VIER
»Sie wissen ja, wie man so sagt: Alles hat ein Ende«, verkündete Herr Strohmeyer, als sie die langen, kalten Räume betraten. »Außer ...« Er neigte den Kopf, um sich davon zu überzeugen, dass Kraus begriff, dass jetzt eine Pointe kam, »... die Wurst. Die hat zwei!«
Kraus zwang sich zu einem Lächeln. Diese Führung, dachte er, während ein dumpfer Schmerz in seinem Kopf hämmerte, beweist, dass einige Dinge sogar gar kein Ende haben.
Der große, kahlköpfige Strohmeyer war der Spross von Berlins größter Wurstdynastie, gegründet 1892, und führte Kraus jetzt schon gefühlte Stunden durch seine Fabrik. Dabei plapperte er unaufhörlich Werbeslogans vor sich hin. »Ein guter Wurstfabrikant stellt dieselben hohen Ansprüche an den Inhalt seiner Wurst wie ein Winzer an seinen Wein.« Für Kraus’ Kopfschmerzen war jedoch nicht nur die Eigenwerbung des Würstchenkönigs verantwortlich. Oder seine widerlichen Witze. Es war eine ausgesprochen anstrengende Woche gewesen.
Mittlerweile konnte man die Listeria monocytogenes für ein Dutzend Todesfälle verantwortlich machen. Nahezu tausend Leute in ganz Berlin waren von dieser infizierten Wurst krank geworden, einige davon ernsthaft. Und immer noch war das Gesundheitsministerium nicht einmal annähernd erfolgreich bei seinen Versuchen, die Bedrohung in den Griff zu bekommen. In der Stadt waren Dutzende von Firmen und Tausende von Schlachtern mit der Produktion, Verteilung und dem Verkauf dieses deutschen Grundnahrungsmittels beschäftigt. Den Ursprung der Vergiftung über Einzelhändler, Großhändler, Lieferanten und Schlachthöfe zurückzuverfolgen ... war der reinste Albtraum.
»Und natürlich das Sortiment. Die Vielfalt ist endlos ...«
Außerdem musste Kraus praktisch eine Lehre in der Wurstproduktion absolvieren, um die Möglichkeit eines kriminellen Hintergrundes einschätzen zu können.
»Es gibt frische Wurst.« Strohmeyer zählte die Produkte an den Fingern ab. »Geräucherte Wurst, trockene Wurst, halbtrockene Wurst.«
Das war ungefähr so viel, wie ein Kripobeamter schlucken konnte.
»Ganz zu schweigen von den verschiedenen Därmen. Schwein, Schaf, Rind.«
Kraus konnte sich einfach des Gefühls nicht erwehren, dass er von einem wichtigen Fall, einem mehrfachen Mord, abgezogen worden war und man ihm stattdessen eine Tube Schweineschmalz in die Hand gedrückt hatte.
»Aber man darf nicht unterschätzen, was so alles in die Wurst kommt.« Strohmeyer grinste Kraus feierlich an. »Die Wurstherstellung ist eine uralte Kunst, Herr Kriminalsekretär. Nachdem man das Fleisch geschnitten, gemahlen und gemischt hat, muss man zuerst ...«
Kraus’ Gedanken flohen wieder zu diesem Jutesack. Welcher Spur folgte Freksa bei seinen Ermittlungen? Folgte er dem Weg des Sacks durch die Kanalisation zurück? Und was war mit dieser Notiz der Bibliothek über völlige Verderbtheit, die er an ihn weitergegeben hatte? Freksa hatte nicht geantwortet. Seine Gefühle Kraus gegenüber waren kein Geheimnis. Aber er würde doch nicht seine Ermittlungen durch Vorurteile beeinflussen lassen, oder?
