DREIUNDZWANZIG

»Natürlich wäre das nett.« Vicki blätterte die Seiten ihres Magazins durch. »Eine Menge Sachen wären nett, Willi. Aber ein Monat in Amerika?« Sie richtete sich auf ihrem Strandstuhl auf und überzeugte sich davon, dass er die Jungs so im Auge behielt, wie er es sollte. »Wir alle vier? Also wirklich.« Sie lehnte sich mit einem Seufzer zurück. »Es kommt ja kaum vor, dass du auch nur mal einen Tag frei machst.«

Kraus lag auf einem Handtuch zu ihren Füßen und holte tief Luft. Er konnte ihre Haltung zwar verstehen, aber sie gefiel ihm nicht sonderlich. Man kann es mir ja wohl kaum verübeln, ein bisschen zu träumen, dachte er, während er Sand durch die Finger rieseln ließ. Der Druck, unter dem er stand, war gnadenlos; ganz Berlin schien an ihm zu hängen und auf seinen großen Durchbruch zu warten. Außerdem waren die Jungs direkt vor ihnen, nicht einmal drei Meter entfernt, und bauten eine Sandburg. Obwohl nichts auch nur ansatzweise Gefährliches ihr heimisches Leben bedroht hatte, beharrte Vicki darauf, dass in jeder Sekunde eine tödliche Gefahr lauerte.

Kraus sah sich an dem belebten Seeufer um und empfand erneut, wie so oft, einen winzigen Stich von Angst ... Aber nicht davor, dass einer der Köhlers auftauchen und ihnen die Kehlen durchschneiden könnte, sondern dass jemand ihn trotz seiner dunklen Sonnenbrille erkannte, womöglich, was Gott verhüte, ein Elternteil eines der ermordeten Kinder, und ihn fragte, was zum Teufel er hier am Strand zu suchen hatte, wenn doch der Kindermörder nach wie vor frei herumlief.

Wenn er nur eine Maschine wäre. Dann müsste er nie ausruhen. Oder würde nie träumen.

Es war das erste Wochenende im September, und ein angenehm kühler Wind wehte über die sonnige Badebucht am Wannsee. In dem riesigen, glänzenden See spiegelten sich weiße Federwolken. Dahinter kündeten vier neue Pavillons in sandfarbenen Ziegelsteinen, in denen sich Geschäfte, Restaurants und Umkleidehallen befanden, von dem neuen internationalen Stil, der sich in Deutschland Bahn brach: die Vorherrschaft der Eleganz und Funktionalität. Die langen, flachen Dächer der Pavillons dienten außerdem als Sonnenterrassen, worüber sich Nationalisten als »un-deutsch« beschwerten. Für die Tausenden jedoch, die heute mit dem Wagen oder der S-Bahn hergekommen waren, schien das keine Rolle zu spielen. Eingerahmt von schattigen, grünen Wäldern auf der einen und zahllosen, über das schillernde Wasser gleitenden Segeln auf der anderen Seite zeigte dieser Badestrand am Wannsee Berlin von seiner großartigsten Seite.

Kraus war vor einer Woche aus Niedersedlitz zurückgekehrt und bemühte sich, Magda Köhler zu erwischen – oder wie auch immer sie sich jetzt nannte. Von der Stelle ausgehend, wo er sie an jenem Nachmittag gesehen hatte, hatte er ihren Arbeitsplatz auf sechs mögliche Bereiche im Viehhof eingegrenzt, allesamt auf dem kleinen Weg, der so passenderweise Knochengasse genannt wurde. Er konnte nicht einfach hineinstürmen und diese Orte durchsuchen; ihm war klar, dass er sehr vorsichtig vorgehen musste. Die Lektion, die er aus Heilbutts Geschichte auf der Bremen gelernt hatte, war ihm noch gut in Erinnerung: Während der großen Inflation, während der sie Hundefleisch als Füllung für Wurst verscherbelt hatten, hatten die Köhlers immer gemerkt, wenn Ermittler auftauchten, und waren rasch verschwunden. Kraus hatte nicht vor, sie sich erneut durch die Lappen gehen zu lassen.

