SIEBENUNDZWANZIG

Am Sonntag, dem 14. September, rumpelten frühmorgens Lastwagen durch die Beckmannstraße. Aus darauf montierten Lautsprechern dröhnte Marschmusik und der dringende Aufruf an die Bevölkerung, zur Wahl zu gehen. Vicki und Kraus erhoben sich schließlich aus dem Bett, als ihnen einfiel, dass ja Wahltag war. Es wurde Zeit, aufzustehen und sich anzuziehen. Als Vicki in ihr neues Tweedkostüm schlüpfte, verschwanden nicht nur ihre Knie, sondern auch die Hälfte ihrer Waden unter dem Stoff. Kraus hatte sie seit ihrer Heirat nicht mehr in einem so langen Rock gesehen.

»Du magst ihn nicht, hab ich recht?«, fragte sie bedauernd.

Was sollte er darauf erwidern? Bis nach dem Krieg war es den Frauen nicht erlaubt gewesen, auch nur ihr Schienbein zu zeigen, bis schließlich, als eines der allgegenwärtigsten Zeichen der Moderne, die Säume immer kürzer wurden. Jetzt wurden die Röcke wieder länger. Das war nicht nur ein Widerspruch zum Fortschritt, sondern eine verdammte Schande, wenn er daran dachte, wie sehr er Beine liebte, vor allem die von Vicki.

»Na ja ...«, Er nahm sie in die Arme und lenkte sie mit einem Kuss ab. »Jedenfalls hasse ich dich nicht, nicht mal, wenn du so etwas trägst.«

Erich und Stefan hatten schon gefrühstückt und spielten unten im Hof mit Heinz. Irmgard war bereits auf dem Balkon und hängte die Wäsche auf. Zweifellos wünschte sie sich, sie hätte auch so einen elektrischen Wäschetrockner wie Vicki. »Ja, ja, wir haben schon früh unsere Stimme abgegeben«, sagte sie mit einem Anflug von Missbilligung, weil die beiden so spät dran waren. »Geht nur. Ich passe auf.« Sie scheuchte sie mit einer Handbewegung davon. Den beiden fiel auf, dass ihre Nachbarin in letzter Zeit ziemlich kurz angebunden zu ihnen war.

Sie traten aus dem Haus und überquerten Hand in Hand die Beckmannstraße. Vickis dunkler Pony wippte im Wind. Kraus hätte den ganzen Weg vor Freude hüpfen können, so glücklich war er. Die Sonne schien und Wolken zogen hoch über den strahlend blauen Himmel. Eine gelbe Straßenbahn ratterte vorbei, die Nummer 89. Er holte tief Luft, die Welt fühlte sich gut an. Er war nicht einmal drei Blocks von hier entfernt aufgewachsen. Seine Eltern hatten in derselben Schule ihre Stimme abgegeben, zu der sie jetzt unterwegs waren. Vicki war nur ein paar Blocks weiter westlich groß geworden. Diese sauberen, von Bäumen gesäumten Straßen waren ihr Zuhause. In diesen Geschäften, diesen kleinen, ordentlichen Läden hatten sie immer eingekauft. Und mit diesen Straßenbahnen waren sie ihr Leben lang gefahren. So unsicher die Zeiten auch geworden sein mochten, an einem Sonntag durch dieses wunderschöne Viertel zu schlendern, erfüllte sie mit Stolz. Vor allem an einem Wahltag.

Menschenmassen zogen in Richtung Goetheschule, und es herrschte eine irgendwie feierliche Atmosphäre. Bis vor zwölf Jahren hatte es gar keine Wahlen gegeben. Sie hatten unter der eisernen Faust der Tyrannei gelebt. Jetzt wenigstens hatten sie eine Stimme und konnten ihr eigenes Schicksal mitbestimmen. Oder nicht?

Auf der anderen Straßenseite bemerkte Kraus eine Gruppe von Menschen, die nicht vor einem Wahllokal Schlange stand, sondern vor einer Suppenküche. Manchmal gelang es ihm kaum, dem Gefühl zu entkommen, ins Meer gespült zu werden und dort Strömungen ausgeliefert zu sein, die niemand kontrollieren konnte. Es war schwer zu glauben, dass noch vor einem Jahr Deutschland, Europa und fast die ganze Welt auf einer ökonomischen Woge schwammen, die ganze Nationen in den Himmel gehoben hatte. Jetzt war der internationale Handel geschrumpft. Die Produktion war heruntergefahren worden. Es war, als wären die Grundfesten des Wohlstandes zusammengebrochen und würden die ganze Menschheit mit in den Abgrund reißen.

