ZWEIUNDDREISSIG

Der sechseckige, am oberen Ende ausladende und von dickem schwarzem Ruß überzogene Turm ragte massig wie eine verlassene Burg in die Höhe. Von einem Erkertürmchen hing eine lange Kette herunter, die im Wind schaukelte und dabei gespenstisch rasselte. Es war fast fünfzehn Uhr. Dreiundzwanzig Stunden waren seit dem Verschwinden der Jungen vergangen. Und jede einzelne Minute war die reinste Hölle gewesen.

Die Straßen des Viehhofs pulsierten vor Betriebsamkeit. Viehmakler stürmten eilig über die Straßen oder standen feilschend an Ecken, dicke Zigarren paffend. Die Lastwagen auf der Thaerstraße ächzten unter ihrer schweren Last ... Etliche waren mit Jutesäcken beladen, auf denen der Name SCHNITZLER & SOHN stand. Weiter unten auf der Straße quiekte eine Herde von Schweinen ihr Lebewohl, während sie zum Eingang des Tunnels strömte. Kraus beobachtete das alles aus dem Schatten einer Gasse in der Nähe des ehemaligen Pumpenhauses. Er lauerte dort wie ein Raubtier, das nur auf den richtigen Moment für den Angriff wartet.

Dieser Angriff war für Sonnenuntergang geplant. Gunther stellte immer noch Abteilungen von bewaffneten Schutzpolizisten zusammen, wie schon bei dem Angriff auf das Lagerhaus am Morgen. Fritz grub Fakten über »Dr. Spiegel« aus und wollte bei Einbruch der Dämmerung zu ihnen stoßen, um ihnen bei diesem Zangenangriff zu helfen. Nur würde der gar nicht stattfinden, weil Kraus nicht vorhatte, noch einmal so ein Desaster zu riskieren wie am Maybachufer. Die ganze Planung war nur eine List gewesen, um sich alle vom Hals zu schaffen. Diesmal würde er alleine hineingehen. Und zwar jetzt.

Er trat aus dem Schatten, ging ruhig über die Straße, duckte sich dann seitlich in eine Gasse und rannte zum Hintereingang des alten Pumpenhauses – ein Ziegelgebäude, das laut Lageplan einen Zugang zu einem Treppenhaus im Wasserturm hatte. Die Eingangstür war fast vollkommen mit Spinnennetzen verdeckt, und darunter erwartete ihn ein verrostetes Schloss. Die Spinnweben waren so klebrig wie Zuckerwatte, als er sie zur Seite fegte. Dann benutzte er den Dietrich seines Armeemessers; seine Finger bewegten sich mit der jahrelangen Erfahrung, die er seiner Zeit als Kundschafter im Krieg und auch als Kriminalbeamter in Berlin verdankte. In weniger als fünf Sekunden öffnete sich das Schloss mit einem Klacken.

Tauben flatterten durch den riesigen Raum, das Echo ihrer Flügelschläge hallte laut von den Wänden wider. Die alten Pumpen und Generatoren waren schon lange abgebaut worden, und die Staubschicht auf dem Boden war so dick wie ein Teppich. Kraus suchte sich seinen Weg mit der Taschenlampe, wobei er vorsichtig weiterging. Ihm wurde etwas leichter ums Herz, als der Strahl seiner Taschenlampe auf ein Schild mit der Aufschrift WASSERTURM fiel. Die Tür darunter war aus dickem Stahl und, der Gummidichtung nach zu urteilen, die sie umrandete, auch hermetisch dicht. Das Schloss war sehr viel komplizierter als das erste. Kraus brach der Schweiß aus. Aber schließlich beugte es sich seiner Geschicklichkeit ebenfalls, und als er die Tür öffnete, fauchte ein starker Windstoß über seine Schulter. Er sah sofort, dass dieser von außen so verfallen wirkende Turm innen eigenartigerweise vollkommen renoviert worden war. Und er diente ganz offenbar einem ganz bestimmten Zweck, denn Wände und Decken waren mit einem dicken Isoliermaterial bedeckt, die Fenster wiesen eine Dreifachverglasung auf, und der Boden war mit Gummimatten ausgelegt; so als hätte jemand alle nur erdenklichen Maßnahmen ergriffen, um sämtliche Geräusche oder Vibrationen auszuschalten. Was Kraus sehr gelegen kam. Er packte die Luger fester. Wenigstens konnte er so seine Anwesenheit möglichst lange geheimhalten.

Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten und zweiten Stockwerk wiesen die Stahltüren keinerlei Schlösser auf und schienen sogar luftdicht versiegelt. Es führte kein Weg hinein. Eine eisige Furcht drohte Kraus zu lähmen. Hatte er einen Fehler gemacht? Hätte er auf das Eintreffen der Verstärkung warten und dann den Turm mit so viel Männern wie möglich stürmen sollen? Sein Herz hämmerte, als er die dritte und letzte Treppe hinaufging und sich vorstellte, dass sich Erich und Heinz irgendwo auf der anderen Seite befanden und eine andere luftdicht verschlossene Stahltür vor der Nase hatten. Kraus schickte sich gerade an, vor Wut mit den Fäusten dagegen zu hämmern, als er bemerkte, dass diese Tür nicht hermetisch verschlossen war und ein Schloss hatte. Er riss mit Leibeskräften an dem Griff, und sein Herz schlug ihm fast bis zum Hals, als die Tür sich langsam öffnete.