Direktor Gruber unterstützte ihn, wenn auch zähneknirschend. Er versorgte Kraus mit Blaupausen, Karten, sogar Informanten. Aber er machte klar, dass er es für eine gewaltige Zeitverschwendung hielt. Solche Typen, wie Kraus sie beschrieb, konnten unmöglich in seinem Viehhof operieren, weil sein Viehhof viel zu gut kontrolliert wurde.

Wann immer Kraus einen schwachen Moment hatte, fürchtete er, der Direktor könnte recht haben.

Seit drei Tagen ließ er jetzt jeden Zentimeter der Knochengasse von Dächern und geparkten Lastwagen aus beobachten. Sogar von verdeckten Ermittlern innerhalb des Viehhofs. Ein Dutzend Männer hatten den Block umzingelt. Er war sogar so weit gegangen, Kundschafter zu örtlichen Gymnastikvereinen zu schicken, um dort nach Axel zu suchen. Bis jetzt hatte jedoch niemand irgendjemanden gesehen, der an einen der beiden riesigen Zwillinge erinnerte.

War es bereits zu spät?

Eines war klar: Die Blaupausen, die er von Gruber bekommen hatte, waren nutzlos. Neulich hatten Gunther und er noch vor Tagesanbruch einen Inspektionsgang unternommen, verkleidet als städtische Wasserinspektoren. Sie hatten die Hauptschlüssel des Viehhofs benutzt und alle sechs Geschäfte auf der Knochengasse betreten, angefangen mit der Knochenmühle der Gebrüder Lutz. Sie hatten sich mit Taschenlampen den Weg durch die von Knochensplittern übersäten Gänge des Geschäfts gebahnt, vorbei an riesigen Mahlwerken und Knochenhaufen, und waren schließlich über eine kurze Treppe in ein staubiges Untergeschoss voller Gerümpel hinabgestiegen. Aber ganz gleich, wie scharf sie auch suchten, sie hatten keine Spur von den Abwasserkanälen gefunden, die auf den Blaupausen eingezeichnet waren. In den Gelatinewerken Reiniger, bei Klebstoff Becker und bei den Borstenwerken Hansenclever war es dasselbe gewesen. Entweder stimmten die Blaupausen nicht, oder es hatte unterhalb des Straßenniveaus größere Umbauten gegeben.

Kraus würde dieses Thema gleich am Montagmorgen mit Herrn Direktor Gruber besprechen.

Kraus blickte auf die weißen Segel auf dem See und holte tief Luft. Die Jungs hatten eine ziemlich beeindruckende Sandburg gebaut. Im Stil von Antoni Gaudi, dachte er mit väterlichem Stolz. Vielleicht würden sie ja Architekten werden. Als er dann seinen Blick zurück zu den neuen Pavillons gleiten ließ, richtete er sich jedoch plötzlich ruckartig auf.

»Vicki«, sagte er und kniff die Augen zusammen, um wirklich sicherzugehen, »pack die Sachen zusammen, Liebling.«

Er sprang von seinem Handtuch auf und lief zu den Jungs. Selbst dieses luftige Idyll war nicht gegen den politischen Wirbelwind gefeit, der Deutschlands Hauptstadt zurzeit durchschüttelte. Je näher die Wahlen kamen, desto mehr hatte sich die Atmosphäre aufgeladen. Es verging kaum ein Tag ohne blutige Zusammenstöße zwischen Nazis und Kommunisten irgendwo in Berlin. Und Kraus hatte das Gefühl, dass diese explosive Mischung sich auch genau hier zusammenbraute. Nicht einmal ein Tag am Strand konnte die Leute dazu bringen, Politik für kurze Zeit beiseitezulassen. Abzeichen, Anstecknadeln und Marken waren an Hüten und selbst an Badeanzügen befestigt. Er hatte zuvor bemerkt, dass das gesamte Personal rote Halstücher trug. Die Kunden im Restaurant dagegen waren fast ausnahmslos Braunhemden. Und etliche von ihnen scharten sich jetzt um jemanden, der am Boden lag, und traten ihn brutal mit Füßen.