Bis auf Kraus. Irgendwie hatte er es geschafft, auf der Welle zu reiten.

Als sie die sonnige Brandenburgische Straße hinaufgingen, schwebte er immer noch ein Stück über dem Boden. Den Rang eines Inspektors mit fünfunddreißig erreichten nur sehr wenige. Es bedeutete, dass jetzt endlich eine ganze Gruppe von Untergebenen für ihn arbeitete und er außerdem eine beträchtliche Gehaltserhöhung verbuchen konnte. Unwillkürlich spielte er mit dem Gedanken, der Wirtschaft ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, indem er ein neues Auto kaufte. Sie brauchten schließlich eins, da der Opel nur noch ein Schrotthaufen war.

Vor ihrer alten Schule waren alle großen Parteien mit Delegierten vertreten, verteilten Flugblätter und stimmten Wahlkampfparolen an. Die Kommunisten mit ihren roten Halstüchern und die SA in ihren braunen Hemden standen auf gegenüberliegenden Straßenseiten. Aber es herrschte eine eher nüchterne, geschäftliche Atmosphäre. Selbst die Braunhemden lächelten höflich und hielten Vicki und Kraus Flugblätter hin.

Hitler und seine Nazis hatten einen Wahlkampf geführt, wie Deutschland ihn noch nicht erlebt hatte. Der »Retter der Nation«, dessen bellende Stimme immer noch durch Kraus’ Kopf hallte, war kreuz und quer durch Deutschland gereist, hatte Reden geschwungen, Massenversammlungen abgehalten und Babys geküsst. Sein Propagandachef, Joseph Goebbels, hatte von der Ostsee bis zu den Alpen Fackelparaden organisiert und alle verfügbaren Flächen mit Hitlers Konterfei bepflastert. Aber die Ergebnisse der jüngsten Meinungsumfragen sowie die nahezu einmütige Meinung der politischen Journalisten, einschließlich der von Fritz, lauteten, dass Nazis und Kommunisten ihren Reiz auf die Masse durch ihre gewalttätigen Auseinandersetzungen untergraben hatten und dass das Zentrum die Mehrheit behalten würde. Diejenigen, die sich am besten in deutscher Politik auskannten, spekulierten, dass die Sozialdemokraten und ihre Verbündeten nach der Auszählung der Wahlzettel genug Stimmen zusammenbekämen, um eine neue Regierung zu bilden. Sie würden das Mandat erhalten, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen.

Erfüllt von dieser Hoffnung, betraten Vicki und Willi die Schule, die sie beide als Kinder besucht hatten und in die ihr ältester Sohn jetzt ging, und stellten sich in der Schlange an, um ihre Stimmzettel auszufüllen.

Später fuhren sie zu Fritz, zum Dinner und um die Ergebnisse der Wahlen abzuwarten. Da Vickis Vater geschäftlich im Ausland unterwegs war, hatte er ihnen für diese Woche seinen Mercedes geliehen, ein Modell 260 Stuttgart, der solideste Familienwagen dieser Automarke. Im Vergleich zu Kraus’ klapprigem Opel wirkte der Wagen wie ein fliegender Teppich, auf dem sie über belebte Chausseen glitten, dann hinaus in die dunkelgrünen Wälder, bis sie in Rekordzeit im Grunewald landeten. Fritz’ zweistöckige Villa war eine wahre Orgie von historischen Stilen, erbaut in der wilhelminischen Periode. Fritz lamentierte schon seit Jahren, sie wäre veraltet, und hatte erst vor wenigen Wochen einen der gefragtesten Architekten Deutschlands beauftragt, ihm ein neues Haus weiter oben auf der Straße zu bauen.

Als Kraus Vicki aus dem Wagen half, dachte er unwillkürlich an das dunkle, elende Loch, in dem Axel Köhler gehaust hatte. Aber er achtete darauf, sich vor seiner Frau seine Gedanken nicht anmerken zu lassen. Wie der Rest der Welt war Vicki sehr erleichtert, weil sie glaubte, der Fall sei endlich abgeschlossen, eine Meinung, die Kraus auch aus Gründen der Zweckmäßigkeit sehr gelegen kam. Denn nach der Sturmflut von Zeitungsberichten, die auf Magdas Ergreifung gefolgt war, hatten sich zahlreiche Menschen mit allen möglichen neuen Informationen gemeldet, einschließlich des Hausverwalters einer lichtlosen, muffigen Kellerwohnung nur zwei Blocks vom Viehhof entfernt.