In dem Raum dahinter herrschte totale Stille und völlige Finsternis. Bis sich seine Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten. Dann erkannte Kraus an den Wänden Schränke mit Ausrüstungsgegenständen, Flaschen, Gläser mit geheimnisvollen Tinkturen, alles penibel sortiert und etikettiert. Auf langen weißen Tischen standen hochkompliziert wirkende Geräte mit Anzeigen und Schaltern, und überall waren Drähte. Die Luger lag warm in seiner Hand, während er vorsichtig weiterging, bis er ein gedämpftes Geräusch hörte. Er presste sich sofort flach an eine Wand. Ein kurzer Blick sagte ihm, dass sich hinter einer Reihe von Apparaturen rechts von ihm eine Art Durchgang befand. Er duckte sich rasch hinein.

Der Gang war nicht besonders lang, führte nur ein paar Schritte weit und mündete dann in einen anderen Raum. Was Kraus da sah, schnürte ihm die Kehle zu. Im Vergleich zu diesem Anblick hatte Magdas Verlies fast menschlich ausgesehen. Oder wenigstens hatte es sich innerhalb der Grenzen erkennbarer Grausamkeiten befunden.

Der Raum erstreckte sich über die ganze Grundfläche des Wasserturms und wurde von hellen Scheinwerfern an der Decke erleuchtet. An jeder der sechs Wände stand ein riesiger Glaskäfig, wie man sie im Zoo für Vögel oder Echsen benutzte. Nur waren in diesen Käfigen Jungen auf Stühle gefesselt, Rücken an Rücken, jeweils in Paaren. Auf den ersten Blick sahen sie gesund aus. Sie trugen saubere weiße Krankenhauskittel und Pantoffeln an den nackten Füßen. Aber als Kraus sich auf ihre Köpfe konzentrierte und die Augen zusammenkniff, um sicherzugehen, dass ihm die Schatten keinen Streich spielten, stellte er fest, dass irgendetwas mit ihren Scheiteln nicht stimmte. Ihnen fehlte die Schädeldecke. Sie war vollkommen entfernt worden, so wie man vielleicht die Schale eines weich gekochten Eis entfernen würde. Der Anblick erinnerte ihn an ein sozialkritisches Gemälde des berühmten George Grosz, auf dem er die Stützen der zeitgenössischen deutschen Gesellschaft mit ähnlich offenen Schädeln karikierte, in denen sich statt Hirnmasse dampfende Scheißhaufen befanden.

Was Kraus jedoch hier sah, war noch viel surrealer.

Und von unvorstellbarer Brutalität.

Außerdem erklärte es, was mit den Kindern auf dem Handkarren geschehen war, die er in Magdas Verlies gesehen hatte; er hatte nie begreifen können, warum ihre Schädel ausgesehen hatten, als wären sie mit einem Dosenöffner geöffnet worden. Jetzt lehnte er sich Halt suchend an die Wand und versuchte, die Welle von Übelkeit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg, als er die Lösung des Rätsels so plastisch vor Augen geführt bekam.

Die Schädeldecke dieser Jungen war nicht mit einem Dosenöffner entfernt worden, sondern mit einem Skalpell ... damit man sie als Versuchskaninchen in irgendeinem perversen Experiment benutzen konnte.

Als Kraus die Kinder in den Glaskäfigen entsetzt betrachtete, stellte er fest, dass sie noch am Leben waren; ihre Augen wirkten allerdings etwas glasig, weil sie offenbar unter Drogen standen und sich in einer Art Trance befanden. Aber ihre Brustkörbe hoben und senkten sich, und ab und zu zuckte eines der Kinder mit einem Finger. Drähte führten von Geräten und Apparaturen außerhalb der Käfige durch die gläsernen Wände direkt in ihre Schädel.

Kraus hielt den Atem an.

Kaum vier Schritte von ihm entfernt tauchte eine Gestalt in einem Chirurgenkittel auf. Sie hatte eine Baumwollmaske vor dem Mund, las eifrig verschiedene Anzeigen und Skalen ab und trug Daten auf ein Klemmbrett ein. Plötzlich jedoch schien sie etwas zu wittern. Sie hob den Kopf und durchmaß mit kalten grauen Augen die Dunkelheit. Eine schlanke Hand zog den Mundschutz herunter. Dahinter kamen eine lange Nase und schwammige, gerötete Wangen zum Vorschein. Eine Woge von Adrenalin durchströmte Kraus.

Er umklammerte die Luger fester.

Als die Person Anstalten machte, zu einem Tablett mit chirurgischen Instrumenten zu laufen, auf dem auch etliche lange, scharfe Skalpelle lagen, trat er aus dem Schatten.

»Stehen bleiben, Ilse!«

Das jüngste der Köhler-Geschwister blieb wie angewurzelt stehen. Dann drehte die Frau langsam den Kopf herum, und der Blick der eisigen Augen richtete sich auf Kraus. Sie blinzelte mehrmals, bis sie ihn erkannte. Aus irgendeiner verborgenen Waffenkammer tief in ihrer Psyche kramte sie plötzlich die charmante, weibliche Frau hervor.

»Hallo, Inspektor.« Ihr weiches Lächeln schien selbst die härtesten Aspekte ihres Gesichtes zu mildern. »Sie haben aber ziemlich lange gebraucht.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Aber am Ende haben Sie mich doch gefunden. Ich gratuliere.«

Sie hatte niemals eine ordentliche Schulausbildung genossen, das wusste Kraus. Aber gäbe es ein Diplom für Überlebensinstinkte, hätte sie summa cum laude abgeschlossen. Er hätte sie damals hinter den feindlichen Linien gut gebrauchen können. Sie war eine ausgesprochen begnadete Mischung aus der Entschlossenheit ihres Bruders und der Heimtücke ihrer Schwester.

Ilse öffnete die Lippen ein wenig und befeuchtete sie mit ihrer Zunge.

»Sie sehen wirklich weit besser aus als Ihr ...«

»Wo ist mein Sohn?«

Er zielte mit der Luger weiterhin auf ihr Herz.