In den wenigen Sekunden, die Kraus brauchte, um sich die Jungs zu schnappen, kündigte sich durch gellende Trillerpfeifen Verstärkung an, sowohl von Seiten der Roten als auch der Braunen. Sie kamen aus allen möglichen Richtungen herangestürmt. Ein ausgewachsener Aufruhr brach los. Stühle flogen durch die Luft, Köpfe bluteten. Auf der Treppe hinauf zur Straße musste Kraus Vicki und die Jungs ans Geländer drücken, als eine kleine Gruppe der Sturmabteilung an ihnen vorbeitrampelte. Ihre braunen Stiefel knallten über die Stufen. Später in der Beckmannstraße hörten sie im Radio, dass die Kämpfe am Wannsee vier Stunden gedauert und sich sogar bis auf die S-Bahn in die Stadt ausgedehnt hatten. Sie waren keinen Moment zu früh verschwunden. Dutzende Menschen waren verletzt worden, darunter auch unschuldige Zuschauer in S-Bahn-Zügen, die sich ja nirgendwo verstecken konnten.

In dieser Nacht träumte Kraus, er und seine Familie wären auf einem Ozeandampfer und führen weit weg, irgendwohin.

Grubers Büro lag im ersten Gebäude auf der rechten Seite, direkt hinter dem Haupteingang in der Eldanerstraße. Die getäfelten Wände waren mit Widmungen und Fotos von Würdenträgern gepflastert, die den Centralvieh- und Schlachthof besucht hatten. Der massige Direktor hatte das schmeichlerische Gehabe abgelegt, das er noch während der Listeria-Krise gezeigt hatte. Offenbar sah er im Moment keinen Anlass mehr für Speichelleckerei.

»Das mag ja alles sein.« Schon der schiefgezogene bleistiftdünne Schnurrbart unterstrich seine Feindseligkeit. Kraus war für ihn ein Spielverderber, der den Ruf seiner geliebten Institution beschmutzen wollte ... und zwar mit einer Bande von Kriminellen, gegen die Jack the Ripper ein richtiges Herzchen gewesen war. »Ich fürchte, wir haben nichts Neueres als das, was ich Ihnen gegeben habe, Herr Kriminalsekretär. Vielleicht«, er griff zu einer Dose mit Bonbons, »gibt es andere städtische Behörden, die höhere Budgets haben, um ihre Karten und Blaupausen auf dem neuesten Stand halten zu können.«

Gruber reichte Kraus die Dose.

Warum habe ich nicht daran gedacht?, fragte sich Kraus. Die Städtischen Wasserwerke. Er musste sofort gehen. Dort wusste man sicherlich, wo die Zuleitung zu Überlaufkanal Fünf begann.

Er lehnte ein Bonbon ab, änderte dann jedoch seine Meinung, nahm sich eines und bedankte sich beim Herrn Direktor.

Der süße Geschmack von Schokolade lag immer noch auf seinen Lippen, als er in sein Auto stieg. Es war ein schöner, sonniger Markttag, und ein nicht enden wollender Strom von Fahrzeugen fuhr auf den Viehhof und verließ ihn auch wieder. Kraus musste warten, bis eine Lücke im Verkehr ihm erlaubte, zu wenden, damit er aus dem Viehhof herausfahren konnte. Plötzlich erstarrte er. Ein Lieferwagen, der durch den Haupteingang fuhr, kam ihm irgendwie bekannt vor. Er war schwarz und hatte keine Kennzeichen. Er kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, wer hinter dem Steuer saß, aber die Sonne blendete ihn. Schließlich schirmte er seine Augen mit der Hand ab. Was er sah, ließ seinen Magen zusammenkrampfen. Er war es.

Axel. Der Ochse.

Einen Augenblick später begegneten sich ihre Blicke.

Kraus sah, wie Axel sich fragte, wer ihn da anstarrte und ob ihm das Gesicht bekannt vorkam. Ganz offensichtlich las er die Zeitungen ebenso wie jeder andere Berliner und kannte den Kriminalbeamten, der die Jagd auf den Kinderfresser leitete. Ein Ausdruck des Verstehens zuckte über sein Gesicht, das im nächsten Moment zu Stahl zu werden schien. Kraus sah wie in Zeitlupe, wie der Mann mit seinen riesigen Pranken das Steuerrad umklammerte und mit aller Kraft daran riss. Dann beobachtete er, wie der schwarze Lieferwagen aus der Spur ausscherte. Wie ein Projektil nahm er Fahrt auf und ... zielte direkt auf ihn – auf Kraus.