»Ich wusste, dass mit dem Kerl irgendwas nicht stimmt«, sagte der Mann, als er Kraus vor ein paar Tagen angerufen hatte.

Die Wohnung war kärglich möbliert und wirkte deprimierend. Eine gründliche Durchsuchung hatte jedoch eine ganze Menge Informationen zutage gefördert – nicht nur ein halbes Dutzend gefälschter Ausweise mit Axels Foto und verschiedenen Namen, sondern auch ein in Leder gebundenes Kontobuch. In penibler Schrift hatte Axel mit Bleistift seit dem Jahr 1924 über sämtliche Jungen, die er an die Turm-Laboratorien geliefert hatte, Buch geführt. Es gab jedoch weder eine Adresse noch eine Telefonnummer oder irgendeinen anderen Hinweis auf dieses Labor. Nur dass ihm für jedes Kind einhundertfünfzig Reichsmark gezahlt worden waren. Das war ein Vermögen. Vor allem für ansonsten »wertlose« Straßenjungen.

Außerdem gab es für jede »Abholung und Entsorgung« weitere fünfzig Mark.

Laut diesem Kontobuch betrug die Zahl der »gelieferten und entsorgten« Jungen zweihundertvierundvierzig.

Falls diese Zahlen stimmten, verbarg sich dahinter der mit Abstand größte Massenmord in der deutschen Geschichte.

Außerdem hatten die Sparten »Nebenprodukte« und »Lederwaren« Axels Einnahmen, wenn auch nach Jahr schwankend, dennoch beträchtlich gesteigert. Vermutlich hatte er ebenso viel verdient wie der Direktor des Viehhofs, Gruber. Nur hatte er das Geld nicht ausgegeben. In den Müllschichten unter seinem Bett fand man eine Zigarrenkiste, die mit Banknoten vollgestopft war. Insgesamt befanden sich darin fünfundzwanzigtausend Reichsmark.

Der Mann hätte für die Regierung arbeiten sollen.

Als sie sich der hohen Ziegelmauer näherten, die Fritz’ Grundstück umgab, raste Kraus’ Herz förmlich bei dem Gedanken an den Namen in dem Kontobuch, der in Großbuchstaben geschrieben worden war, ähnlich wie die Namen auf den Ziegelsteinen in dem Verlies unter der Knochengasse. TURM-LABORATORIEN.

Worum auch immer es sich dabei handelte, er musste diese Laboratorien finden.

Und Ilse ebenfalls.

Eingehakt traten sie durch das Tor des Grundstücks, als ein graues Kaninchen den Kopf aus einem Blumenbeet hob. »Sag mir jetzt nicht, dass du plötzlich Angst vor Kaninchen hast!« Vicki lachte, als sie spürte, wie Kraus sich anspannte. »Wie nennt man das noch gleich? Leporiphobie?«

Seine Frau las mehr psychologische Fachliteratur als sein Cousin Kurt.

»Es sind nur Seitenstiche, das ist alles.« Kraus zwang sich zu einem Lächeln.

Aber er wusste, dass er sich beinahe verraten hätte.

Das Dienstmädchen ließ sie ein, und Sylvie begrüßte sie in einem schimmernden, tief ausgeschnittenen Cocktailkleid. Ganz offenbar hatte sie bereits reichlich dem Champagner zugesprochen. Sie küsste die Neuankömmlinge ausgiebig, bat sie dann herein und beschwerte sich gleichzeitig, dass sie sie nie besuchen kämen.

Der einzige weitere Gast war Graf Oldenburg, der einer der schillerndsten Sterne in Fritz’ Galaxis war. Der Lebemann mit den großen Lücken zwischen den Zähnen hatte ganz offenbar irgendein Aufputschmittel genommen, jedenfalls unterhielt er sie stundenlang mit Anekdoten aus einer Welt, über die sie sonst nur in den Sonntagsbeilagen der Zeitungen lasen. Tee mit Virginia Woolf. Dinner mit André Gide. Und dann erging er sich in Beschreibungen, wie die Theaterarchitektur von London und Paris der von Berlin ein Vierteljahrhundert hinterherhinkte. Außerdem war natürlich auch das deutsche Design allen anderen Lichtjahre voraus, was die Gropius-Werkbund-Ausstellung im Salon des Artistes Décorateurs zeigte.

