SECHSUNDZWANZIG
Berlin, September 1930

Der mächtige Suchscheinwerfer auf dem gigantischen Funkturm über Wilmersdorf suchte den Nachthimmel ab, und seine Antenne schickte Hochfrequenzwellen in das Herz von Europa. Ein hoch aufragendes Symbol von Berlin als Sendbote der Modernität.

Etwa in Höhe des ersten Drittels seines gusseisernen Skeletts, zugänglich durch einen Aufzug, lockte das Terrassenrestaurant mit einem wunderbaren Ausblick und mit den Rhythmen erstklassiger Tanzorchester. Von hier oben aus schien einem die ganze Stadt zu Füßen zu liegen. Im Norden lag das alte Charlottenburger Schloss mit seinen ausgedehnten Barockgärten. Im Westen die flache, grüne Fläche des Grunewaldes. Im Süden das adrette Wilmersdorf, mit seinen hübschen Plätzen, den ehrwürdigen Mietskasernen und den festlichen Lichtern des Lunaparks. Im Osten die eleganten Geschäfte, Cafés und Filmtheater am von Bäumen gesäumten Ku’damm, der ins Herz der Stadt führte. Es war ein durchaus angemessener Aussichtspunkt, um Kraus’ fünfunddreißigsten Geburtstag zu feiern.

Die haarsträubenden Fotos von Wörner, zusammen mit seinem schier herzzerreißenden, wenn auch etwas ungenauen Bericht aus erster Hand, in dem er verkündete, der Fall des Kinderfressers sei gelöst, hatten Kraus zum Nationalhelden gemacht: zum Bezwinger der Bestie. Am Ende dieser Woche prangte sein Gesicht auf den Titelblättern von Zeitungen in ganz Deutschland. Der Kanzler hatte angerufen, um sich bei ihm zu bedanken. Sigmund Freud hatte ebenfalls mit ihm telefoniert, um gewisse Einzelheiten des Falles mit ihm zu diskutieren. Selbst Kommissar Horthstaler, dem nicht im Traum eingefallen wäre, diese Geburtstagsfeier zu versäumen, hatte sich so oft wie möglich mit Kraus ablichten lassen und jedem, der es hören wollte, nachdrücklich versichert, er hätte immer schon gewusst, dass er eine wahrhaftige Spürnase in seiner Abteilung hatte.

Etwa hundert Menschen mussten auf dieser Party aufgetaucht sein, die sein Schwiegervater ausgerichtet hatte, was ihm, wie er sagte, eine Ehre sei. Das Orchester spielte gerade »It Will Never Be Like This Again«, und während Kraus und Vicki sich in dem sanften Foxtrott wiegten, kamen ständig Leute zu ihm, die sich mit ihm zusammen fotografieren lassen wollten und ihn um ein Autogramm baten.

»Nun mach schon, um Himmels willen!«, drängte Vicki ihn.

»Danke, dass Sie uns unsere Stadt zurückgegeben haben.« So lautete der allgemeine Tenor.

Ganz Berlin atmete erleichtert auf. Schulen, Spielplätze, Waisenhäuser, selbst die Banden der Wilden Jungs konnten sich jetzt entspannen, nachdem der Kinderfresser hinter schwedischen Gardinen saß.

Aber auch, wenn niemand sonst es zugeben wollte, Kraus wusste, dass noch nicht alles ausgestanden war.

Magda war nach ihrer Festnahme ohne jeden Widerstand mitgekommen. Sie befand sich in einem Zustand schwerster Regression, während man ihr Handschellen anlegte, und murmelte während der ganzen Fahrt zum Alex »Ringel, Ringel, Reihe«, selbst als man sie in die Zelle sperrte.

Ringel, Ringel, Reihe
wir sind der Kinder dreie ...

Ihre Geheimnisse dagegen waren ihr keineswegs so leicht zu entlocken gewesen.