Mein Gott! Der Kerl ist wahnsinnig, dachte Kraus. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

Außerdem versucht er, mich umzubringen.

Unmittelbar vor dem Aufprall sah Kraus die wütend aufgerissenen Augen, die ihn immer noch anstarrten. Er trat das Gaspedal durch, und der Opel fädelte sich mit einem Satz und keine Sekunde zu früh in den Verkehr ein. Der schwarze Lieferwagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen und hätte fast einen Hydranten gerammt. Kraus beobachtete im Rückspiegel, wie der Lieferwagen wendete und ihn verfolgte. Er war nur einige Fahrzeuge hinter ihm.

Das ist ja lächerlich, sagte er sich. Eigentlich sollte ich ihn jagen.

An der ersten Kreuzung bog er rechts ab. Er wollte den Mann abschütteln, wenden und den Spieß umdrehen. Aber Axel blieb ihm auf den Fersen. Schon bald steckten sie beide in dem Verkehr fest, der aus dem Viehmarkt kam. Bei einer Machtprobe zu Fuß hatte Kraus eine Chance, davon war er überzeugt, selbst bei einem Mann von Axels Größe. Der Franzose, den er bei Passchendaele bezwungen hatte, war ebenfalls nicht gerade klein gewesen. Aber er brauchte ein paar Sekunden, um sich richtig zu positionieren, und im Augenblick hatte Axel den Vorteil des Schwungs. Bis Kraus einen Weg fand, den Spieß umzudrehen, blieb ihm keine andere Wahl, als vor diesem Wahnsinnigen zu fliehen.

Die Bedingungen waren nicht gerade günstig. Der Lieferwagen war zweimal so groß wie sein Opel und besaß auch ganz offensichtlich mehr Pferdestärken. Obwohl Kraus so schnell fuhr, wie er es in diesem Verkehr wagte, war der Ochse, wie Kraus beim nächsten Blick in den Spiegel sah, nur noch einen Wagen hinter ihm. Wegen seiner Größe war der Opel im Moment wenigstens besser zu manövrieren, so dass er einem Bierwagen ausweichen konnte, während Axels Kotflügel ein Holzfass erwischte und es wie einen Torpedo durch die Luft sausen ließ. Kraus grinste, doch dann blickte er wieder auf die Straße und sah einen hoch beladenen Heuwagen vor sich ... viel zu nah. Er drückte auf die Hupe und wich nach links aus. Dort war nur ein Motorroller im Weg, und eine Sekunde später prasselte eine Fuhre Heu auf sein Auto. Er musste die Scheibenwischer einschalten und betete, dass er sehen konnte.

Er erinnerte sich daran, dass Gruber geprahlt hatte, der Viehhof verfüge über seine eigene Feuerwehr. Was er offenbar nicht hatte, war eine eigene Polizei. Denn niemand versuchte dieser Verfolgungsjagd Einhalt zu gebieten. Leute sprangen vor ihm rechts und links zur Seite, schrien und drohten mit den Fäusten oder hupten, wenn sie auswichen. Trotzdem ging die Jagd weiter.

Kraus bog hastig in eine Gasse ein und hoffte, dass sie zu schmal für den Lieferwagen wäre. Doch Axel fuhr mit zwei Rädern über den Bürgersteig und verfolgte ihn weiter. Ein Mann versuchte, die Gasse zu überqueren und hielt etwas in der Hand, das wie Luftballons aussah. Kraus wusste, dass es Kuhdärme waren, die zum Trocknen aufgeblasen worden waren. Der arme Kerl wusste nicht genau, ob er zurücklaufen oder vorwärtsstürmen sollte, geriet in Panik und ließ alles los. Die Därme schwebten davon wie Seifenblasen.