Ihr Mundwinkel zuckte. »Oh.« Sie lächelte immer noch, aber ihr Unterton hatte sich verändert. »Verstehe. Sie meinen, Sie wissen jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man einem das Liebste nimmt.«

»Wo ist er?« Kraus legte den Finger auf den Abzug. Er würde diese Hexe mit einer einzigen Kugel erledigen, selbst wenn er anschließend den ganzen Wasserturm auf den Kopf stellen musste, um Erich zu finden. »Ich gebe Ihnen ...«

Ein scharfer Schmerz zuckte durch seine Schulter, dem Bruchteile von Sekunden später ein lauter Knall folgte. Er bekam einen Schlag, sein Arm verkrampfte sich, und die Luger fiel zu Boden.

»Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«, befahl eine männliche Stimme.

Kraus hielt sich die Schulter und verwünschte sich gleichzeitig für seine Überheblichkeit. Er hatte Freksa derselben Dummheit bezichtigt, weil der geglaubt hatte, alleine hinter die feindlichen Linien gehen zu können. Und was war Freksa widerfahren? Wenigstens war diese Wunde an der Schulter nur ein Streifschuss. Er legte vorsichtig die Hand darauf. Sie brannte höllisch und blutete, aber der Knochen war unversehrt; der Schütze konnte offenbar hervorragend zielen.

»Geht es dir gut, meine Liebe?«, hörte Kraus die Frage des Mannes.

»Es braucht schon mehr als ihn, um mir wehzutun.« Ilse riss sich die Chirurgenmütze vom Kopf und schüttelte ihr fettiges rotes Haar, während ein Grinsen über ihr pockennarbiges Gesicht glitt. »Viel mehr.«

Auf der anderen Seite des Raumes schien ein silbernes Licht aufzutauchen, das sich schließlich als kleiner ovaler Spiegel entpuppte. Eine silberne Augenklappe. Und ein breites Lächeln auf aristokratischen Lippen.

»Also, Inspektor«, von Hessler zielte mit einer Mauser auf ihn, »ich habe Sie in der Tat bereits erwartet. Ich hoffe nur, dass keiner Ihrer Freunde Ihnen auf dem Fuße folgt. Sie sind unser allererster Besucher. Welch eine Ehre!«

Von Hesslers gesundes Auge funkelte mit boshaftem Entzücken.

Er war es also. Der »Bonze«, von dem Pastor Braunschweig gefaselt hatte und der Helga als Hohepriesterin ihres eigenen Kultes inthronisiert hatte. Glauben Sie etwa, dass sie es damit verdient hat, ein Tamburin zu schlagen? Kraus erinnerte sich an Magda, die sich in ihrer Gefängniszelle darüber beschwerte, dass sich ihre kleine Schwester immer wieder verliebte. Zuerst der Doktor. Dann die Priesterin. Und jetzt dieser schnurrbärtige kleine Intrigant. Ganz offenbar hatte der Doktor die ganze Zeit über mitgemischt.

»Du überlässt ihn doch mir, stimmt’s?« Die grauen Augen schienen Kraus zu verschlingen. Von der süßen Seite der kleinen Ilse war jetzt nicht mehr das Geringste zu sehen.

Kraus sah ein Spiegelbild seiner Luger in von Hesslers Augenklappe. Sie lag kaum einen halben Meter von ihm entfernt unter einem der Labortische.

»Geduld, mein Täubchen.« Der Doktor trat ins Licht. »Ich weiß, dass du nicht genug Übungsmaterial bekommst, aber es begeistert mich, endlich jemanden bei uns zu haben, dem ich meine Errungenschaften vorführen kann. Du weißt, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte mehr Menschen hierher einladen, von mir aus die ganze Welt, wenn sie denn bereit dafür wäre. Aber nimm bitte seine Waffe, bevor der Inspektor möglicherweise einem dummen Einfall nachgibt, der uns beide dieses Vergnügens berauben würde.«

Kraus spielte kurz mit dem Gedanken, Ilse zu packen und als menschlichen Schild zu benutzen, aber bei einem so guten Schützen wie von Hessler war das blanker Selbstmord. Der Mann hätte Ilse gnadenlos den Kopf weggeschossen, wenn es darauf angekommen wäre. Mit einem Anflug von Verzweiflung beobachtete Kraus, wie sie ihr strähniges rotes Haar schüttelte, sich hinhockte und nach seiner Pistole tastete.

»Ausgezeichnet.« Der Doktor nickte, als sie die Luger auf den Tisch neben ihn legte. »Und jetzt bring mir bitte meinen Nachmittagsimbiss, Liebchen. Du weißt, wie empfindlich mein Magen ist.«

Ilse rührte sich jedoch nicht, ihr muskulöser Körper schien angespannt.

»Ilse ...«

Ihre Miene verfinsterte sich, ihre rosafarbenen Lippen zuckten, dann jedoch huschte sie gehorsam davon ... ein Wolf in den Kleidern einer guten Hirtin.