»Natürlich muss jede Füllung höchsten Ansprüchen an Qualität genügen und außerdem das richtige Verhältnis von Fleisch und Fett aufweisen. Wenn nicht«, Strohmeyer senkte die Stimme, als hätte er Angst, einen Fluch heraufzubeschwören wenn er laut sprach, »versetzt man der Wurst den Todesstoß.«
Was für eine ironische Formulierung, dachte Kraus angesichts dessen, wie vielen Menschen ein solcher Todesstoß von der Wurst seiner Familie versetzt worden war. Trotzdem konnte er das Jammern des Mannes nachvollziehen. Die Strohmeyer-Fabrik lag gegenüber dem riesigen Centralvieh- und Schlachthof an der Landsberger Allee und beschäftigte beinahe einhundert Arbeiter. Viele von ihnen standen herum und beobachteten, wie ihr Boss schon wieder einen Beamten herumführte. Die gewaltigen Mahlwerke, die Industriemischer, die Schneidemaschinen, die Fleischwölfe, die riesigen Füllmaschinen ... all die standen still. Die Löhne waren eingefroren. Fleischindustrie und Gewerkschaften standen dieses eine Mal auf derselben Seite und kämpften im Augenblick darum, das stadtweite Wurstverbot von den Gerichten aufheben zu lassen. Es war leicht, mit ihrem Anliegen zu sympathisieren. Aber Kraus stellte sich immer wieder die Mutter der Sechsjährigen vor, die er Anfang der Woche befragt hatte ...
»Wir dachten, sie hätte nur eine Magenverstimmung.« Die Frau faltete unaufhörlich einen kleinen Pullover in ihrem Schoß, strich mit ihrer Handfläche darüber. »Wir haben sie sogar zur Schule geschickt.« Ihre Stimme war so heiser, dass sie kaum zu verstehen war; wie damals, als Vicki eine Kehlkopfentzündung gehabt hatte. »Aber in dieser Nacht war der Durchfall so schrecklich.« Kraus hatte sich geschüttelt bei dem Gedanken, dass so etwas einem seiner Jungs zustoßen könnte. »Sie hatte Blut im Stuhl. Und dann das Fieber ... und diese Krämpfe. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber ...« Sie drückte den Pullover an ihren Hals.
Im Laufe der Jahre hatte er mehr als eine Befragung mit trauernden Eltern durchgeführt. Aber noch nie hatte er sich auf dem Nachhauseweg eine Träne aus dem Augenwinkel reiben müssen, so wie dieses Mal.
Da die ersten Opfer hauptsächlich aus ärmeren Wohnvierteln kamen, hatten die Ermittler ursprünglich vermutet, die Wurst wäre aus Freibankfleisch hergestellt worden, also aus dem Fleisch der Kadaver von kranken Tieren. Schnell jedoch wurde offenkundig, dass die Opfer nicht nur aus den ärmsten Schichten stammten, sondern auch aus den reichsten Vierteln von Berlin, und bald gab es auch die ersten Opfer aus der Mittelklasse. Listeria waren in mindestens sechs verschiedenen Würstchenarten aufgetaucht, die zu mindestens einem Dutzend Schlachtereien zurückverfolgt werden konnten. Die hatten ihre Produkte allesamt von dem gigantischen Großhandelsmarkt in der Nähe des Alexanderplatzes bezogen. Kraus war in Berlin aufgewachsen, hatte sein ganzes Leben hier verbracht und dabei die riesigen Hallen des Zentralmarktes auf der Neuen Friedrichstraße, nur einen Block vom Polizeipräsidium entfernt, zahllose Male gesehen. Aber er war noch nie hineingegangen.
Bis vor drei Tagen.
Eine gewaltige Arkade aus Ziegeln und Stahl, die mehrere Stockwerke hoch war, begrüßte ihn. Das Tageslicht fiel durch riesige Fenster an beiden Enden ins Innere. Das Meer der Buden und Großhändler erzeugte eine ungeheure Kakophonie von Lärm. Viele Hundert von ihnen versorgten eine Stadt von vier Millionen Menschen mit Fleisch, Fisch, Früchten und Gemüse, und das alles fand unter einem Dach statt. Einzelhändler, Gemüsehändler, Schlachter sowie Fischhändler drängten sich auf jedem Quadratmeter dieser Halle, alle auf der Suche nach einem guten Geschäft.