»Ich persönlich glaube, dass Deutschland in eine Art modernes, goldenes Zeitalter eintritt, so wie einst Griechenland.« Das Gesicht des Grafen schimmerte im Licht der Kerzen. »Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, wie viel mehr schöne junge Menschen es gibt als vor dem Krieg? Die ganze Physis der Nation wurde gestärkt, seit die Menschen die Freikörperkultur akzeptiert haben.«

Nach einer Weile zog sich Kraus in die Küche zurück, um ein Glas Wasser zu trinken. Fritz folgte ihm und erwischte ihn an der Spüle. »He, was höre ich da über eine Hirtin?« Er nuschelte trunken. »Das alte Plappermaul Wörner hat es beim Cocktail ausgeplaudert. Er sagte, diese Hexe wäre die gefährlichste der drei Köhlers. Und dass du darüber Stillschweigen bewahren würdest, damit sie nicht merkt, dass du ihr auf der Spur bist. Sch!« Er legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich verrate es niemandem.«

Leider hatte er das schon getan.

Denn während er einen Schluck Wasser trank, sah Kraus durch den Boden des Glases, wie Vicki in die Küche kam. Sie hörte, was Fritz sagte, und wurde kreidebleich. Dann warf sie Kraus einen Blick zu, der ihm fast das Herz zerriss und der ihn zu fragen schien, wie er sie so hintergehen konnte. Noch bevor er das Wasser herunterschlucken konnte, marschierte sie wieder hinaus, verschränkte die Arme und tat, als würde sie Graf Oldenburg fasziniert zuhören.

Als die Wahlergebnisse verkündet werden sollten, hatte der Graf mittlerweile eine verblüffende Odyssee der Zukunft dieser Nation entworfen, nicht nur was die Überwindung der Depression bis 1933 anging, sondern auch Deutschlands Aufstieg über alle anderen Demokratien, sowohl ökonomisch, wissenschaftlich als auch kulturell.

Wenn nur das Wahlergebnis seine Prophezeiungen unterstützte.

Alle Experten, sämtliche Meinungsumfragen, sogar Fritz lagen jedoch vollkommen falsch.

Nachdem sie die Zahlen und die anschließende Analyse gehört hatten, waren alle wie versteinert.

»Mein Gott!« Sylvie leerte ihr Glas, ging dann schwankend zum Radio und schaltete es ab. »Was für ein schrecklicher Tag für Deutschland.«

»Für ganz Europa.« Fritz strich sich über seinen Schnurrbart.

Die bürgerlichen Parteien hatten die Mehrheit behalten, gewiss, aber nur hauchdünn. Die Sozialdemokraten waren immer noch die stärkste Partei, hatten jedoch enorme Verluste hinnehmen müssen, während die KPD, die deutschen Kommunisten, dreiundzwanzig Sitze dazugewonnen hatten und jetzt mit siebenundsiebzig Sitzen im Parlament vertreten waren. Aber es war die NSDAP, die Nazipartei, zuvor eine der kleinsten Parteien im Reichstag, die ungeheure Zugewinne erzielen konnte und beinahe um achthundert Prozent zugelegt hatte, von zwölf auf einhundertsieben Sitze angewachsen war. Damit waren sie die zweitstärkste Partei geworden. Ganze Bezirke waren zu Hitler übergelaufen. Achtzehn Prozent der Wählerschaft, 6,5 Millionen Stimmen. Arbeitslose, Frauen und vor allem junge Wähler. Selbst die Nazis hatten nicht mit einem solchen Erfolg gerechnet. Über Nacht war der kreischende, wahnhafte Adolf Hitler, der nicht einmal die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, von einer unbedeutenden Zirkusnummer zu einem der mächtigsten Männer der Nation geworden.

»Im Ausland wird das einen katastrophalen Eindruck hinterlassen!«, stammelte der Graf und sah sie an, als suchte er Bestätigung, dass er nicht halluzinierte. »Die Auswirkungen für die Außen- und Finanzpolitik mag ich mir nicht einmal vorstellen.«

»Ganz zu schweigen von den Folgen im Inland«, setzte Fritz hinzu.

Deutschland zu regieren war schon vorher ein Fegefeuer gewesen, das hatte Kraus gewusst. Jetzt jedoch würde es die reinste Hölle werden. Das Feuer unter dem Kessel war nicht etwa heruntergedreht worden, sondern die Brühe darin hatte jetzt angefangen zu kochen. Ein Drittel der Sitze im Parlament waren in den Händen der Radikalen, der Linken und Rechten, die darauf aus waren, die Republik zu stürzen und sie durch eine Diktatur zu ersetzen. Über die Zukunft und sie alle schien ein langer Schatten gefallen zu sein.