»Sie ist ja so ein süßes Kind. Und eine sehr große Hilfe bei meiner Arbeit. Ohne sie würde ich es nicht schaffen.« Die Hand, mit der von Hessler auf Kraus zielte, war so ruhig wie die eines Chirurgen. »Wie gefällt Ihnen mein Labor, Kraus?« Er trat näher an ihn heran. »Ich habe Jahre gebraucht, um es einzurichten. Nicht einmal dieser fette Viehhof-Direktor weiß, dass ich hier bin. Niemand weiß es. Außer jetzt natürlich«, er lächelte, »Ihnen.« Er deutete mit der Waffe auf den sechseckigen Raum um sie herum, und die Jungs in den gläsernen Käfigen schienen ihm mit ihren Blicken zu folgen. »Was Sie hier sehen, ist eine noch nie dagewesene Art von Labor. Alle äußeren Reize werden kontrolliert, es gibt keine zufälligen Geräusche, keine Lichtschwankungen, keine Veränderungen des Luftzugs.« Er sah Kraus beifallheischend an. »Selbst die Böden ruhen auf mit Gummi gedämpften Balken, um jede Erschütterung auszuschließen. Ich habe die fortschrittlichsten Messinstrumente der Welt zur Verfügung. Das, Inspektor, ist sozusagen mein Turm des Schweigens.«

»Wo ist mein Junge, von Hessler?«

»Ach ja.« Von Hessler lachte, zog einen Laborstuhl auf Rollen heran und setzte sich, wobei der Lauf der Pistole immer auf Kraus gerichtet blieb. »Ich vergaß. Elterninstinkte.« Er legte seine Beine auf einen Tisch. »Ein wahrhaft unbedingter Reflex. Manchmal spanne ich als Wissenschaftler den Wagen vor das Pferd. Aber immer mit der Ruhe. Ihrem Sohn und seinem fetten kleinen Freund geht es gut. Es hätte Ihnen klar sein müssen, dass ich weiß, wo Sie wohnen, Kraus. Erinnern Sie sich daran, dass ich Sie zu Hause abgesetzt habe? Aber ich kann Sie beruhigen ... Ich habe Ihren kleinen Lieblingen nur die beste Pflege angedeihen lassen. Das mache ich bei allen. Sie sind vollkommen ruhig und dämmern in einem Zustand des Scheintods vor sich hin, nachdem ich sie mit sorgfältig dosierten Schlafmitteln versorgt habe. Sie werden zudem intravenös hervorragend ernährt. Wenn Sie sie jetzt aufwecken könnten, würden sie sich an nichts mehr von dem erinnern, was nach dieser Begegnung mit dem Eiswagen passiert ist. Falls Sie sie wecken könnten.« Von Hessler lachte plötzlich mit der Lautstärke einer Artilleriesalve.

Kraus suchte verzweifelt nach einem Ausweg.

Von Hessler hörte auf zu lachen. »Glauben Sie nicht, ich würde schlecht sehen, weil ich nur noch ein Auge habe, Inspektor. Ich erkenne diesen Ausdruck auf Ihrem Gesicht sehr deutlich. Und ich kann Ihnen genau sagen, was Sie denken. Sie fragen sich, wie ein so intelligenter, kultivierter Mann wie ich so teuflisch sein kann, Kinder für wissenschaftliche Experimente zu benutzen. Nun, da haben Sie ein ganz wunderschönes Beispiel für einen bedingten Reflex!«

Er lachte erneut schallend. Offenbar war er selbst sein bester Zuhörer.

Ilse tauchte mit einem glänzenden roten Apfel und einem sehr langen, scharfen Messer auf, das funkelte, als sie ein paar Mal damit durch die Luft fuhr, um anzudeuten, welchen Spaß sie damit noch haben würde. Dann setzte sie sich auf einen Tisch, nahm Kraus’ Luger und zielte auf ihn.

»Mir fällt auf, dass Sie schwitzen, Inspektor«, erklärte von Hessler, während er das Messer nahm und anfing, den Apfel zu schälen. »Ein weiterer unbedingter Reflex, der für jemanden in Ihrer unangenehmen Lage zugegebenermaßen ziemlich natürlich ist. Es sei denn natürlich, Sie hätten eine gewisse körperliche Beeinträchtigung. Wie es zum Beispiel bei mir der Fall ist.« Er schälte die Frucht so, dass die Schale sich in einer langen Spirale davon löste, und drehte den Apfel dabei fortwährend herum. »Ich bin zufällig jemand, der nicht schwitzt. Schon gar nicht aus Angst. Oh, gewiss, früher einmal habe ich auch geschwitzt. Aber diese Granate, die mir vor Verdun ein Auge genommen hat, hat auch den Teil meines Gehirns beschädigt, den man gemeinhin Stirnlappen nennt. Deshalb ist dieses Organ jetzt für meine Arbeit von so zentraler Bedeutung. Ich schwitze nicht mehr aus Furcht. Und«, er hatte den Apfel zu Ende geschält, »ich empfinde keinerlei Gewissensbisse.« Er lächelte und zuckte mit den Schultern, als wäre ihm diese Tatsache selbst rätselhaft. »Niemals.«

Er legte den Apfel auf einen Teller.

»Was nicht bedeutet, dass ich ein Monster wäre.« Er wischte sich die Finger mit einer Serviette ab. »Oder geistesgestört. Oder psychotisch, wie Ihr Cousin es vielleicht nennen würde. Im Gegenteil. Weil ich die Beschränkungen dieser sogenannten Empathie und der bürgerlichen Ideale von richtig und falsch nicht kenne, kann ich dort forschen, wo andere es niemals wagen würden. So vermag ich sozusagen, eine Fackel für künftige Generationen zu entzünden. Man wird mir eines Tages danken, das werden Sie schon sehen. Vielleicht sehen Sie es aber auch nicht.«

Erneut ertönte eine Salve dieses bellenden Gelächters.