Während Gruppen von Ärzten der Charité sich bemühten, die Jungen zu retten, die sie als Sklaven gehalten und gefoltert hatte, verhörten Kraus und Gunther Magda in ihrer Zelle. Man hatte sie mittlerweile einigermaßen vorzeigbar gemacht, ihr Gefängniskleidung und ein sauberes weißes Kopftuch verpasst und sie gewaschen. Aber sie hatte einen grauenvollen Mundgeruch; Kraus sah, dass die Hälfte ihrer Zähne schwarz und verfault war. Trotz des Kopftuchs war nichts an dieser Frau weiblich. Und ihre große Ähnlichkeit mit ihrem Bruder bereitete Kraus starkes Unbehagen.

Dieser Wahnsinnige hatte erst einen Tag zuvor Kraus beinahe den Kopf abgeschlagen.

Zunächst schien Magda kooperativ zu sein, klang fast vernünftig. Und brachte zu ihrer Verteidigung grimmige Ausreden hervor.

»Glauben Sie, ich hätte das gewollt?« Sie klang weniger wütend als Axel, dafür jedoch erheblich verbitterter. »Er hat mich da unten eingesperrt. Glauben Sie, ich hätte eine Wahl gehabt? Man hat mir genau vorgegeben, wie viel ich zu produzieren hatte; genau wie während des Krieges.«

Es erleichterte Kraus, dass Magda zumindest die Realität wahrnahm, auch wenn sie möglicherweise nicht wirklich mit ihr in Kontakt stand.

»Wer hat Sie eingesperrt, Magda?« Er merkte, dass sie sehr genau wusste, wer er war und auch, dass sie sich schon einmal zuvor gesehen hatten. »Wer hat Sie gezwungen, all diese schrecklichen Dinge zu tun?«

»Das wissen Sie ganz genau.« Magda warf ihm einen verschlagenen Blick zu und verzog die Lippen zu einem Grinsen. »Meine bessere Hälfte.«

Sie konnte einem fast leidtun. Diese Frau hatte in ihrer Kindheit derartig viele Qualen erlebt, dass sich in ihren Augen mehrere Schichten Schmerz zu spiegeln schienen. Doch als er sich ins Gedächtnis rief, wie sie ihn bei ihrem ersten Treffen getäuscht hatte, wurde ihm klar, dass sie genau auf dieses Mitleid abzielte.

»Sie meinen Ihren Bruder?«

Magda schüttelte sich und schien sich von etwas zu befreien. Dann blickte sie mit gesenktem Kopf zu Kraus hoch, kicherte und verfiel in einen derartigen Ausbruch von Heiterkeit, dass sie sich mit beiden Händen den Bauch halten musste. »Sie haben ihn zurechtgestutzt, das muss man wirklich sagen!«

Verblüfft fragte sich Kraus, warum sie nicht versucht hatte zu fliehen, wenn sie vom Tod ihres Bruders gewusst hatte. Vielleicht hatte sie sich in ihrem mit Sklaven gefüllten Kerker zu sicher gefühlt. Oder sie war einfach bereit gewesen, aufzugeben.

»Als ich mit Ihnen im Viehhof geredet habe, kann ich mich nicht an irgendwelche Ketten an Ihren Füßen erinnern, Magda, so wie die, die Sie den kleinen Jungs angelegt haben. Sie sahen aus, als stände es Ihnen frei, jederzeit zu gehen.«

»Woher zum Teufel wollen Sie das wissen?«

Ganz offenbar war das die falsche Herangehensweise.

Magda verlagerte ihren massigen Körper, als wollte sie ihn angreifen. Er hob die Hände, um sie abzuwehren, und sie ließ sich mit einem jämmerlichen Wimmern zurücksinken, riss die Arme über den Kopf und zitterte, als würde man ihr Prügel androhen.

»Oh, bitte, schlagen Sie mich nicht! Mein Gott, bitte! Nein, bitte!«

»Niemand schlägt sie, Magda.«

Aber es war zu spät.

Magda hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, hinter eine unsichtbare Mauer zurückgezogen und wollte nicht wieder hervorkommen. Zuerst schien sie einfach nicht zu begreifen, dann wirkte es so, als würde sie Kraus nicht einmal hören. Im nächsten Moment schlief sie ein und begann zu schnarchen wie ein betrunkener Seemann. Gunther und Kraus sahen sich an, weil sie nicht wussten, wie sie weiter vorgehen sollten. Doch nur wenige Sekunden später war Magda wieder hellwach und reckte sich, als wäre sie aus einem langen Schlaf erwacht. »Himmel.« Sie sah sich um. »Wo sind meine Kinder?«

»Man kümmert sich um sie«, versicherte Kraus ihr.