Kraus wurde von einem hochrangigen Verwalter empfangen, der ihm pflichtbewusst die Kühlkammern unter den großen Hallen zeigte, die direkt mit der Stadteisenbahn verbunden waren, sowie das Hydrauliksystem, das die Produkte mit einzigartiger Schnelligkeit von den Bahnwaggons ablud. Er wurde über die komplizierten Bestimmungen informiert, welche die Handhabung von Lebensmitteln regulierten: Fleisch durfte nur zu bestimmten Stunden und nur durch besondere Eingänge in die Halle gebracht werden, andere Produkte durch andere Eingänge zu anderen Zeiten. Man versicherte ihm, dass alle Händler verpflichtet waren, ihren Bestand wenigstens einmal in sieben Tage auszupacken und alle verdorbenen Artikel zu vernichten. Eine Gruppe von Inspektoren kontrollierte jede Verkaufshalle, und es gab auch eine medizinische Station mit einer erfahrenen Schwester. Nein, das Problem der Listerien hatte seinen Ursprung ganz bestimmt nicht im Zentralmarkt.
Was auch niemand behauptet hatte.
Die ungeheure Halle, in der die Wurstgroßhändler ihren Sitz hatten, war leicht zu erkennen, weil es dort keine Kunden gab. Das Wurstverbot hielt jetzt schon drei Tage an, und die Buden waren leer bis auf einige Dutzend Verkäufer, die händeringend auf Bergen von Bierwurst, Blutwurst, Bockwurst, Bratwurst, Landjäger, Leberkäse, Knackwurst und Gelbwurst saßen. Es gab nahezu zweihundert verschiedene Wurstsorten, die auf ihre Begnadigung warteten. Das Gesundheitsministerium hatte sich auf zwei Großhändler konzentriert: die Brüder Klingel, Lieferant von neun der dreizehn Metzgereien, die mit der Vergiftung in Verbindung gebracht wurden, und Zuckerhof auf der anderen Seite des Gangs, der sieben Fleischer belieferte. Beide hatten ihre Ware direkt von örtlichen Produzenten bezogen, und zwar größtenteils, wenngleich auch nicht ausschließlich von der Strohmeyer Wurst A. G. Keiner jedoch glaubte, dass die Listerien von dort kamen.
Kraus hatte beide einzeln befragt, und sowohl Klingel als auch Zuckerhof betonten diesen Punkt nachdrücklich. Strohmeyer wäre schon viel zu lange im Geschäft, behaupteten sie, und hätte als Hersteller einen viel zu guten Ruf. Die Vergiftung musste bei einem seiner Lieferanten begonnen haben. Aber keinem der großen, wie zum Beispiel dem Viehhof. Nein, die zentralen Schlachthöfe wurden viel zu streng beaufsichtigt. Es musste ein unkonzessionierter freier Händler gewesen sein. Diese skrupellosen Mistkerle verkauften ihre billige Ware in Gassen abseits der großen Märkte, ohne Miete für Buden zu bezahlen oder Vorschriften einzuhalten. Sie stellten eine echte Bedrohung dar; Kraus konnte sie sich ja selbst ansehen. Die konzessionierten Händler beschwerten sich schon seit Jahren über sie, und was hatte es ihnen gebracht? Diese Katastrophe. Wer würde sie jetzt für all diese verdorbene Ware entschädigen? Wenn das Wurstverbot noch viel länger dauerte, würden die ehrlichen Händler untergehen und nur noch diese Kakerlaken von freien Händlern übrig bleiben.
Das Hämmern in Kraus’ Kopf hatte etwa um diese Zeit angefangen und wurde seitdem mit jedem Tag schlimmer.
Und diese endlose Tour durch die Wurstfabrik tat das ihre dazu.
»Natürlich befolgen wir die striktesten Sicherheitsvorschriften, die das Gesundheitsministerium selbst herausgegeben hat.« Strohmeyer klang schrill, als sie die Füllräume erreichten. »Keiner weiß besser als wir, wie rasch sich Bakterien an einem Arbeitsplatz ausbreiten können. Wir halten unsere Einrichtung blitzblank, wie Sie sehen. Oberflächen, die in Kontakt mit Fleisch kommen, werden ständig mit Chlorbleiche desinfiziert. Unsere Angestellten waschen sich die Hände, bevor sie ihren Arbeitsplatz betreten oder nachdem sie irgendetwas getan haben, was das Fleisch kontaminieren könnte, zum Beispiel niesen.«
Kraus starrte auf die Reihen von riesigen Schüttgut-Containern mit ihren langen Trichtern und den justierbaren Stutzen. Er konnte fast sehen, wie die fetthaltige, rote Mischung hindurchgepresst wurde, die Darmhüllen füllte, wie eine Hülle nach der anderen gestopft wurde, gedreht, wie Schlingen ausgespuckt wurden und sich sorgfältig darum wanden. Ein kurzer Seitenblick auf Strohmeyer überzeugte ihn davon, dass der Wurstkönig seine eigenen Worte wirklich glaubte. Aber Kraus hatte genug Zeit gehabt, die Unterlagen zu studieren, deshalb wusste er, dass die Rhetorik des Mannes nicht vollkommen mit den Tatsachen übereinstimmte.
