DREISSIG

Der Nebel hing wie ein Leichentuch über dem Landwehrkanal. Das Lagerhaus am Maybachufer 146 lag halb im Dunst verborgen. Der Rest des Häuserblocks, zum größten Teil Mietwohnungen, wirkte in seinem verwaschenen Grau und Blauweiß wie ein Gemälde von Monet. Die ganze Szenerie, leere Straßen, feuchte Pflastersteine und der morastige, grünliche Kanal erinnerten Kraus an die letzten spannungsvollen Augenblicke vor dem Beginn der Märzoffensive 1918. Eine Katze schlich lautlos über den Bürgersteig. Er konnte fast den durchdringenden Pfiff hören, der den Angriff befahl.

Nur ging es für ihn diesmal um etwas weit Persönlicheres.

Kraus warf bestimmt zum hundertsten Mal einen Blick auf seine Armbanduhr. Er hatte nur noch ein paar Minuten Zeit, um seine eigene Offensive zu starten, ohne dabei zahllose Unschuldige zu gefährden. Pünktlich um acht Uhr früh würde dieser ganze Häuserblock zum Leben erwachen, die Fenster würden sich fast gleichzeitig öffnen, Dienstmädchen und Hausfrauen würden das Bettzeug zum Lüften herauslegen. Die stählernen Rollläden vor den Geschäften der Schlachter, Bäcker und Friseure würden knarrend nach oben gezogen werden. Straßenbahnen würden über die Schienen rattern, während sich die Bürgersteige mit Männern in Anzügen füllten, mit Frauen, die einkaufen gingen, und Kindern in Kniestrümpfen, die sich auf den Weg zur Schule machten. Selbst in solch schwierigen Zeiten herrschte in Deutschland Ordnung und Verlässlichkeit. Wo zum Teufel also blieb seine letzte Abteilung?

Der Sekundenzeiger tickte unerbittlich weiter.

Kraus hockte hinter einem Berg aus Holzkisten auf einem flachen Prahm, der vor Tagesanbruch hierher bugsiert worden war, holte tief Luft und versuchte, seinen Herzschlag zu kontrollieren. Trotz der morgendlichen Kühle tropfte ihm der Schweiß von der Stirn und vom Hals, sammelte sich unter seinen Armen und ließ ihm das Hemd auf dem Rücken kleben. Er hatte angeordnet, dass sechs mit Gewehren bewaffnete Abteilungen der Schutzpolizei Punkt sieben hier sein sollten, aber die letzte war immer noch nicht eingetroffen. Er wollte das Lagerhaus nicht mit zu wenig Leuten stürmen, aber viel länger konnte er nicht mehr warten. Neben ihm lächelte Gunther mit beinahe engelsgleicher Geduld, so als wartete er nur auf sein Frühstück. Aber der Junge hatte auch noch nie zuvor einen richtigen Kampf erlebt.

Und es war auch nicht Gunthers Sohn, der entführt worden war.

Kraus versuchte, trotz des schmerzhaften Kloßes in seinem Hals, zu schlucken.

Die Männer, die letzte Nacht die Lagerhalle am Maybachufer 146 betreten hatten, waren mit Thompson-Maschinenpistolen bewaffnet, hatte sein Assistent berichtet. Das mochte in Chicago vielleicht an der Tagesordnung sein, aber nicht hier. In diesem Lagerhaus ging irgendetwas Großes vor. Und ungeachtet der Gefahren für die unmittelbare Nachbarschaft war ein bewaffneter Angriff die einzige Möglichkeit, herauszufinden, was es war. Und es war auch die einzige Chance, Erich und Heinz herauszubekommen. Falls sie überhaupt dort waren.

Die Unsicherheit brannte ihm in den Augen, drohte ihn zu lähmen und ihn vor Gram zu verzehren. Er hatte schon einige lange Nächte in seinem Leben überstanden, aber keine war so schlimm gewesen wie die letzte. Von dem Augenblick an, als er gehört hatte, dass ein Eiswagen die beiden Kinder entführt hatte, lastete eine unerträgliche Qual auf seiner Brust, die ihn bei jedem Atemzug zu zerquetschen drohte. Außerdem musste er sich gegen die aufgewühlten Gefühle von Vicki und den Winkelmanns behaupten, eine Mischung aus glühender Qual und gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Kraus blickte erneut auf seine Uhr.