Dann versuchte er sie dazu zu bringen, ihm zu verraten, was er vor allem herausfinden musste: wo sich ihre Schwester aufhielt. Aber kaum erwähnte er Ilse, wurde Magda wild.

»Lassen Sie sie aus all dem heraus!«, kreischte sie und ballte die Fäuste. Dann tat sie, als würde sie ein Baby in ihren Armen wiegen. »Mein süßer kleiner Engel. Sie sorgt sich um alle, nur nicht um sich selbst.«

Kraus musste ihr ein Taschentuch geben, weil sie so herzerweichend schluchzte.

»Sie hat sich immer Sorgen um die Zukunft der Welt gemacht.« Magda wischte sich ihre aufgequollenen Wangen ab. »Sie ist da draußen und tut Gutes. Ganz alleine, ohne dafür belohnt zu werden.« Jedes Mal, wenn Magda sich die Nase schnaubte, schien ihr Gesicht sich auszudehnen. »Sie säubert die ganze Nachbarschaft. Beseitigt die kleinen Schädlinge.« Schließlich schien ihr ganzer Kopf platzen zu wollen. »Denn genau das sind sie, wissen Sie, was ich meine? Ungeziefer, das ausgemerzt werden muss.« Ihre Augen schienen vor Entzücken zu explodieren. »Junge, die kamen vielleicht angerannt, wenn Ilse rief: ›Eiscreme!‹« Sie lachte aus vollem Herzen. »›Eiscreme! Eiscreme!‹ Ein echter Rattenfänger.«

Magda hob ihre fleischigen Hände und ließ sie dann niedergeschlagen wieder sinken.

»Aber, Herr Kriminalsekretär, können Sie mir sagen, warum sie sich immer wieder verliebt hat? Es bricht mir das Herz. Zuerst der Doktor. Dann die Priesterin. Und jetzt dieser schnurrbärtige kleine Intrigant. Sie gibt ihm alles, und was bekommt sie dafür?« Magda lehnte sich zurück und wiegte sich hin und her. »Ich bin lieber allein. Nur ich und meine Jungs.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Sie sind so süß, habe ich recht? Sie leiden wahrhaftig wie Jesus Christus.«

Magda zuckte zusammen, als hätte man ihr einen Dolch in die Seite gerammt.

»Ihr kleinen Scheißer!«, schrie sie und sah sich mordlüstern um. »Ich werde etwas Nützliches aus euch machen!«

Sie seufzte, lehnte sich wieder zurück und holte tief Luft. »Die Lebenden lasse ich arbeiten, und die Toten verarbeite ich zu ...«

Vielleicht spürte sie, dass sie das, was sie gerade sagen wollte, besser nicht aussprach, jedenfalls erstarrte sie, riss beinahe verzweifelt ihren Gefängniskittel auf, holte eine gewaltige Brust heraus, schob sie sich in den Mund und begann zu saugen.

»Mmmh, Mami, ich bin so hungrig.«

Das war der Zeitpunkt, an dem Kraus zugeben musste, dass Magda Köhler einfach eine Nummer zu groß für ihn war.

Das Terrassenorchester stimmte einen lebhaften Charleston an, ein Tanz, der praktisch das letzte Jahrzehnt bestimmt hatte. Gunther und Vickis Schwester Ava waren auf der Tanzfläche und versuchten, das Beste daraus zu machen: Arme, Knie, Hacken flogen in alle möglichen Richtungen. Kraus sah Fritz an einem Tisch, wo er mit seinem Cousin Kurt plauderte.