Eine Wurst – das hatte er diese Woche gelernt – war mehr, als sie schien. In einem einzigen Darm konnte eine Firma wie die von Strohmeyer nicht nur verschiedene Fleisch- und Fettanteile stopfen, sondern auch Fleisch von unterschiedlichen Tieren und sogar von unterschiedlichen Schlachthöfen. Sie benutzten auch das, was man Füllmaterial nannte, fettige Stücke, die von besserem Fleisch abgeschnitten worden waren, oder auch andere Teile des Tiers, die schwer zu nutzen waren, wie zum Beispiel Mägen, Kehlen, Blut. Das kombinierten sie mit höherwertigem Fleisch. Eine Mischung von Fleisch und Füllmaterial sparte einer Firma – laut dem Industrie-Handelsjournal Fleisch und Fleischnebenprodukte – etwa fünfundvierzig Prozent Kosten. Was weder das Journal noch Strohmeyer erwähnten, was jedoch in einem Bericht des Gesundheitsministeriums von 1927 stand, war, dass dieses billige Füllmaterial von Tierteilen stammte, die mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Kontakt mit der Hauptquelle von Bakterien hatten: tierischem Kot.
Nach einer langen Reise in drückender Enge quer durch Europa erreichten Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder Berlin vollkommen mit Fäkalien eingeschmiert. Der gigantische, zentral gelegene Vieh- und Schlachthof, der Centralviehhof, verlangte, dass alle Schlachter die Kadaver gründlich abspritzen, bevor sie sie in die Zerlegeräume schickten. Das war jedoch, hatte Kraus herausgefunden, alles andere als narrensicher. Fäkalien kamen immer wieder durch. Und manchmal verteilten Arbeiter sie von der äußeren Haut direkt auf das Fleisch, wenn auch unabsichtlich. Das passierte vor allem bei dem sogenannten Füllmaterial, das aus der Außenseite herausgeschnitten wurde und das zum Beispiel Strohmeyer verwendete. Die Arbeiter entfernten zwar alle Fäkalien, die sie sahen, aber laut einem Bericht der Vereinigten Fleischarbeiter Gewerkschaft konnten sie leicht etwas übersehen, da alle fünf Sekunden ein halber Kadaver am Haken heranrollte. In der Kaldaunenwäsche, wo die Tiere ausgenommen wurden, grassierte ebenfalls die Verunreinigung.
Strohmeyer kaufte Füllmaterial, Abfälle, Fett, Blut sowie große und kleine Darmhäute von mindestens einem Dutzend Lieferanten auf dem Viehhof. Er verließ sich darauf, dass sie ihre Produkte auf Befall von Bakterien testeten, und führte seine eigenen Tests erst durch, nachdem der Inhalt bereits zusammengemischt war. Technisch gesehen entsprach das den Richtlinien des Gesundheitsministeriums aus der Zeit der Jahrhundertwende, die zwar vorschlug, dass Wurstproduzenten die Fleischzutaten vor dem Mahlen prüften, es aber nicht zwingend vorschrieben. »Optimalerweise sollte jeder Produktionspartie eine Stichprobe entnommen werden, die überprüft wird, bevor sie den Lieferanten verlässt, und erneut überprüft werden, bevor sie beim Empfänger genutzt wird«, empfahl die Richtlinie. Das Problem war jedoch, wie Kraus erfahren hatte, dass viele Schlachter erst gar nicht an Produzenten verkauften, die auf solch strikte Tests bestanden. Deshalb hatten die Fleischverarbeiter die Dinge ein wenig schleifen lassen. Gemäß seines eigenen Sicherheitsprogramms hatte sich Strohmeyer 1910 verpflichtet, Zertifikate von allen Lieferanten zu verlangen, die bewiesen, dass keine Bakterien in den gekauften Partien zu finden waren. Nur hielt sich Strohmeyer nicht an seine eigenen Regeln. Für die gesamten Zwanzigerjahre konnte die Firma kein einziges Sicherheitszertifikat vorweisen. Kraus hatte es überprüft. Er hatte jeden einzelnen Ordner in den Unterlagen der Firma durchgesehen. Seit 1919 gab es kein einziges Zertifikat.