Fünfzehn Stunden und dreißig Minuten. Was musste Erich denken? Fühlte er sich von seinem Vater im Stich gelassen? Hatte der kleine Heinz sich in die Hose gemacht, wie er es an jenem Tag im Lunapark beinahe getan hätte? Welche Schrecken sie erdulden mussten ...

Falls die Kinder überhaupt dort waren ...

Kraus ertrug es nicht, auch nur daran zu denken, sonst würde er noch wahnsinnig werden.

Der Sekundenzeiger weigerte sich, langsamer zu laufen. Der große, hölzerne Prahm dümpelte sacht auf den Wellen. Auf der anderen Seite des Kanals brachte ein Lastwagen bereits die Morgenzeitungen zum Kiosk. Und in der Nähe, direkt gegenüber vom Lagerhaus, hastete ein Bäcker, der Körbe mit frischen Brötchen austrug, mit einer langen weißen Schürze über die Straße. Kraus konnte sie beinahe riechen. Ein Mädchen mit einem kurzen Pony, in einer Seemannsjacke und einem dünnen weißen Rock, den der Wind um ihre Beine wehen ließ, hüpfte aus einem der Gebäude. Es war drei Minuten vor acht. Sein Magen verkrampfte sich. Sie hatten einfach keine Zeit ...

Gunther stieß ihm den Ellbogen in die Seite und deutete auf das Dach eines Gebäudes gegenüber. Drei kurze Blitzsignale mit einem Spiegel deuteten an, dass endlich alle Schutzpolizisten Stellung bezogen hatten.

Keine Minute zu früh.

»Antworten Sie«, flüsterte Kraus wütend.

Gunther schluckte und erwiderte das Zeichen mit seinem Spiegel.

Dann blitzten überall Spiegel auf, und aus einem Dutzend Richtungen näherten sich geduckte Gestalten, die Gewehre schussbereit in den Händen. Kraus holte seinen Feldstecher hervor und richtete ihn auf das Lagerhaus Nummer 146. Okay, sagte er lautlos. Erledigen wir es schnell und sauber.

Plötzlich flog ein Fenster im ersten Stock auf; eine Frau mit einem Kopftuch schüttelte einen kleinen roten Teppich aus und begann, ihn mit einem Klopfer zu bearbeiten. Um Himmels willen, schnell, drängte Kraus lautlos seine Leute. Ein Kind etwa in Erichs Alter, in einem blauen Serge-Anzug mit Knickerbocker-Hose, hatte sich zu dem Mädchen mit ihrer Seemannsjacke gesellt. Sie trugen beide große Lederranzen auf dem Rücken. Ihre glänzenden Schuhe klackten auf dem Bürgersteig, als sie losliefen.

Gerade als die erste Angriffswelle das Lagerhaus fast erreicht hatte, hallte jedoch lautes Knallen über die Straße, so als hätte jemand eine Champagnerflasche geöffnet. Dem Geräusch folgten ein halbes Dutzend weiterer. Und in den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite explodierten Fenster, eines nach dem anderen. Kraus wurde klar, dass der schlimmste Fall eingetreten war. Der Feind hatte das Feuer zuerst eröffnet.

Er richtete seinen Feldstecher auf die Straße und sah, wie das Mädchen in der Seemannsjacke einmal um seine Achse wirbelte, mit erhobenen Armen, so als würde sie eine Ballettfigur üben, und dann zu Boden stürzte. Der Bürgersteig färbte sich rot. Ihr Gefährte war zu verblüfft, um sich auch nur zu rühren, und die Frau mit dem Teppichklopfer begann zu kreischen.

Kraus ließ den Feldstecher, der an einem Band um seinen Hals hing, fallen und zog seine Luger.