Nach dieser Begegnung mit der wahnsinnigen Magda in der Gefängniszelle hatte sich Kraus Hilfe suchend an seinen Cousin gewandt. Zwei der drei Geschwister waren aus dem Verkehr gezogen, und die unterirdische Höhle war ausgehoben worden, so dass er recht zuversichtlich davon ausging, den Todesring der Köhlers zerschlagen zu haben. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass diese Sache erst vorbei war, wenn er auch Ilse erwischt hatte. Den süßen, kleinen Engel.

In der Hoffnung, dass Kurt irgendetwas aus Magda herausbekommen konnte, hatte er sich an ihn gewandt. Es war ein schöner Tag gewesen, und der erste Anflug von Herbst hatte in der Luft gelegen. Die Häuser im Bezirk Tiergarten, die aus der Zeit der Jahrhundertwende stammten, schimmerten im Sonnenschein. Als Kraus sich dem schmucken Gebäude des Instituts näherte, sah er seinen hageren Cousin vor der Tür stehen, wo er mit einem Mann im Trenchcoat redete. Er zuckte heftig zusammen, als er bemerkte, dass dieser Mann eine silberne Augenklappe trug.

Kurt kannte von Hessler?

Als Kraus näher kam, konnte er die scharfe Polemik des Wissenschaftlers nur schwer überhören.

»Sie reden, als gäbe es wirklich eine so klare Unterscheidung zwischen Zurechnungsfähigkeit und Wahnsinn. Wenn aber jetzt diese ›Psychose‹, auf die Sie so viel setzen, nur extremer Ausdruck von Gedanken oder Verhaltensweisen wäre, die sich in der gesamten Bevölkerung finden?«

»Willi.« Als Kurt ihn sah, wirkte er sichtlich erleichtert. »Herr Doktor, leider muss ich mich von Ihnen verabschieden. Das ist mein Cousin, Kriminalsekretär Kraus von der Kriminalpolizei.«

»Sicher. Selbstverständlich kenne ich den Herrn Kriminalsekretär.« Von Hessler reichte Kraus die Hand, während er mit der anderen seine Augenklappe zurechtrückte. »Das Antlitz von Herrn Sekretär prangt zur Zeit auf mehr Titelseiten von Magazinen als das der Dietrich. Außerdem sind wir uns bereits mehrmals begegnet. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg, Kraus. Die ganze Stadt atmet erleichtert auf.«

»Danke. Und jetzt müssen wir versuchen, ein paar verknotete Stränge in einem sehr verstörten Verstand zu entwirren.«

»Ein höchst vergebliches Unterfangen.« Der Doktor lachte schallend, als hätte Kraus soeben einen Scherz gemacht. »Einen solchen Verstand werden Sie niemals verstehen. Genau genommen können Sie gar keinen Verstand verstehen. Das versuche ich ja schon die ganze Zeit, Ihrem Cousin klarzumachen. Meine Experimente werden das der ganzen Welt ein für alle Mal beweisen. Die Vergangenheit zu erforschen ist vollkommen sinnlos. Die Korrektur des menschlichen Verstandes ist nur durch Umkonditionierung möglich. Wir müssen dieses Thema unbedingt weiter diskutieren, meine Herren, aber bis dahin genießen Sie diesen wunderschönen Nachmittag.«

Sie sahen von Hessler nach, wie er in seinen schlanken schwarzen SSK sprang und davonraste. »Manchmal glaube ich«, meinte Kurt, »er ist der Verrückteste von allen. Woher kennst du ihn, Willi?«

»Er ist ein Jugendfreund meines alten Kriegskameraden Fritz. Und du?«

»Wir haben zusammen Medizin studiert. Er wollte Psychoanalytiker werden, hat dann aber plötzlich sein Studium geschmissen. Er ist zufällig vorbeigekommen und hat mich hier draußen stehen sehen. Also hat er angehalten und versucht, mich zu seiner neuen Religion zu bekehren.« Kurt nahm seine Brille ab und säuberte sie. »Erinnerst du dich an dieses jiddische Wort, das Nana immer benutzt hat, wenn wir sie geärgert haben?

»Nudnik«, antwortete Kraus. »›Ihr kleinen, aufdringlichen Angeber‹«, zitierte er.

