VIERZEHN
Erst ein Mal in seinem Leben hatte Kraus eine so tiefe Schmach empfunden, und zwar, als sein Vater starb. Damals war er neun Jahre alt gewesen und hatte das Gefühl gehabt, seine Welt wäre zusammengebrochen. Jetzt war er neununddreißig, und sein Selbstwertgefühl schien genauso schlimm erschüttert worden zu sein. All die Jahre harter Arbeit waren unwiderruflich für die Katz. Und warum? Weil er den Mund aufgemacht hatte.
Zuerst hatte er zu Dr. Weiß laufen und gegen diese ungerechte Behandlung protestieren, Freksas beschämenden Betrug enthüllen wollen. Aber Weiß hatte bereits deutlich gemacht, was er davon hielt, sich für Kraus einzusetzen. Außerdem hatte er diesmal seinem Vorgesetzten den Gehorsam verweigert. Da konnte er nicht gut um Hilfe rufen.
Stattdessen hätte er von vornherein unauffällig vorgehen sollen. Er hätte Geschichten in den Zeitungen platzieren, die Sache so darstellen können, wie er sie sah, und dabei die Quelle sorgfältig kaschieren können. Das Risiko war ihm zu hoch gewesen, weil im Falle der Entdeckung seine gesamte Karriere ruiniert worden wäre. Doch was hatte ihm denn dieser unbedachte, direkte Angriff gebracht? Freksa machte trotzdem weiter, entschlossener als je zuvor, genug Beweise für eine Verurteilung der Zigeuner zu erfinden. Die Unschuldigen blieben in Haft. Die Schuldigen jubelten. Die Republik nahm Schaden.
Und die ganze Zeit lief ein Kindermörder frei herum.
Außerdem war die Demütigung entsetzlich. Es war Kraus unendlich peinlich, dass man die strengste aller Disziplinarmaßnahmen gegen ihn ergriffen hatte; er kam sich wie ein Kind vor, das in die Hose gemacht hatte. Er wagte es jedenfalls nicht, Vicki davon zu erzählen. Sie hatte möglicherweise Mitgefühl mit seiner Notlage, aber sie wäre zweifellos auch fuchsteufelswild geworden, weil er sich so hartnäckig in einen Fall eingemischt hatte, den sie als gefährlich für die Familie ansah. Wenn er morgens die Wohnung verließ, musste er all seine Energie darauf verwenden, eine Frau, die das Gras wachsen hörte, davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Vielleicht sieht ja nächste Woche in Venedig alles anders aus, redete er sich ein.
Er ging weiterhin jeden Tag zur Arbeit. Nicht ins Polizeipräsidium, sondern zu seinem Ausguck über dem Markt der freien Händler. Dann beobachtete er mit seinem Feldstecher die ungepflegten Männer und die Tonnen und Fässer mit dem faulig stinkenden Inhalt, während ihn immer wieder aufs neue erschütterte, was ihm widerfahren war. Eine Suspendierung aus disziplinarischen Gründen! Solange er bei der Polizei blieb, würde seine Personalakte diesen dunkelsten aller Makel aufweisen. Man hätte ihm auch gleich ein Brandeisen aufdrücken können!
Kraus richtete seinen Feldstecher auf die Kinder, die auf dem Markt arbeiteten. Erneut durchströmte ihn Mitgefühl für sie. Wie mutlos sie hinter ihren mit Widerwärtigkeiten gefüllten Fässern standen, ohne auch nur ein Wort miteinander zu reden. Sie erledigten ihre Arbeit mit mechanischer Gleichgültigkeit. Sie verkauften, was immer sie gerade in den Fässern hatten, wogen und zählten. Zwischen zwei Kunden entspannten sie sich ein bisschen, hockten auf Kisten und schlossen die Augen. Tauchte jedoch der Ochse auf, sprangen sie hoch. Sie hatten ganz offensichtlich Angst vor ihm. Wer konnte es ihnen verübeln? Auf ein Kind musste dieser Hüne wie ein Elefantenbulle wirken.
Kraus musste diese Bestie erneut verfolgen.
Er hatte nicht vor, aufzugeben.
Horthstaler hätte nicht deutlicher demonstrieren können, wer in ihrer Abteilung das Sagen hatte. Aber so übel angeschlagen Kraus sich auch fühlte, er würde nicht lockerlassen. Er würde weiter angreifen.