»Und ich habe die ganze Zeit meinen Kopf in den Sand gesteckt.« Fritz starrte blicklos ins Leere, als würde er wieder diesen hysterischen Mob im Sportpalast sehen. »Selbst nachdem ich es mitangesehen hatte, wollte ich nicht zugeben, welche Anziehungskraft diese Bewegung besitzt. Aber jetzt kann man sie unmöglich länger ignorieren.«

Sylvie sank wimmernd auf das Sofa zurück.

»Was in den Knochen angelegt ist, wird sich im Fleisch zeigen.« Sie konnte kaum noch ihr Glas ordentlich füllen. »Die Deutschen sind süchtig nach Tyrannei. Das liegt daran, wie wir unsere Kinder erziehen. Mit dieser Brutalität. Sag mir nicht, dass ich mich irre, Fritz. Wenn du auch nur das geringste Interesse an diesem Thema hättest, würdest du mir zustimmen. Frag Vicki. Sie hat die neueste Literatur gelesen.« Sylvie hob ihr Glas und lächelte schwach, dann hickste sie. »Möchte jemand Dessert?«

»Lügner! Blödmann! Idiotischer Hundesohn!«

Kaum waren sie in den Mercedes gestiegen, schlug Vicki mit beiden Fäusten, so hart sie konnte, auf seine Schulter.

»Wie konntest du mir das antun? Und den Jungs? Wenn wir jetzt nicht mehr so aufmerksam gewesen wären und etwas passiert wäre, was dann?«

»Ich habe aber nicht in meiner Aufmerksamkeit nachgelassen.« Kraus versuchte, die Schläge abzufangen.

»Aber ich!« Vicki schlug ihn noch härter. »Du willst nicht, dass diese psychotische Mörderin weiß, dass du ihr auf den Fersen bist? Und deshalb hältst du es vor mir geheim? Was bist du, ein Schwachkopf? Glaubst du, dass auch ich es in einer Bar herausposaunen würde?«

Er hätte ihr gern gesagt, dass er es einfach vergessen hatte, aber das kam ihm selbst zu absurd vor.

»Ich wollte dich nicht aufregen, Vic. Du hast dir so große Sorgen gemacht. Ich habe nur versucht ...« Sie wollte ihm eine Ohrfeige zu geben, aber er packte ihre Hand. »Hör auf damit, verdammt!«

Sie saß keuchend da, starrte ihn finster an und wartete auf eine Erklärung.

Aber Kraus hatte keine. Nichts zu sagen war einfach nur das Einfachste gewesen. Das war alles.

»Wie soll ich dir jemals wieder vertrauen?« Sie sah ihn an, als wäre er ein Süchtiger, dessen Wahrnehmung vollständig von einem einzigen Bedürfnis bestimmt wurde. »Sag es mir, Willi! Wie?«

Er schluckte und hatte das Gefühl, als wäre sein Bewusstsein plötzlich von einem Blitzstrahl getroffen worden. Könnte sie recht haben?, fragte er sich, beinahe überwältigt von einem schwindelnden Entsetzen. Hatte dieser Fall mit seinem Kaleidoskop des Schreckens ihn irgendwie gelähmt? Hatte er tatsächlich seine Familie in Gefahr gebracht? Die Möglichkeit demütigte ihn so entsetzlich, dass er kaum atmen konnte. Er hätte sich am liebsten Vicki vor die Füße geworfen und sie um Verzeihung gebeten. Ihr versprochen zu kündigen. In die Firma ihres Vaters einzutreten.

»Wenn du willst, kann ich dich und die Jungs morgen früh zu deinen Eltern fahren, Vic.«

Das brachte ihm eine weitere Runde Prügel ein. »Ich will dich nicht verlassen, verdammt! Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst!«

Dann brach sie in seinen Armen zusammen und weinte herzzerreißender, als er es jemals bei ihr erlebt hatte.

»Oh, Willi, begreifst du denn nicht? Ich habe eine schreckliche Angst. Nicht nur wegen der Köhlers. Sondern auch wegen der Depression. Wegen der Nazis. Wegen allem!«

»Ruhig, ganz ruhig.« Kraus versuchte so gut es ging, sie zu beruhigen. »Es wird sich alles regeln, so oder so. Du wirst schon sehen.«

Doch am nächsten Morgen fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, wie das wohl geschehen sollte.

Denn als er die Wohnungstür öffnete, um die Tageszeitungen hereinzuholen, beherrschte Hitlers Gesicht die Titelseiten sämtlicher Zeitungen.