Kurt setzte seine Brille wieder auf. »Das ist er. Ein behavioristischer Nudnik.«

Sie beschlossen, einen Spaziergang durch den Park zu machen, damit Kraus ihm die Einzelheiten des Falles schildern konnte, von denen die Zeitungen nicht berichtet hatten; außerdem wollte er ihm seine Erlebnisse in der Gefängniszelle in aller Ausführlichkeit schildern. Er wollte, dass Kurt möglichst gut gerüstet in sein Gespräch mit Magda ging. Doch als sie den ausgedehnten alten Tiergarten betraten, runzelte sein Cousin die Stirn und kratzte sich am Kopf, als wäre das, was er da hörte, so verrückt, dass selbst ein Psychiater es nicht glauben konnte.

Sie schlenderten über die berühmte Siegesallee zur Säule der Victoria am Platz der Republik. Dieser grüne Fußweg wurde auf beiden Seiten von einer historischen Chronologie des preußischen Adels gesäumt; fast einhundert riesige Statuen aus Carrara-Marmor, die Kaiser Wilhelm II. in den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in Auftrag gegeben hatte, um seinen sechsunddreißigsten Geburtstag zu feiern. Es war ein gewaltiger Fußgängerboulevard, den das moderne Berlin gern als »Nippes Avenue« verspottete, das steinerne Symbol einer grandiosen Selbsttäuschung, die Deutschland in die Schützengräben der Apokalypse getrieben hatte. Aber für Kraus entzündete dieser Monumentalismus auch Erinnerungen an etwas anderes, das vor dem Krieg geherrscht hatte: uneingeschränkter Optimismus. Wie fest alle in jenen Tagen geglaubt hatten, dass die Menschheit dabei war, sich weiterzuentwickeln, dass das Morgen immer besser sein würde als das Heute. So fest wie der Boden, auf dem sie standen, so lautete der allgemeine Konsens, und es gab niemanden, der anders dachte. Bis 1914.

Wie hohl, wie fern dieser Glauben sich danach anfühlte.

»Während meines Medizinstudiums«, meinte Kurt, als sie an der Statue von Albert dem Bären vorbeigingen, der 1170 gestorben war, »nannte man solche Leute immer noch minderwertig, geistesgestört. Jetzt allmählich«, fuhr er fort, während sie sich den schmutzigweißen Statuen von Otto I. und dem II. näherten, »sind wir besser in der Lage, Charakteristika dessen wahrzunehmen, was wir psychopathische Persönlichkeiten nennen. Depression. Neurosen. Unkontrollierte Aggression. Unfähigkeit zur Empathie.« Von den beiden Johannes mit ihren glänzenden Gesichtern gingen sie zu Waldemar dem Großen. »Einige glauben, dass diese Krankheiten ausschließlich durch das Umfeld ausgelöst werden. Andere dagegen halten sie für vererblich. Oder, wie ich selbst, wahrscheinlich ausgelöst von einer Kombination äußerer Faktoren, verbunden mit angeborenen Anlagen.«

Sie näherten sich den verschiedenen Ludwigs, und Kurt erklärte, dass Magda auf ihn, obwohl er sie noch nicht selbst getroffen hatte, wie jemand mit einem schizoiden Persönlichkeitsmuster wirkte, das eine ganze Reihe von paranoiden und psychopathischen Formen beinhaltete. Gleichgültigkeit. Entfremdung. Abwehrende Episoden von Argwohn. Wut. »Wenn sie das Gefühl hat, in Stücke zu zerbrechen, springt sie in einen losgelösten Zustand und versucht sozusagen, sich wieder zusammenzusetzen.«

Nachdem sie alle Friederichs, die Joachims, die Wilhelms und die Friedrich Wilhelms hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den großen Platz der Republik. Vor ihnen stand die gigantische Siegessäule, die Preußens Sieg über Frankreich im Jahre 1871 feierte und an deren Sockel reich verzierte Gedenkschilder für die Männer angebracht waren, die das ermöglicht hatten: Bismarck und Moltke. Rechts von ihnen erhob sich das gewaltige Gebäude des Reichstags, über dessen großer, gläserner Kuppel die schwarz-rot-goldene Fahne der Republik flatterte.