»Sind wir perfekt?«, fragte Strohmeyer. »Nein. Aber wir zeigen zumindest, dass wir uns ständig verbessern.«
Höchstwahrscheinlich läuft es auf sträfliche Fahrlässigkeit hinaus, dachte Kraus.
»Und wir werden auch nicht stehenbleiben. Sobald die Produktion wieder anlaufen kann, wird die Strohmeyer A. G. die aggressivsten Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit unserer Produkte zu gewährleisten. Aber, und dazu habe ich das Gesundheitsministerium bereits gedrängt ... die Bemühungen müssen verstärkt werden, diese Seuche zu den Schlachthöfen zurückzuverfolgen. Dort liegt die Quelle.«
Jeder liebte es, mit dem Finger auf jemand anderen zu zeigen.
Zumindest stimmt es, dachte Kraus, dass hier bei Strohmeyer kein Anzeichen von Listerien aufgetaucht ist. Auch wenn die Firma vollkommen willkürlich getestet hat. Große Partien gingen vollkommen ungeprüft aus dem Haus. Aber die Regierungsinspektoren hatten die Firma vollkommen auf den Kopf gestellt, als man die Quelle für die Listerien in der Wurst gefunden hatte, und sie hatten nichts gefunden. Kraus begriff jetzt, warum so etwas Zeit benötigte ... weil Listerien so unglaublich resistent waren. Einige Wissenschaftler behaupteten, diese Bakterien könnten sich unter besonders großen Stressbedingungen tatsächlich in eine Art Tiefschlaf versetzen. Das bedeutete, Testresultate waren nur über eine längere Zeit hinweg aussagekräftig. »Sie müssen säubern, prüfen, säubern, prüfen ...«, hatte Frau Dr. Riegler bei ihrem ersten Treffen gesagt. Laut ihrer Aussage würden die Listerien höchstwahrscheinlich wieder hier auftauchen, weil sie mit ziemlicher Sicherheit hier vorgekommen waren. In neun von zehn Fällen – das Auge der Frau Doktor zuckte heftig bei diesen Worten – konnte man die vergiftete Wurst direkt zur Strohmeyer Wurst A. G. zurückverfolgen. Was aber nicht bedeutete, dass die Infektion dort ihren Anfang haben musste.
Welchen Weg diese Kreaturen zurückgelegt hatten, mussten Wissenschaftler herausfinden. Kraus folgte einfach nur seinem Bauchgefühl. Nachdem er all diese Stunden dem Wurstkönig zugehört hatte, vermittelte ihm sein Bauch Folgendes: Strohmeyer fügte der Wahrheit ebenso bereitwillig Zusatzstoffe hinzu wie seiner Wurst.
Es wurde Zeit, tiefer zu bohren.
»Würde Ihre Firma, um Kosten zu reduzieren«, Kraus warf dem Mann einen flüchtigen Seitenblick zu, »möglicherweise auch außerhalb des Marktes Fleisch von, sagen wir, einem nicht konzessionierten Händler erwerben?«
Strohmeyer senkte eine Braue. »Herr Kriminalsekretär. Strohmeyer ist ein Familienbetrieb. Seit 1892.«
»Ja, selbstverständlich.« Kraus hob eine Hand. »Ich frage nur, weil es meine Pflicht ist.«
Draußen hatte sich der Himmel zugezogen, als wollte es regnen. Kraus knöpfte sich den Mantel zu und warf einen Blick über die Straße. Lastwagen und Pferdefuhrwerke drängten sich vor den endlos langen Schuppen der Halle Zwei und Drei des Fleischgroßmarktes, wo Strohmeyer und seine Konkurrenten das bessere Fleisch erstanden. Rechts davon, etwas weiter südlich, erstreckte sich eine Reihe von Schornsteinen am Horizont. Dieser Bereich war mit dem Großmarkt durch einen Tunnel unter der viel befahrenen Landsberger Allee verbunden. Es war eine riesige Stadt in der Stadt und erstreckte sich kilometerweit in jede Richtung. Berlins riesiger, zentraler Vieh- und Schlachthof mit seinen zahllosen Eisenbahnschienen, Verkaufshallen und Schlachthöfen. Schon bald würde er seine Ermittlungen dort fortsetzen müssen. Aber nicht heute. Heute würde er nach Hause gehen und den Jungs bei den Hausaufgaben helfen, ihnen vielleicht ein bisschen vorlesen und ein Bad nehmen.