Und zwar sofort nach seiner zweiten Hochzeitsreise.
Eine Woche nach der beschämenden Suspendierung war es soweit: Vicki und er packten die Koffer. Am gewaltigen Anhalterbahnhof, Berlins Tor zum Süden, mit seinem riesigen Glasdach, das die zahlreichen, belebten Bahnsteige überspannte, winkten ihnen die Kinder zum Abschied zu. Sie hielten die Hände von Tante Ava, die sich in dieser einen Woche um sie kümmern würde. Ava sah sehr hübsch aus mit ihrem Hut mit der weichen Krempe und dem neuen, langen Rock, obwohl sie diese Mode doch angeblich gar nicht hatte tragen wollen. Die Jungs hatten einen riesigen Strauß Narzissen mitgebracht, um den Jahrestag ihrer Eltern zu feiern, und sangen das traditionelle »Hoch soll’n sie leben«. Das war so herzergreifend, dass sowohl Vicki als auch Kraus sich die Augen abtupfen mussten. Als sie sich von ihnen verabschiedeten, musste Kraus unwillkürlich an all diese Kinder denken, die nicht nur auf den Straßen lebten, sondern jetzt auch auf ihnen starben. Die Hirtin. Die Zigeuner. All das würde er jetzt eine Woche hinter sich lassen. Denn er wollte nicht zulassen, dass Verschwörer, Serienmörder oder sein eigenes schlechtes Gewissen Vicki diese Reise verdarben.
Als sie es sich in ihrem privaten Abteil mit dem gedämpften Licht der Milchglaslampen und den gepolsterten Lederbänken bequem gemacht hatten, überkam ihn endlich Erleichterung. Sie verstärkte sich, je weiter der Zug sich von Berlin entfernte. Vor allem, nachdem sie Champagner bestellt hatten. Nach etlichen Gläsern lagen Vicki und er einander in den Armen, schmiegten sich aneinander und ließen jene wundersamen Tage vor einem Jahrzehnt Revue passieren, ihre Hochzeit an den von Blüten übersäten Ufern des Schlachtensees, die Hochzeitsnacht im Adlon, ihre Woche in Venedig. Sie dachten an all die Hoffnungen, die sie gehegt hatten, an ihre Träume und Pläne. Und als sie aus dem Fenster auf den sternenübersäten Himmel blickten, waren sie sich einig, dass alles viel besser gekommen war, als sie sich hätten vorstellen können.
Sie waren zwei glückliche Menschen.
Am nächsten Tag erreichten sie Venedig, das in von Sonne getränkten Farben glitzerte und in dem es trotz der Rezession ebenso von Touristen wimmelte wie schon 1920. Sie stiegen im Vittoria ab, demselben Hotel wie bei ihrer Hochzeitsreise, einem ehemaligen Mönchskloster, und waren so glücklich, dass sie praktisch die Treppe hinauftanzten. Ohne sich mit dem Auspacken ihres Gepäcks aufzuhalten, fielen sie in dasselbe riesige Bett, in dem sie ihre Ehe begonnen hatten, und stürzten sich mit derselben Leidenschaft wie als Frischverheiratete in die Arme.
In mancherlei Hinsicht war es noch schöner als bei ihrer ersten Hochzeitsreise, weil dieses Jahrzehnt sie etwas ruhiger gemacht hatte, empfänglicher, nicht nur für einander, sondern auch für die Welt um sie herum. Für die Kunst. Die Architektur. Das Essen. Alles schien beim zweiten Mal noch viel schöner zu sein. Doch so himmlisch diese Tage auch sein mochten, es war Kraus fast unmöglich, die unerfreuliche Heimreise aus seinen Gedanken zu bannen. Selbst auf der Bootsfahrt nach Burano, als sie an einem wunderschönen Nachmittag in einem Schnellboot über die grüne Lagune sausten, fragte er sich, wie er es wohl schaffen könnte, in den von Haien wimmelnden Strömungen des Alexanderplatzes über Wasser zu bleiben, vor allem wenn seine einzige Absicht war, den tollen Hecht Freksa zu erledigen.
Das würde einen wahren Balanceakt erfordern.
Als Vicki und er später über den Lido schlenderten, drehte sie sich mit glänzenden Augen zu ihm um.