»Du bist ein richtiger Volksheld, Doktor«, sagte Ilse und liebkoste Kraus’ Luger. Dann tat sie so, als würde sie Kraus das Hirn herausschießen. »Ein erhabener Diener des deutschen Volkes.«

»Ich habe mich aus sehr rationalen Erwägungen heraus für Kinder entschieden.« Von Hessler nahm das Messer wieder in die Hand. »Die menschliche Großhirnrinde, verstehen Sie, ist bereits mit sieben Jahren vollkommen entwickelt. Ihre Zellstrukturen bleiben noch etwa weitere sieben Jahre formbar, dann jedoch ist sie fixiert und unveränderlich.« Er stach in den Apfel und schnitt das Gehäuse mit einer schnellen, ruckartigen Drehung des Messers heraus. »Die Gehirne, die ich aussuche, sind für das Studium perfekt geeignet.« Er teilte den Rest des Apfels geschickt in Scheiben. »Und ich bevorzuge Jungen, weil sie zäher sind als Mädchen. Jetzt sehen Sie mich nicht so an, als wäre ich Attila, der Hunne.« Von Hessler spießte einen Apfelschnitz auf und hielt ihn sich vor den Mund. »Diese Kinder müssen nicht leiden. Habe ich nicht recht, Ilse?« Er schob den Apfelschnitz in den Mund und blinzelte mit seinem gesunden Auge, während er kaute.

»Die Jungen haben es hier besser als draußen.« Ilse verzog die Nase, als sie an der Mündung der Waffe schnupperte. »Sie würden ihr Leben geben, um hierher kommen zu dürfen.«

Von Hessler grinste sie herablassend an.

»Meine Arbeit, Inspektor«, er spie ein Stück Apfelgehäuse auf den Teller, »erfordert äußerste Ruhe. Jeglicher Stress ist kontraproduktiv für meine Zwecke. Bei vierzehn Milliarden Neuronen, die alle vielfachen Einflüssen ausgeliefert sind, kann jede Irritation das Ergebnis verfälschen. Diese Jungen empfinden keinerlei Unbehagen. Überzeugen Sie sich selbst.« Er überlegte, welchen Apfelschnitz er als Nächstes aufspießen sollte. »Elektroden können ohne jegliches Schmerzempfinden an jeder beliebigen Stelle des Gehirns befestigt werden.«

Kraus blickte zu einem Kind in dem Glaskasten neben ihm. Es stimmte, das Gesicht des Jungen zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerz, aber es zeigte auch kein Zeichen von Leben, außer dass das Kind atmete und sein Gesicht zuckte. Und ebenso wenig schien der Junge zu begreifen, in welcher Lage er sich befand, nämlich dass man seine Schädeldecke entfernt hatte.

»Und die Welten, die unter diesen Schädeldecken zutage treten, Inspektor ... Kann es ein mysteriöseres Reich auf Erden geben?«

Ilse konnte ihre Aufregung offenbar nicht länger unterdrücken, sie schnappte sich das Messer von dem Teller und näherte sich Kraus damit.

»Diese ganze weiße und graue Substanz!« Sie wimmerte fast, während sie ihn gebieterisch umkreiste. »Und all diese empfindlichen Windungen und Furchen in all diesen ... wie nennt man das noch mal, Doktor?«

»Hirnlappen.« Von Hessler kaute genüsslich seinen Apfel, sichtlich amüsiert, hielt jedoch die Mauser nach wie vor auf Kraus gerichtet.

»Ach ja, richtig.« Ilse legte die Klinge auf Kraus’ Schädeldecke, was ihn bis ins Mark erzittern ließ. »Es gibt einen Stirnlappen.« Sie berührte einen anderen Teil seines Kopfes, diesmal etwas nachdrücklicher. »Und einen Parietallappen. Und einen, der die Nachrichten vom Auge empfängt, stimmt’s, Doktor?«

»Sehr gut, Ilse.«

»Er bildet mich zur Neurochirurgin aus.« Ilse stellte sich auf die Zehenspitzen, bis sich Kraus’ und ihre Nase fast berührten. »Aber wir haben leider nie genug Übungsmaterial zur Verfügung.«

Kraus sah in ihren grauen Augen nicht nur die berüchtigte Kindesentführerin, die Schrecken in ganz Berlin verbreitete, sondern auch ein gequältes Kind. Wie bei allen Köhler-Geschwistern: Magda, blutüberströmt, eine moderne Medea, die Kinder fraß, um sie zu beschützen; Axel, ein rachsüchtiger Minotaurus, der sie in wahnsinnigem Hass in den Tod trieb.

»Ich glaube, der Inspektor hat für heute genug Anatomiestunden gehabt.« Von Hessler bedeutete Ilse, ihm das Messer zurückzugeben. »Er ist weit mehr an meiner Arbeit interessiert. Ein gebildeter Mann wird zweifellos die welterschütternde Kühnheit wertschätzen, die darin liegt. Er weiß, dass die Menschheit seit undenklichen Zeiten danach strebt, die Beziehung zwischen Körper und Geist zu begreifen. Ich will nicht behaupten, eine einfache Formel dafür entdeckt zu haben. Ich bin nicht verrückt, Inspektor. Aber ich habe mit meinem einen Auge dorthin geschaut, wo zuvor niemand hinzusehen wagte. Tief in die Windungen des lebenden Gehirns ... in den Ursprung des Denkens selbst. Ich habe die Pfade des Lernens abgeschritten. Die Grundlage aller bedingten Reflexe. Sie glauben mir nicht? Ilse!«

Ilse sprang auf, als hätte sie Fleisch gewittert.

»Eine Demonstration.«

Sie stand vor einer Art von Kontrollbord und rollte die Ärmel hoch. Dann betätigte sie irgendwelche Schalter, während sie den Kopf auf die Seite legte, so als würde sie weit entfernte Musik hören.

»Umhüllt von der Hirnrinde«, von Hessler schien sich an ein imaginäres Publikum aus Kollegen zu richten, »habe ich die Schicht entdeckt, die für menschliches Verhalten verantwortlich ist, eine ganze Kette von Befehls- und Kontrollzentren, die die motorischen Aktivitäten steuern. Wenn ich sie mit elektrischen Impulsen bearbeite, kann ich Aktionen erzeugen, die normalerweise nur willentlich vorgenommen werden. Zum Beispiel, Ilse ... Kabine zwei.«

Ilse leckte sich die Lippen und betätigte Schalter, bis die Jungen, die darin saßen, begannen, ihre Münder zu bewegen.