Kurt blieb stehen und drehte sich zu Kraus herum. »Aber allmächtiger Gott, Willi«, er schüttelte den Kopf, nahm die Brille ab und putzte sie ungläubig, »lassen wir die Psychoanalyse einmal beiseite; was du da erzählst, klingt, als wäre dieses Mädchen eine Hexe aus einem mittelalterlichen Märchen, das durch den Wald streift und Kinder sucht, die es fressen kann. Die sie dann in eine unterirdische Höhle sperrt und der Reihe nach verzehrt.«

»Es ist noch viel schlimmer, Kurt. Dort unten hatten sie eine Todesfabrik errichtet. Und ihre Opfer mussten die Drecksarbeit erledigen. Alles war vollkommen durchgeplant. Außerdem glaubt sie, sie würden der Welt einen großen Gefallen erweisen, indem sie sie von nutzlosen Mäulern befreiten.«

Als der Charleston zu Ende war, beobachtete Kraus, wie Ava und Gunther keuchend auf ihre Stühle fielen. Das erinnerte ihn an Kurt, nachdem der seine Befragung von Magda an jenem Nachmittag beendet hatte: Er war in Kraus’ Büro gestolpert, kreideweiß vor Erschöpfung. Dann hatte er seine Brille abgenommen und sie nicht mehr aufgesetzt. Kurt hatte über drei Stunden mit Magda alleine in der Zelle verbracht und meinte, die Frau bestätige jede Theorie von Geisteskrankheiten – und zwar alle zugleich. Sowohl die Theorie, die Umwelteinflüsse als Ursache annahm, als auch die Schule der reinen Vererbungslehre, wie auch Adlers und Freuds Erklärungsversuche von kriminellem Verhalten. Sie hatte jede denkbare Art von Minderwertigkeitskomplexen.

»Ich habe noch nie eine Persönlichkeit erlebt, die so aus den Fugen geraten ist. Weißt du, was sie gesagt hat? ›Ich fühle mich gut, wenn ich sie an mich drücke, nachdem sie tot sind. Dann bin ich nicht so allein. Aber ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis, Herr ... und zwar nur, weil Sie so nett sind. Diese Dame unter der Knochengasse bin nicht wirklich ich. Sicher, das bin ich, aber das bin ich wie ich als junges Mädchen war. Wissen Sie, damals hatte ich ein Baby, aber ich habe es für alle Ewigkeit verloren. Papa hat mir nicht erlaubt, es zu taufen, bevor er es ermordet hat. Und jetzt muss ich all die kleinen Lieblinge beschützen ... in mir. Weil Papa nicht nur mein Baby ermordet hat, sondern er hat es auch gekocht und mich gezwungen, es zu essen.‹«

Kurt meinte, er könne unmöglich entscheiden, was von dem, was sie sagte, Wahrheit und was Wahnvorstellung sei.

Kraus dagegen stellte sich diese Frage nicht. Bis auf die Vorstellung, dass es nicht sie selbst war, die dort unten gelebt hatte, war der Rest vermutlich alles andere als eine Wahnvorstellung.

»Was ist mit Ilse?«, fragte er angespannt.

Sein Cousin konnte daraufhin nur die Schultern zucken. Bedauerlicherweise, meinte er, wäre die Befragung von Magda zu Ende gegangen, weil sie einen durchaus verständlichen Bruch mit der Realität erlitten hatte. Als wollte sie vermeiden, was sie als sichere, bevorstehende Vernichtung wahrnahm, hatte sie sich in einen psychotischen Mutterleib zurückgezogen. Sie lag jetzt in einer Ecke und nuckelte an ihrem Daumen. Kurt konnte nicht vorhersagen, wie lange das dauern würde. In manchen Fällen überwanden Menschen diesen Zustand nie.

Kraus unterdrückte den Drang, in die Zelle zu gehen und Magda aus diesem Zustand herauszuprügeln.

Denn Magda hatte nichts über ihre süße kleine Schwester verraten.

Die Eiscremedame.

Hoch über Berlin spielte das Orchester weiter. Während sie eine weitere Runde über den Tanzboden drehten, drückte Vicki ihre Wange an die von Kraus.