»Das ist das schönste Hochzeitsgeschenk, das du mir machen konntest, Willi, ehrlich. Das aufmerksamste, das süßeste und ganz eindeutig das romantischste.«
»Du bist also nicht traurig, dass du keinen Wertheim oder Tietz geheiratet hast?«, fragte er sie.
Sie zog ihn an sich und küsste ihn leidenschaftlich, direkt vor dem Hotel des Bains. Aber selbst als er sich in ihren feuchten Lippen verlor, zuckte ihm durch den Kopf, wie wütend sie sein würde, wenn sie jemals erfuhr, dass er sich in die Jagd nach dem Kindermörder eingemischt hatte. Er hatte in den zehn Jahren ihrer Ehe noch nie etwas Wichtiges vor ihr verheimlicht, hatte keine Affären gehabt, ja nicht einmal einen Flirt. Aber Vicki würde sein Verhalten als Vertrauensbruch ansehen. Was also war es, das ihn antrieb, nicht nur seine Karriere aufs Spiel zu setzen, sondern wegen dieses verdammten Falles auch seine Ehe zu riskieren?
Am Ende der Woche fühlten sie sich fast wie beraubt, als sie abreisen mussten, so als würden sie Venedig niemals wiedersehen. Im Zug saßen sie stumm da und starrten schweigend aus dem Fenster. Doch als sie die österreichische Grenze überquert hatten, schob Vicki ihren Pony zur Seite und nahm seine Hand.
»Also gut, Willi. Raus damit, sag es mir.«
Ein Blick genügte, und er wusste, dass das Spiel aus war. Die ganze Zeit hatte er gedacht, er hätte sie zum Narren gehalten, dabei hatte sie ihm etwas vorgespielt. Am liebsten wäre er aus dem Fenster gesprungen und hätte sich in dem fernen Wald versteckt, aber sie musterte ihn gnadenlos und ließ ihm nicht die geringste Fluchtmöglichkeit. Also hüstelte er verlegen, räusperte sich, suchte ein letztes Mal nach einem Zeichen von Gnade und legte dann ein Geständnis ab.
Während der Zug durch steile Täler und dunkle Alpentunnel fegte, erzählte er ihr alles. Von den Jungen, den Knochen, den Zigeunern und Freksa. Von seiner Suspendierung. Und als sie sich München näherten, hätte er Zeugnis für Dr. Freuds Sprechkur ablegen können, denn er fühlte sich sehr erleichtert. Vicki allerdings war, wie er befürchtet hatte, fuchsteufelswild. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so wütend erlebt zu haben.
»Ich kann nicht glauben, dass du so etwas getan hast!« Ihre Oberlippe bebte. »Ich habe das Gefühl, als hätte ich keine Ahnung, wer du wirklich bist. Wie konntest du mich so hintergehen und die Jungs in Gefahr bringen?«
»Sie sind niemals in Gefahr gewesen.«
»Oh, du hast leicht reden! Das kannst du dir vielleicht weismachen, Willi. Aber mich überzeugst du nicht. Wer auch immer dieser Kindermörder sein mag, er ist ganz offensichtlich extrem pervers. Wie zum Teufel willst du wissen, dass er nicht die Person verfolgt, die hinter ihm her ist? Oder schlimmer noch, seine Kinder? Oder mich?«
»Vicki ...«
Bis Nürnberg weigerte sie sich, ein einziges Wort zu sagen oder ihn auch nur anzublicken. Irgendwann jedoch mussten sie etwas zu Mittag essen, und im Speisewagen ebbte ihr Ärger allmählich ab.
»Ich weiß nicht, was dich dazu getrieben hat, Willi. Wirklich nicht. Aber gut, es ist geschehen. Du bist bestraft worden; ich will es nicht noch schlimmer machen. Aber du musst mir versprechen, dich von diesem Fall fernzuhalten. Und morgen wirst du als Erstes zu Dr. Weiß gehen und ihm alles berichten, was du mir erzählt hast, und zwar Wort für Wort.«
»Das kann ich nicht, Vicki.«
»Du musst!«
»Dann bin ich in der Abteilung für immer erledigt.«
In ihren dunklen Augen loderte eine Glut, die nicht einmal ein Wüstensturm entwickeln würde. »Dann sag mir bitte, Willi, wie du dir ins Gesicht sehen willst, wenn diese unschuldigen Zigeuner hingerichtet werden?«