstätte aus Namen, und als der feuchte Rost von den eisernen Schienen sickerte, sah es aus, als würden die Wände selbst Blut weinen.
Drei Schutzpolizisten kamen als Nächste – sie wurden von Rollmann und Eberhard hinaufgefahren –, dann kam Wörner mit schussbereiter Kamera. Die ganze Zeit über tickte die Uhr. In weniger als zwei Minuten würde Gruppe zwei die Türen aufbrechen. Als sich schließlich alle auf der Plattform drängten, setzte ein Schutzpolizist ein Brecheisen zwischen den Türen an. Kraus’ Herz schlug heftig. Von dem Tag an, an dem er den bizarren Inhalt dieses Jutesacks gesehen hatte, hatte er geahnt, dass er es mit etwas wahrhaft Schrecklichem zu tun hatte. Und jetzt wollte er es eigentlich gar nicht sehen.
Als die Türen sich öffneten, war das Erste, das Kraus wahrnahm, dieser Geruch. Eine lange, dunkle Kammer öffnete sich vor ihnen ... Ihn traf kein Beil, sondern ein Gestank, der so scharf war, dass er ihnen fast in den Nasen ätzte. Kraus wusste sofort, worum es sich handelte: verfaulendes Fleisch. Er fühlte sich für einen Moment in die Feldlazarette an der Front zurückversetzt. Nur herrschte hier eine nahezu unwirkliche Stille. Stumm vor Schreck starrten acht oder neun kleine Jungen sie an.
Sie wirkten wie Kreaturen aus den Tiefen des Ozeans. Ihre Köpfe waren kahl rasiert, ihre Augen traten ihnen fast aus den Höhlen. Ihre Ohren standen von den Köpfen ab. Sie waren so abgemagert, dass ihre Schlüsselbeine ihre Haut zu durchbohren drohten. Aber es waren eindeutig Jungen, die an niedrigen Tischen saßen, auf denen Lampen standen. Jeder der Jungen war mit einer anderen Arbeit beschäftigt. Kraus’ Blick glitt zu ihren nackten Füßen mit aufgescheuerten Knöcheln, an denen sie an den Boden gekettet waren. Wie ... Sklaven.
Ein größerer Junge, nicht ganz so abgemagert, offenbar der Aufseher, patrouillierte mit einem dünnen Rohrstock vor ihnen auf und ab. Er starrte die Eindringlinge ebenfalls stumm und staunend an, als wären die Knochen im Keller wieder zum Leben erweckt worden und hätten sich erhoben.
Niemand zuckte auch nur mit der Wimper, so verblüffend war der Anblick für beide Seiten.
Nur der Reporter presste sich eine Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.
Zwei große Bottiche, die von orangefarbenen Flammen geheizt wurden, verstärkten die höllische Atmosphäre noch. In einem befanden sich Knochen. Auf einem Wagen daneben lagen saubere weiße Waden- und Schienbeinknochen. Im zweiten Bottich, das vermutete Kraus wegen der Eimer mit dickem, grauen Fett, der daneben stand, kochte vermutlich Gelatine oder Seife. Das war einer der Gründe für den ekelhaften Gestank, wenngleich auch nicht der einzige. Denn an der gegenüberliegenden Wand standen lange Holzregale, auf denen Stränge mit blutigen Sehnen hingen, aufgefädelt wie Nudeln. Zwei kleine Jungs rollten sie zu den dünnen Fäden, die Magdas Markenzeichen waren. Neben ihnen bohrten zwei noch abgemagertere Kinder mit Handbohrern Löcher in Fingerknöchel und reichten die fertigen Produkte einem dritten Kind, das sie mit Sandpapier glatt rieb. Ein weiterer Junge saß an einer Nähmaschine und trat das Pedal mit den Füßen, so wie Kraus’ Mutter es zu tun pflegte. Nur dass seine Mutter ganz sicher keine menschlichen Häute zusammengenäht hatte.
Auf der anderen Seite der höllischen Werkstatt lagen nackte Leichen auf einem hölzernen Handkarren. Eine davon war bereits zergliedert worden, den Resten nach zu urteilen, die auf einem Hackklotz daneben lagen. Die beiden anderen Leichen in dem Karren kamen Kraus bekannt vor. Er hatte ihre Fotos vor kurzem erst gesehen: Es waren die Söhne des Industriellen, die von ihren Pferden im Tiergarten verschwunden waren. Ihm schnürte sich erneut die Kehle zu, als er bemerkte, dass beiden Kindern der rechte Arm fehlte. Und die Schädeldecke beider Köpfe schien aufgemeißelt worden zu sein.
Plötzlich kam von der kurzen Treppe, von der aus man diese Kammer des Schreckens überblicken konnte, ein lautes Quietschen wie von rostigen Angeln. Eine Tür öffnete sich. Angestrahlt vom Licht einer Lampe hinter ihr warf Magdas monströser Leib einen langen Schatten über die stummen Kinder. Die weiße Schürze, die sie angelegt hatte, war vollkommen blutbesudelt; ihr ganzes Gesicht war damit verschmiert, ihr Haar, ihre Hände. Eine Sekunde lang stand sie einfach nur da und sah Kraus an, als wüsste sie nicht genau, wer er war. Dann verzog sie das blutverschmierte Gesicht zu einem grauenerregenden Lächeln, wie ein kleines Mädchen, das froh ist, ihren geliebten Papi zu sehen, und hob wie zum Gruß stolz den Armknochen eines Kindes hoch.