Ein wahrer Hagelsturm aus Kugeln fegte jetzt aus den ersten beiden Stockwerken des Lagerhauses. Im ganzen Häuserblock warfen sich die Polizisten auf den Boden, Hunde heulten, und Jalousien wurden rasselnd wieder heruntergelassen. Der Kapitän des Kanalbootes, ein Mann mit einem Schmerbauch und einem großen Schnurrbart, war ausgesprochen gut bezahlt worden, weil diese Angelegenheit möglicherweise gefährlich sein konnte. Jetzt richtete er sich auf, um zu sehen, was da los war. Es klatschte laut, und ein klebriger Sprühnebel spritzte zwischen seinen Augen hervor.

Kraus fühlte sich wieder in die Schützengräben der Westfront versetzt, funktionierte mechanisch, angetrieben durch Adrenalin, als er sich in diese schreckliche Schlacht stürzte. Er zielte mit seiner Luger, einer halbautomatischen Handfeuerwaffe, und feuerte ein halbes Dutzend Schüsse in genauso vielen Sekunden ab, bevor er nachlud. Die Schutzpolizisten waren mit Mauser-Gewehren bewaffnet, die eine weit größere Reichweite und Durchschlagskraft besaßen. Aber auch damit konnten sie nichts gegen eine Thompson-Maschinenpistole ausrichten.

Querschläger prallten sirrend von Mauern und Pflastersteinen ab, zertrümmerten Straßenlaternen und prasselten wie höllischer Schwefelregen auf Regenrinnen und Rohre. Jeder Schuss fühlte sich an, als würde er Kraus’ Herz durchbohren. Die Vorstellung, dass Erich und Heinz in diesem Lagerhaus gefangen waren, ließ ihn fast verzweifeln.

Verdammt!, rief er ihnen innerlich zu. Lebt. Lebt! Er lud seine Pistole immer wieder nach und feuerte entschlossen auf das Lagerhaus. Hätte er es gekonnt, wäre er diesem ganzen tödlichen Kugelhagel ausgewichen, um zu den Jungs zu gelangen.

Irgendwann registrierte er, dass rechts neben ihm keiner feuerte. Er drehte sich herum und sah Gunther, vollkommen mit Blut bedeckt. Aber es war nicht sein Blut, sondern das des Kapitäns des Prahm. Der Anblick hatte den Jungen paralysiert; sein Mund stand offen und seine Hose war nass. Kraus wusste, dass der sprichwörtliche Schlag ins Gesicht Leute manchmal aus einer solchen Erstarrung reißen konnte, aber ihm war klar, dass es in diesem Fall keinen Sinn haben würde. Er sah eine Reihe von platschenden Einschlägen im Wasser des Kanals. Er warf sich über Gunther, bedeckte schützend mit den Armen ihre Köpfe, und im nächsten Moment erbebte das hölzerne Deck und zersplitterte um sie herum. Dann kippte der Prahm mit einem Ruck nach links, und Kraus hörte Wasser gurgeln. Sie soffen ab.

Gunther packte Kraus am Kragen. »Ich kann nicht schwimmen!«

»Das macht nichts. Wir sind unmittelbar am Ufer. Halten Sie sich einfach an meinem ...« Kraus hatte den Satz noch nicht beendet, als sie auch schon ins eiskalte Wasser fielen.

Zwischen zerborstenen Planken und treibenden Trümmern klammerte sich Gunther erbarmungslos an Kraus. Mit Armen und Beinen und seinem ganzen Oberkörper hockte er wie ein Gorilla auf Kraus’ Rücken. Entsetzen packte Kraus, als er bemerkte, dass er seine Arme nicht befreien konnte. Je mehr er es versuchte, desto fester umklammerte Gunther ihn. Sie gingen beide unter.

Gunther, nein! Aber Kraus konnte unter der Wasseroberfläche nicht sprechen. Wir sind so nah am Ufer. Aber so heftig er das auch mitzuteilen versuchte, sein Kopf blieb unter Wasser. Er konnte nicht atmen. Seine Lungen begannen zu schmerzen. Er kämpfte und wütete, aber Gunther hatte zu viel Angst und war viel zu stark.