Und mit seiner Frau schlafen.
Kraus holte tief Luft und klappte den Mantelkragen hoch. Jenseits des Viehhofs, einen knappen halben Kilometer südlich, lag die Baustelle, wo der Jutesack aufgetaucht war. Freksa sollte sich besser beeilen und den Mistkerl finden, der diesen Sack gefüllt hat, dachte er, als er sich an die Bibliotheksnotiz über die völlige Verderbtheit erinnerte. Jemand, der fünf Kinder getötet hatte, würde auch noch weitere umbringen.
Kraus drehte sich in den Novemberwind. Als er die breite Chaussee erreichte, fuhr ein Lastwagen nach dem anderen an ihm vorbei. Ein Zeitungsverkäufer bot seine Ware feil: »Gericht hält Wurstverbot aufrecht! Zwei weitere Todesopfer!« Unbewusst beschleunigte Kraus seine Schritte. Doch auf halbem Weg zur S-Bahn-Station wäre ihm fast schlecht geworden. Was für ein Gestank! Die Quelle lag links von ihm, in einer langen, dunklen Gasse zwischen Lagerhäusern, in denen sich Menschen und Handkarren drängten. Das war es also ... ein Markt der freien Händler. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Ohne genau zu wissen, wonach er suchte, betrat er die stinkende Gasse.
In seiner Zeit in Berlin war er bereits an erheblich gefährlicheren Orten gewesen als in dieser widerlich stinkenden Gasse. Der Gifthauch war fast sichtbar, ein dunkler, dampfender Nebel, der aus Dutzenden von Wannen und Fässern aufstieg, in denen Gott weiß was schwamm. Nichts deutete auf die stinkenden Inhalte dieser Behälter hin. Kraus konnte nur Vermutungen anstellen. Diese schlammigen Hügel, länglich und gummiartig, mussten irgendeine Art von Eingeweide sein. Die Fässer waren gefüllt mit dunkelroter Flüssigkeit – Blut. In Kisten stapelten sich haarige, rosafarbene Dinge – Ohren. Und was wie ein Haufen von Glasmurmeln aussah, waren Augäpfel; woher sie stammten, konnte er nicht sagen. Die Frische der Ware war gelinde gesagt höchst zweifelhaft; die Händler hatten sie vom Viehhof auf der anderen Straßenseite fast geschenkt bekommen, manchmal sogar tatsächlich umsonst. So zweifelhaft die Produkte auch sein mochten, die Leute selbst sahen noch schlimmer aus. Instinktiv griff er in seine Jackentasche und berührte seine Brieftasche. Die verschlagen wirkenden Kunden waren alle schlecht gekleidet und stanken. Die Verkäufer waren noch schlimmer dran: Ihnen fehlten Zähne, Finger, Arme oder Beine.
Und es gab so viele Kinder.