»Kauen!«, rief sie mit sich überschlagender Stimme.

Triumph zuckte über das Gesicht des Doktors.

Je mehr es so wirkte, als würden die Jungen eine große, köstliche Mahlzeit genießen, desto komischer fand Ilse das offenbar. Sie lachte bellend, wie eine Verrückte, grausam, so wie ihr Vater gebellt haben musste, wenn er sie gefoltert hatte. Hätte ein Kind, das so gequält wurde, jemals anders werden können? Kraus befürchtete, dass selbst alle Ärzte der Welt jemand wie Ilse nie wieder gesund machen konnten.

»Vergessen Sie Freud«, verkündete von Hessler der unsichtbaren Weltpresse, die sich zu seinen Füßen scharte. »Es ist mir nicht nur gelungen, den Ursprung der Neurosen zu entdecken ...«

Kraus sah sich verzweifelt um.

»... sondern ich habe diese Neurosen sogar erzeugen und sie wieder entfernen können.«

Kraus konnte nicht einfach so herumstehen. Ein Kabelstrang aus elektrischen Leitungen verlief quer über den Boden. Wohin?

»Wirklich brillant, von Hessler!« Kraus versuchte, den Mann abzulenken, er ließ jedoch zu, dass seine Worte seine ehrliche Wut verrieten. »Sie haben sogar den großen Pawlow persönlich übertroffen. Die Welt sollte Ihnen die Füße küssen. Aber haben Sie auch jemals eins dieser Kinder wieder geheilt?«

»Geheilt?« Von Hessler lachte schallend.

Kraus’ Blick folgte dem Kabelstrang zu einem großen Sicherungskasten hinter Ilses Schreibtisch.

»Seien Sie nicht kindisch, Kraus. Glauben Sie denn, dass ich ihnen die Schädeldecke wieder anklebe? Statt als menschlicher Abschaum dahinzuvegetieren, wurden diese Jungen von mir geadelt, indem ich ihnen gestattete, das größte aller möglichen Opfer zu bringen. Eines Tages wird man ihnen Denkmäler für ihren Dienst an der Wissenschaft setzen. Ihr Tod, glauben Sie mir, ist weit humaner, als ihr Leben es war. Ihr Pathologe hat zweifellos herausgefunden, dass sie an Kohlenmonoxidvergiftung gestorben sind. Aber Sie haben sich niemals erklären können, wie das passiert ist, stimmt’s? Nun, meine Untersuchungsobjekte leben, wenn ich mit ihnen fertig bin. Bis Sie sich eingemischt haben, haben wir sie einfach mit einem Lieferwagen zu Magdas Werkstatt in die Knochengasse gefahren, und zwar auf Umwegen. Auf der Fahrt haben wir einen Schlauch vom Auspuff in den Laderaum geführt, der luftdicht versiegelt war. Wenn die Jungs bei Magda ankamen ... Nun, es war eine schnelle, saubere und billige Methode. Es war Axels Idee. Wir hatten eine wahrhaft wunderschöne Beziehung, diese Köhlers und ich, bis ...«

Kraus warf sich zu Boden, landete auf der Schulter und rollte sich ab, während von Hessler auf ihn feuerte. Kugeln pfiffen links und rechts an ihm vorbei und schlugen in die elektrischen Kabel ein. Funken stoben über den Boden, zuckten hinauf zum Sicherungskasten, der in einer Wolke aus Rauch und Flammen explodierte.

Ilse stieß einen Schrei aus und sprang von ihrem Stuhl. Kraus stürzte sich auf sie und riss ihr seine Pistole aus der Hand. Dann ließ er sie los, warf sich hinter einen Tisch und feuerte auf von Hessler, der ebenfalls in Deckung gegangen war und das Feuer erwiderte. Ilse lag wie erstarrt auf dem Boden, den Kopf erhoben und die Augen starr auf den Vorhang aus Feuer gerichtet, der über die Mauer lief.

»Hol schon endlich den verdammten Feuerlöscher, du syphilitische Hure!«, schrie von Hessler sie an.

Ilse schien ihn jedoch nicht zu hören; ihr pockennarbiges Gesicht war so starr wie eine Totenmaske. Als die Flammen heller loderten und über die Tür glitten, stieß sie einen Schrei so abgrundtiefen Entsetzens aus, dass Kraus ihn in seinem Bauch spürte. Dann sprang sie auf, in dem verrückten Versuch, sich zu retten; er sah ihr rotes Haar flattern, ihre drahtige, von Flammen umhüllte Gestalt, als sie zur rettenden Treppe rannte.

»Miststück! Verdammtes Miststück!« Von Hessler schoss auf sie.

Die Flammen loderten immer höher, und jetzt bekam auch Kraus Angst. Der ätzende Gestank von brennendem Gummi stieg ihm in die Nase. Während er sich nach einem Fluchtweg umsah, bemerkte er, wie von Hessler heftig hustete und dann ein Fenster mit einem Stuhl zertrümmerte. Er sprang auf das Fenstersims, drehte sich um, zielte und fluchte. »Verdammt, Kraus!« Dann feuerte er zweimal, bevor er sprang. Eine Kugel zischte nur Zentimeter an Kraus’ Ohr vorbei, während von Hessler in einem Wirbelwind aus Rauch durch das Fenster verschwand.