Kraus dachte an die Jungs, die darauf warteten, gerettet zu werden.

Und an Vicki. Was würde sie durchmachen müssen, wenn sie Ehemann und Sohn verlor? Das konnte er ihr nicht antun.

Einmal noch. Noch einmal ... es gelang ihm, einen Arm unter Wasser zu befreien.

Er schlug zu, hart, wie ein Hammer, aber der Druck nahm und nahm nicht ab. Erschöpfung überkam ihn. Seine Lungen wurden immer heißer, wollten unbedingt gefüllt werden. Er wusste, dass er in einer Sekunde nach Luft ringen würde, Wasser in die Lungen bekäme und sterben würde. Aber sein letzter, verzweifelter Versuch war erfolgreich. Gunther krümmte sich zusammen, und der Druck ließ endlich nach. Er hatte Gunthers Unterleib getroffen. Im nächsten Moment reckte Kraus den Kopf aus dem Wasser und schnappte wie verrückt nach Luft.

Gunther schlug nur Zentimeter neben ihm wie verrückt um sich. Wenn er ihn nicht einfach ertrinken lassen wollte, blieb Kraus keine Wahl als ihn mit einem harten Schlag auf die Nase ohnmächtig zu schlagen. Nachdem er den schweren Körper seines Kriminalassistenten ans Ufer gezerrt und dann an den Armen auf die Böschung gezogen hatte, setzte er sich neben ihn ins Gebüsch, tropfnass und zitternd. Er rang immer noch nach Luft, als wäre er in einem Traum, und bemerkte, wie zwei rote Polizeiboote von Westen heranrasten und sich in Position brachten. Dann zielten sie mit ihren auf den Booten installierten Maschinengewehren auf das Lagerhaus und eröffneten das Feuer. Gleichzeitig rumpelte ein gepanzerter Lastwagen der Reichswehr über die Straße, auf dem eine Kanone montiert war. Als Kraus das gigantische, schwarze Fahrzeug halten sah und bemerkte, wie die Kanone sich drehte, wurde er aus seiner Betäubung gerissen. Das durften sie nicht tun! Er musste sie aufhalten! Doch bevor er auch nur ein Bein heben konnte, gab es einen furchterregenden Knall. Selbst die Erde unter seinem Körper erzitterte. Das Erdgeschoss des Lagerhauses Maybachufer 146 zerfiel zu Staub.

Kraus brach zusammen, landete mit dem Gesicht auf dem Boden und stieß einen gequälten Schrei aus.

Als die Feuerwehr die Flammen gelöscht hatte, war Kraus der Erste, der mit ihnen das Gebäude betrat. Sie stürmten einen Raum nach dem anderen, fanden jedoch keine Überlebenden. Nur sechs verbrannte Leichen im Erdgeschoss und zwei weitere im ersten Stock. Aber keine Kinder. Als Kraus klar wurde, dass Erich und Heinz möglicherweise noch lebten, wäre er fast ohnmächtig geworden.

Eine Stunde später saß er in einem Krankenwagen des Roten Kreuzes, eine Decke über die Schulter gelegt, und trank Kaffee. Er war allein. Gunther war bereits im Krankenhaus, zur weiteren Beobachtung. Aus der Ausrüstung im Lagerhaus, einschließlich des gewaltigen Destillationsapparates, war ganz klar ersichtlich, dass sie eins der größten illegalen Rauschgiftlaboratorien in Europa ausgehoben hatten. Aber nichts davon hatte etwas mit seinem Fall zu tun. Wo auch immer sich die beiden Jungs befanden, hier waren sie jedenfalls nicht gewesen.

»Inspektor.« Ruta steckte ihren Kopf in den Krankenwagen des Roten Kreuzes und keuchte, weil sie so außer Atem war. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ein verrückter schwuler Junge ist in Ihrem Büro aufgetaucht. Er hatte Lippenstift und Mascara aufgelegt! Und er wollte Sie unbedingt sprechen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie sich mit ihm am Fuß der Berolina treffen sollen – und zwar sofort. Ich soll Ihnen sagen, dass er sie wieder gesehen hat ... die Hirtin.«