Axel war nun direkt hinter Kraus und näherte sich ihm mit wahnsinniger Wut. Kraus fuhr so schnell er konnte, aber der Opel gab nicht mehr her. Sein Herz verkrampfte sich, als er diese wahnsinnig glühenden Augen im Rückspiegel sah, die immer näher zu kommen schienen. Vergeblich steuerte er nach links und rechts, um seinen Verfolger abzuschütteln. Plötzlich ging ein Ruck durch den Opel, und er musste die Ellbogen gegen das Lenkrad klemmen und sich zurückbeugen, damit sein Kopf nicht gegen die Windschutzscheibe krachte. Dieser Wahnsinnige hatte ihn gerammt!

Ein paar Sekunden später knallte es erneut.

Der einzige Ausweg schien der Tunnel links von ihm zu sein. Kraus riss am Lenkrad und fuhr schleudernd ins Dunkel.

Mein Gott! Er keuchte, als er sah, was ihn erwartete. Ein Meer aus weißen Schafen drängte sich im Tunnelgang. Er hatte nicht einmal mehr die Zeit zu bremsen. Er verkrampfte sich und erwartete, den Aufprall ihrer wollenen Körper zu spüren und das Blut auf der Windschutzscheibe zu sehen. Aber sie teilten sich auf wundersame Weise, wie einst das Rote Meer, und erlaubten ihm hindurchzufahren. Axels Lieferwagen jedoch war doppelt so groß wie sein Opel und ihm widerfuhr nicht dieselbe Gnade. Kraus hörte das laute Blöken und zuckte zusammen, als er im Rückspiegel verfolgte, wie Schafe rechts und links gegen die Wand des Tunnels geschleudert oder zerquetscht wurden.

Als er schließlich wieder aus der Dunkelheit ins Sonnenlicht kam, wuchs sein Mut. Er brauchte nur die Zone hinter Schlachthaus sieben zu erreichen. Dort hatte er ein Dutzend Männer rund um die Knochengasse stationiert. Wenn es ihm gelang, Axel irgendwie in ihre Mitte zu locken, konnte er diesen Hundesohn möglicherweise zur Strecke bringen. Und wenn er ihn erst mal geschnappt hatte, würde er seine beiden entzückenden Schwestern ebenfalls bald in seiner Gewalt haben. Und dann konnte er sich endlich vor den Kommissar stellen und ihm, der Presse und der ganzen verdammten Welt verkünden, dass dieser lange Albtraum endlich vorbei war.

Bedauerlicherweise hatte Kraus nicht einmal das erste Schlachthaus hinter sich gebracht, als ihm klar wurde, dass hier nur einer zur Strecke gebracht werden würde, und zwar er selbst.

Axels blutbespritzer Lieferwagen hatte den Tunnel ebenfalls verlassen und hing wieder an seiner Stoßstange. Und diesmal sah sich Kraus einer Wand aus weißbraunen Rindern gegenüber, die langsam zu Schlachthaus zwei trotteten. Die trägen Tiere würden niemals eine Gasse für ihn bilden. In einem letzten verzweifelten Versuch trat Kraus auf die Bremse und bog nach links ab. Er hatte vor, einfach ein Holztor zu durchbrechen, aber er schaffte es nicht. Axel erwischte ihn am Heck und rammte ihn mit fast fünfzig Kilometern pro Stunde. Kraus verlor bei dem Aufprall kurz das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kam, sah er eine hünenhafte Gestalt, die aus dem Lieferwagen kletterte und auf ihn zukam. Ihre Augen schien zu glühen, und sie hielt in ihren gewaltigen Armen ein Hackebeil, das mindestens einen Meter zwanzig lang sein musste. Kraus kalkulierte, dass es noch etwa drei Sekunden dauern würde, bevor er den Kopf verlor. Die erste Sekunde benutzte er, um nachzusehen, was mit seinem Wagen passiert war: Der Lieferwagen hatte zwar das Heck demoliert, aber die Schnauze sah unversehrt aus. Die zweite Sekunde saß er einfach nur da und beobachtete dieses widerliche Hackebeil, dessen Schneide rasiermesserscharf zu sein schien und das von diesen gewaltigen Armen hochgehoben wurde. Die dritte Sekunde, unmittelbar bevor das Beil ihn spaltete, nutzte er, um mit letzter Kraft die Tür aufzustoßen und sie gegen Axels Bauch zu schmettern.