»Verzeih mir, Liebling, dass ich dir nicht mehr vertraut habe«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Und dass ich es dir so schwergemacht habe. Ich schäme mich schrecklich. Und ich bin jetzt so stolz auf dich. Das sind wir alle. Vor allem die Jungs.«

In seinem Innersten empfand Kraus eine höchst merkwürdige Mischung aus Stolz und Gewissensbissen.

Plötzlich stand Kommissar Horthstaler auf der Bühne, befahl dem Orchester, mit dem Spielen aufzuhören, und bat dann um Ruhe. Er meinte, er hätte etwas anzukündigen. Es war außerdem ziemlich offensichtlich, dass der Kommissar bereits ein paar Gläser zu viel intus hatte.

»Mir ist klar, dass in letzter Zeit vieles von dem, was der Funkturm über unseren Köpfen gesendet hat, keine besonders guten Nachrichten waren.« Horthstaler lachte leise über seine Schlauheit, weil ihm diese Assoziation eingefallen war. »Vor allem für jene unter uns, die dem hebräischen Glauben angehören.«

Eisiges Schweigen breitete sich in dem Raum aus.

Was für ein Zeichen eines fürchterlich schlechten Geschmacks, ausgerechnet hier auf diesen Gewaltausbruch anzuspielen, eine Art Gewalt, die diese Stadt noch nie erlebt hatte seit ... noch nie eben.

Es war eine blutige Zeit auf den Straßen von Berlin gewesen, aber am Donnerstag war es noch schlimmer geworden. Uniformierte Banden von Braunhemden waren mitten am Tag auf die belebte Leipziger Straße gestürmt und hatten angefangen, jeden zusammenzuschlagen, der ihrer Meinung nach jüdisch aussah, sogar Frauen. Sie hatten Hakenkreuze und Karikaturen von Gesichtern mit langen Nasen auf die Fenster von Geschäften geschmiert, die Juden gehörten, und die Schaufenster jüdischer Kaufhäuser eingeschlagen. Nahezu fünfzig Menschen waren verletzt worden, und einer war sogar gestorben. Nie zuvor waren Juden mitten in der Hauptstadt angegriffen worden. Dieser Vorfall hatte die ganze jüdische Gemeinde Deutschlands schockiert.

»Aber«, Horthstaler hob die Hand, um seine Zuhörer um Ruhe zu bitten, obwohl man ohnehin eine Maus hätte hören können, »heute Abend haben wir hervorragende Nachrichten. Und ich bin äußerst entzückt, den Vizepräsidenten der Berliner Polizei begrüßen zu können, der sie uns persönlich überbringt.«

Kraus schnürte sich die Kehle zusammen, als er die freundlichen, dunklen Augen von Dr. Weiß hinter der runden Metallbrille sah. Der Polizeivizepräsident war vollkommen damit beschäftigt, nicht nur die politischen Unruhen zu bekämpfen, sondern auch seine persönliche Nemesis. Er hatte Joseph Goebbels bisher dreimal wegen Verleumdung vor Gericht gezerrt und dreimal das Verfahren gegen ihn gewonnen. Aber nichts konnte den Propagandachef der Nazis aufhalten. Er hatte sich in Weiß verbissen wie ein Terrier, der nicht loslassen wollte, und seine Angriffe wurden immer bösartiger. Seine Zeitung zeigte Illustrationen von »Isidor«, der sich die Taschen mit Geld vollstopfte, Isidor, der mit den Roten unter einer Decke steckte, Isidor, der an einem Galgen der Nazis baumelte. Dass Weiß sich die Zeit genommen hatte, Kraus heute Abend persönlich zu ehren, war wirklich etwas Besonderes. Denn die letzten Monate waren nicht spurlos an dem Vizepräsidenten der Polizei vorübergegangen. Er wirkte vollkommen ausgezehrt.