Beim Anblick eines kleinen Jungen hinter einem offenen Fass schnürte sich Kraus die Kehle zu. Der Knabe war nicht viel älter als Erich, höchstens zehn Jahre alt. Warum war er nicht in der Schule? Kraus hatte seine eigene Kindheit niemals für besonders idyllisch gehalten; sein Vater war gestorben, als der kleine Willi neun gewesen war. Aber im Vergleich zu denen hier ... Mein Gott, wie viel Glück hatte er gehabt. Ebenso wie Erich und Stefan. Plötzlich sehnte er sich danach, sie in die Arme zu nehmen. Dieses Kind war in schmutzige Lumpen gekleidet und sah sich mit seinen dunklen Augen um, hoffte auf einen Glücksfall, so schien es, damit es seine Ware verkaufen und dieser elenden Höhle entkommen konnte. Doch kaum streifte der Blick des Jungen Kraus, da schlug er den Deckel auf sein Fass, und seine Miene wurde ausdruckslos, als wäre er taub und blind. Kraus wurde klar, wie fehl am Platz er in seinem grauen Anzug und dem Mantel, den Vicki ihm letztes Jahr in London gekauft hatte, wirken musste. Dann bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass er sich plötzlich im Mittelpunkt des Interesses zu befinden schien. Ihm wurde klar, dass keiner dieser Verkäufer hier legal war.
Plötzlich krampfte sich sein Magen zusammen. Direkt hinter dem Jungen lag ... ein Jutesack. Und der Aufdruck auf der Seite war klar zu erkennen: SCHNITZLER & SOHN.
Kraus versuchte es mit einem Lächeln. »Willst du mir nicht erzählen, was du da anzubieten hast?«
Der Junge tat, als hörte er ihn nicht.
»Aber wie soll ich kaufen, wenn ich nicht weiß, was du verkaufst?« Kraus tat, als hätte man seine Gefühle verletzt.
Die Antwort des hageren, kleinen Jungen war scharfsinniger, als ihm lieb war. »Wenn Sie hier wären, um zu kaufen, müssten Sie nicht fragen, Herr.«
Kraus schluckte. Er spielte mit dem Gedanken, seine Dienstmarke herauszuholen und den Jungen dazu zu zwingen, ihm zu antworten, aber plötzlich ertönte hinter ihm eine barsche Stimme.
»Wieso belästigen Sie den Jungen?«
Langsam drehte sich Kraus um und fand sich Nase an Nase mit einer gewaltigen Kreatur wieder, die um etliches größer war als er selbst und dazu ein langes, scharfes Messer in der Hand hielt, das auf seinen Unterleib zielte. Kraus brach unter seinem Anzug der kalte Schweiß aus. Es war nicht unmöglich, diese Bestie zu entwaffnen, möglicherweise jedenfalls. Im Krieg hatte er in einer Eliteeinheit gedient, hatte hinter den feindlichen Linien operiert, die beste Nahkampfausbildung erhalten und wusste sie auch einzusetzen. Aber Kraus bemerkte aus den Winkeln seiner sehr gut ausgebildeten Augen weitere blitzende Messer in der Menge. Natürlich war es sein Fehler ... Wieso war er auch alleine an einen solchen Ort gegangen? Ja, wenn er einen Assistenten hätte, wie die Vorschriften es verlangten ... Aber seine Vorgesetzten schienen niemanden finden zu können, der bereit war, mit ihm zu arbeiten. Jedenfalls behaupteten sie das.
»Ich, ihn belästigen? Ganz und gar nicht. Ich bin ein Besucher aus Hamburg.« Er kratzte sämtliche Liebenswürdigkeit zusammen, die er aufbringen konnte. »Ein Geschäftsmann.« Er tippte sich an den Hut. Das Letzte, was er für Stefan und Erich wollte, war, dass sie wie er ohne Vater aufwuchsen. »Sind Sie schon einmal in Hamburg gewesen?« Er lächelte und stellte sich vor, wie er in Scheiben geschnitten in einem dieser Fässer landete. »Dort haben wir auch wunderschöne Märkte. Aber längst nicht so groß wie die von Berlin. Hier ist alles so viel größer. Tut mir leid, ich wollte wirklich niemanden belästigen.« Er warf ein Fünfmarkstück in die Luft, das der Junge sofort auffing. »Kauf dir eine schöne warme Suppe und deinem Freund auch eine.«
Kraus ging langsam hinaus, erleichtert, dass er all seine Eingeweide noch am richtigen Platz hatte, und warf dabei einen Blick auf den Schläger mit dem Messer. Mein Gott! Er war so groß wie ein Ochse. Und wirkte auch genauso kräftig. Er hatte die dicksten Arme, die Kraus jemals gesehen hatte. Manchmal, dachte er, als er die Straße erreichte hatte und erleichtert seufzte, rechnete es sich eben, einfach nur zu zahlen.