Kraus rannte zum Fenster, ebenfalls hustend, steckte den Kopf nach draußen und blickte nach unten. Auf dem Bürgersteig hatten sich Schaulustige versammelt, aber keine regungslose Gestalt lag zerschmettert auf dem Boden. Die Menschen starrten nach oben, zu ihm. Das Ende der Kette, die er zuvor im Wind hatte schaukeln sehen, hing in einem offenen Fenster unter ihm. Offenbar war das von Hesslers Fluchtroute. Die hintere Treppe war zwar immer noch frei von Feuer, das konnte Kraus erkennen, aber bis zum Erdgeschoss gab es keinen Weg in den Turm hinein, und er würde nicht ohne die Jungs hier weggehen.

Kraus sprang auf das Fenstersims und gab seinem Impuls nach, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen. Er bereute es sofort. Die kleinen Jungen, die in ihren gläsernen Kabinen gefangen waren, zappelten wie verrückt auf ihren Stühlen, als die Flammen immer näher kamen.

Kraus dachte an Erich, schob rasch die Luger in seine Tasche und sprang. Er klammerte sich an der Kette fest und kletterte dann hinunter, die Füße gegen die Außenwand gestemmt. Er war zwar erleichtert, dass er sich von den Flammen entfernen konnte, aber der Schmerz in seiner Schulter, wo von Hesslers Kugel ihn getroffen hatte, beeinträchtigte ihn. Er konzentrierte sich auf das offene Fenster unter ihm, kämpfte gegen die schnell zunehmenden Schmerzen an. Schließlich jedoch wurden sie, als sich Kraus noch etwa einen halben Meter über der Öffnung befand, so heftig, dass die Muskeln seines Arms an der verletzten Schulter einfach aufgaben. Er verlor seinen Halt und baumelte wie ein Affe an einem Arm drei Stockwerke über dem Bürgersteig. Die Zuschauer unter ihm schrien vor Entsetzen.

Kraus versuchte, trotz des Schweißes, der ihm von der Stirn in die Augen lief, etwas zu erkennen, holte tief Luft und befahl sich, auszuhalten. Schließlich war er schon in weit gefährlicheren Situationen gewesen, obwohl ihm, nach einem kurzen Blick hinab, auf Anhieb keine einfallen wollte. Doch, diese Nacht vor Soissons, rief er sich ins Gedächtnis, während er den genauen Winkel zu finden versuchte, den er brauchte, um das Fenster zu erreichen. Er war mit seiner Abteilung auf freiem Gelände zwischen Artilleriefeuer der eigenen und der feindlichen Seite geraten. Sie hatten einfach Glück gehabt. Hier jedoch hatte er wenigstens ein Wörtchen mitzureden, was sein Schicksal anging, das hoffte er jedenfalls. Kraus schwang sich mit der Kette, so fest er konnte, herum und versuchte, den gemauerten Sims mit dem Fuß zu erreichen. Aber er war zu weit weg. Und es war viel zu anstrengend. Sein linker Arm drohte sich zu verkrampfen. Kraus zappelte an der Kette und hoffte, genug Schwung zu erzeugen, um durch die Öffnung zu kommen. Es gelang ihm, sich einmal kräftig von der Wand abzustoßen, sodass er einen ziemlich guten Winkel erwischte, doch plötzlich spürte er, dass er die Kette nicht mehr festhielt.

Als Nächstes wurde er von einem gewaltigen Aufprall erschüttert. Es war jedoch nicht der Bürgersteig, sondern der Boden in dem Raum hinter dem Fenster, auf dem er gelandet war. Offenbar hatte er sich weit genug geschwungen, so dass er durch das Fenster geflogen war. Dankbar, wenn auch voller Schmerzen, rollte er sich auf dem Boden ab.

Allmählich kehrte seine Sehkraft zurück, und was er erkannte, erinnerte ihn an eine Krankenhausstation ... zahlreiche Betten, in denen regungslose Gestalten lagen, die an Schläuchen angeschlossen waren. Über ihm fauchten die Flammen, Rauch quoll durch die Ritzen der Decke. Dann schlug mit einem lauten Knall eine Kugel unmittelbar neben ihm in die Wand ein.

»Sie sind erledigt, Kraus!«, meinte von Hessler von der anderen Seite des Zimmers. »Sie und all die anderen Dinosaurier.«

Kraus feuerte auf ihn und warf dabei einen kurzen Blick auf das nächste Bett. Es war weder Erich noch Heinz, sondern nur irgendein unschuldiges Kind, das mit geschlossenen Augen dort lag. Offenbar betäubt. Der Schädel war noch intakt. Der Hauch einer Hoffnung durchfuhr Kraus. Eine weitere Kugel pfiff haarscharf an seinem Gesicht vorbei. Der Rauch an der Decke wurde immer dichter und waberte in der Luft. Er feuerte noch einmal, warf sich dann unter die Reihe von Betten und kroch auf dem Bauch weiter.

»Ein neues Zeitalter bricht an.« Von Hessler klang fast trunken vom Sauerstoffmangel. Er hielt wieder eine Vorlesung an eine namenlose Menge. »Ich weiß nicht, welche Form es annehmen wird. Hitler vielleicht. Vielleicht auch nicht. Der Mann ist ein Genie, abgesehen von diesem Rassenschwachsinn. Das ist vollkommener Unsinn, und auch das kann ich beweisen.«

Die Beine des Wissenschaftlers tauchten vor Kraus’ Augen hinter einigen weiteren Betten auf. Der Rauchschleier senkte sich immer tiefer herab, und seine Augen fingen an zu brennen. Seine Kehle kratzte. Er musste den Drang zu husten unterdrücken, während er sich Zentimeter um Zentimeter weiter vorschob, was ihn wieder an die Westfront und die Felder mit Chlorgas versetzte, durch die sie mit Gasmasken hatten kriechen müssen. Kraus wünschte sich, er hätte jetzt eine, und fragte sich, ob Heinz oder Erich vielleicht direkt über ihm lagen und ob sie wohl Luft bekamen.