»Ich hatte das Privileg, Willi Kraus kennenzulernen, als er gerade von der Polizeiakademie kam. Wir haben zusammen an dem Mordfall Rathenau gearbeitet, und bereits damals hielt ich ihn für einen der klügsten, besonnensten und hartnäckigsten Kriminalbeamten, die ich je getroffen hatte. Heute Abend jedoch habe ich meine Meinung geändert. Ich glaube, er ist der klügste und hartnäckigste, den ich je getroffen habe.« Eine Welle von Gelächter brandete durch den Raum. »Deshalb verkünde ich stolz, im Namen der Berliner Kriminalpolizei, seine Beförderung vom Kriminalsekretär zum Inspektor, mit allen entsprechenden Privilegien und Pflichten. Ich hege keinerlei Zweifel, dass er weiterhin ganz Berlin mit Stolz erfüllen wird.«

Kraus war so überrascht, dass er seine Tränen kaum zurückhalten konnte.

Vicki schlang ihre Arme um ihn. Die Jungs kamen zu ihm gerannt und drückten sich an ihn. Und dann, bevor er sich versah, rollte man eine riesige, mit Kerzen bestückte Geburtstagstorte herein. Als Kraus davor stand und auf den Kreis aus brennenden Kerzen starrte, gelang es ihm nicht, all die Gedanken zu unterdrücken, die ihm durchs Gehirn tanzten.

Er hatte einen langen Weg zurückgelegt, seit er auf diesen Straßen aufgewachsen war. Er hatte seinen Vater verloren und sich um seine kleine Schwester kümmern müssen, während ihre Mutter gearbeitet hatte. Ob Greta jetzt wohl glücklich war im Heiligen Land, wo sie ihre Kühe melkte? Er hatte drei Jahre lang an der Front des größten bewaffneten Konfliktes der Menschheitsgeschichte überlebt. Er hatte die wundervollste Frau der Welt geheiratet. Und hatte die beiden tollsten Kinder der Welt. Und eine beispielhafte Karriere vor sich.

Es gab so viel, wofür er dankbar sein musste.

Und das war er auch.

Dennoch nagten noch so viele offene Fragen dieses angeblich abgeschlossenen Falles an ihm.

Warum zum Beispiel hatte Ilse nur Jungen entführt? Steckte dahinter etwas Sexuelles? Nichts an diesem Fall deutete darauf hin. Und was zum Teufel war dieses Laboratorium im Turm, auf das sie Hinweise in Axels Wohnung gefunden hatten?

Magda würde es ihnen nicht verraten.

Sie war in die psychiatrische Klinik von Berlin-Buch verlegt worden, auf Station sechs, für die geisteskranken Kriminellen. Dort würde sie sehr wahrscheinlich den Rest ihres Lebens bleiben, falls sie überhaupt jemals vor Gericht gestellt werden würde. Vielleicht, sagte sich Kraus, musste er akzeptieren, dass er niemals alle Antworten auf seine Fragen bekommen würde.

Die Menge um ihn herum rückte näher, alle warteten auf ihn. Er sah seine Frau, seine Kinder, sah Gesichter aus seiner Vergangenheit und Gegenwart, die ihn mit glühenden Augen anstarrten. Es war ein schwer erkämpfter Sieg gewesen, das musste er zugeben. Einer der schwersten. Er hatte das Lob verdient. Also sog er Luft in seine Lungen, bis sie zu platzen drohten, und blies, so fest er konnte, um jede dieser fünfunddreißig Kerzen auszupusten.

Er blies sie alle aus. Fast.

Nur eine wollte nicht erlöschen.

Während seine Gratulanten sich um ihn drängten, ihm die Hand schüttelten, ihm Glück wünschten, ihn umarmten und küssten, brannte in der Tat eine Frage heller in ihm als alle anderen.

Wenn Ilse sie entführt hatte ...

und Magda sie verarbeitet hatte ...

und Axel sie verkauft hatte ...

Wer hatte dann all diese Kinder tatsächlich umgebracht?

Dr. Hoffnung hatte als Todesursache eine Kohlenmonoxyd-Vergiftung festgestellt. Aber im unterirdischen Bau der Köhlers war keine Vorrichtung gefunden worden, mit der man so viele Kinder hätte vergasen können. Sie hatten jeden gottverdammten Winkel dieses Baus auf den Kopf gestellt.

Nichts.