»In Begriffen der Hirnforschung gedacht, kann man sagen, dass es keine größeren Unterschiede zwischen den Rassen gibt als die zwischen Arm und Reich. Ein Kind von Wilden, das von Gelehrten erzogen wird, dürfte sich höchstwahrscheinlich zu einem ...«

Kraus feuerte und traf von Hesslers Hand, der seine Waffe fallen ließ. Aber er konnte den Mann nicht daran hindern, mit einem Schrei zurückzuweichen. Kraus sprang aus seiner Deckung hoch und zielte. »Stehen bleiben!« Aber es war zu spät. Von Hessler war bereits einen Meter von ihm entfernt und hatte mit seiner blutenden Hand eines der Kinder aus einem der Betten gerissen.

Erich.

»Ich werde dem Jungen augenblicklich das Genick brechen, wenn Sie Ihre Pistole nicht auf dieses Bett legen und zurücktreten!«, drohte der einäugige Doktor, während das Blut von seiner Hand auf Erichs Brust tropfte. Ansonsten sah der Junge jedoch unversehrt aus, bewusstlos, aber unversehrt.

»Legen Sie die Pistole weg, Inspektor. Sonst breche ich Ihrem Sohn das Genick, mein Wort darauf.«

Kraus legte die Waffe weg. Über sich hörte er das Knacken von Holz und das Splittern von Glas.

»Zurücktreten.« In von Hesslers Augenklappe spiegelte sich schwarzer Rauch, der durch die Fenster hereinquoll. Kraus glaubte, Glockengeläut zu hören. Hatte er so viel Angst, dass ihm schon die Ohren klingelten? Es wäre nicht das erste Mal.

Von Hessler ließ Erich auf das Bett fallen und griff mit seiner blutenden Hand nach Kraus’ Luger. Jeglicher wahnhafte Rausch war aus seinem Gesicht verschwunden, als er aus kürzester Entfernung auf den Inspektor zielte.

Kraus versuchte, vernünftig mit ihm zu reden. »Geben Sie auf! Man wird Sie ganz bestimmt weit nachsichtiger behandeln, als Sie mit diesen Kindern umgegangen sind. Außerdem ist Ihr Turm Geschichte, von Hessler.«

»Sie haben keine Ahnung, was Sie da angerichtet haben, Kraus. Sie haben die Entwicklung der menschlichen Rasse um mindestens tausend Jahre zurück ...«

Ein schriller Schrei hinter ihm veranlasste von Hessler, den Kopf zu wenden. Aus dem Rauch schoss Fritz wie eine Kanonenkugel auf den Doktor zu und schlug ihn mit einem Kinnhaken zu Boden.

Kraus war viel zu besorgt, um zu staunen, lief zu Erich und nahm ihn in die Arme. Ungeheuer erleichtert stellte er fest, dass sein Sohn ruhig atmete.

»Rettet die Kinder!«, keuchte er, während plötzlich ein Wirbelsturm aus Gesichtern um ihn herum toste. Kai. Die Roten Apachen. Gunther. Schutzpolizisten. Alle schwärmten in den Schlafsaal. Man legte von Hessler Handschellen an und führte ihn ab. Die Kinder wurden aus ihren Betten gehoben.

Auf der Wendeltreppe nach unten brach Kraus in Tränen aus, während er Erich an die Brust drückte. Er hörte nur halb zu, wie Fritz Kai zum Helden dieser Rettungstat erklärte. Der Junge hatte angeblich Kraus’ seltsame Stimmung bemerkt und ihn von seinen Roten Apachen verfolgen lassen. Als Kraus allein in diesen Turm eingedrungen war, hatte Kai Fritz alarmiert. Kraus nahm all das jedoch kaum auf. Er wusste nur, dass sein Sohn in Sicherheit war. Und dass weiter oben noch viele weitere Jungen in Gefahr schwebten.

Sobald Erich unten auf der Straße war, rannte Kraus wieder hinauf und schrie die Leute an, sie sollten sich beeilen. Er musterte verzweifelt alle Jungen, die heruntergetragen wurden. Wo zum Teufel war Heinz? Der ganze Raum war nun von Rauch erfüllt, Flammen leckten über die Decke. Kraus sog so viel Luft in seine Lungen, wie er konnte, und stürzte sich dann wieder in den Saal.

Es war fast unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Seine Schädeldecke fühlte sich an, als würde sie gleich in Flammen aufgehen. Aber im letzten noch belegten Bett fand er den Jungen, den er fast wie einen dritten Sohn mit großgezogen hatte, riss hastig die Schläuche mit dem Schlafmittel heraus und packte ihn. Heinz war so schlaff wie eine Puppe. Voller Freude rannte Kraus mit dem Jungen im Arm die Treppe hinab und stellte sich die Dankbarkeit in den Gesichtern der Winkelmanns vor, weil ihr Heinz gerettet war. Dann würden sie sich schämen, weil sie Kraus und seine Familie so mies behandelt hatten!

Mittlerweile konnte niemand mehr den Turm betreten. Selbst die Feuerwehrleute gaben es auf, das Feuer zu löschen. Auf der Straße nahmen Sanitäter den Beamten die Kinder aus den Armen und fuhren sie in Krankenhäuser, während Schaulustige hinter hastig errichteten Sperren das feurige Spektakel beobachteten. Als Kraus in einem der Krankenwagen, eingekeilt zwischen Erich und Heinz, davonfuhr, warf er einen Blick aus dem Fenster. Der ganze obere Teil des Wasserturms loderte wie eine Fackel, die das schreckliche Vermächtnis des Dr. von Hessler für alle Ewigkeit dahinraffte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete Kraus leichter.