Der Aufprall war so stark, dass das Monster taumelte, und das verschaffte Kraus genug Zeit, um aus dem Wagen zu springen. Ein kurzer Blick über seine Schulter verriet ihm, dass sein Widersacher zwar taumelte, aber nicht zu Boden gegangen war. Mit schockierender Geschicklichkeit war es Axel gelungen, sein Gleichgewicht zu behalten und seine Axt aufzuheben. Jetzt sah er noch wütender aus.

In seinen sieben Jahren bei der Kriminalpolizei war das schwerlich das erste Mal, dass Kraus um sein Leben gerannt war. Die weißen Sklavenhändler vom Prenzlauer Berg hatten ihm übel zugesetzt. Aber noch nie hatte ihn jemand verfolgt, der so außer sich vor Wut gewesen war. Axel sah aus, als bräuchte er nicht einmal dieses Hackebeil, um jemanden in Stücke zu reißen.

Kraus war in eine Sackgasse gelaufen. An beiden Seiten waren Ziegelmauern und am Ende ein hoher Zaun. Den einzigen möglichen Zufluchtsort bot die Masse der braungefleckten Rinder, die langsam ihrem Untergang entgegentrottete. Plötzlich kamen sie Kraus wie Engel vor, und er warf sich auf sie, übergab sich ihrer Gnade, mischte sich unter sie. Obwohl ihr Gestank ihn entsetzte, war er dankbar für jeden der riesigen, mit Scheiße verschmierten Leiber, vor allem, als er das Hackebeil nur zwei oder drei Rinder hinter sich blitzen sah. Dann trat etwas hart auf seinen Fuß, und eine Sekunde lang fürchtete er schon, dass seine vermeintliche Rettung seinen Untergang bedeuten könnte. Gewaltige Leiber pressten sich von allen Seiten gegen ihn, und Hufe donnerten auf den Boden. Aber eine andere Furcht überwog, denn Kraus sah, dass seine Deckung immer dünner wurde, als die Tiere von einer Reihe von schmal zulaufenden Rampen in kleinere Reihen geteilt wurden.

Es mussten doch irgendwo Menschen sein. Diese Tiere gingen doch nicht freiwillig ins Schlachthaus, oder etwa doch? Kraus umklammerte seine Kripomarke, bereit, den ersten Menschen, den er sah, als Verstärkung zu requirieren. Aber es gab nichts als Rinder, muhende, brüllende, braunäugige Rinder, die die Rampe hinaufpolterten. War einem von ihnen klar, dass sie die letzten Sekunden Sonnenschein auf ihrem Rücken spürten?

Genauso wie er.

Diese Möglichkeit wurde schrecklich real, als einen Augenblick später sein Hals kribbelte. Er spürte Gefahr, wirbelte herum und sah Axel nur einen halben Meter von sich entfernt. Kraus duckte sich, warf sich unter den Bauch des nächsten Rinds, tauchte dann auf der anderen Seite wieder auf und rannte, so schnell er konnte, weiter, bis er allein mit einem besonders großen Rindvieh war, das mit ihm zusammen durch eine Schwingtür stürmte. Sobald sie drin waren, schloss die Tür automatisch und ließ sich auch nicht mehr öffnen, obwohl Axel wie verrückt daran zerrte. Ganz offenbar war der Mechanismus so ausgelegt, dass immer nur ein Tier auf einmal hereingelassen wurde.

Kraus seufzte.

Er hatte jedoch nicht einmal genug Zeit, um Luft zu holen, als zwei Arme aus der Dunkelheit zugriffen, das Rind an den Hörnern packten und einen Harnisch über seinen Kopf warfen. Dadurch wurde dem Tier jegliche Bewegungsfreiheit genommen. Bevor Kraus auch nur ein Wort sagen konnte, krachte dem Rind ein gewaltiger Hammer zwischen die Hörner. Das Rind schrie schrecklich auf, dann riss es alle vier Beine hoch in die Luft, als hätte es plötzlich gelernt zu fliegen. Kraus wurde in eine Ecke geschleudert. Das Rind landete krachend auf dem Bauch, und ein zweites Paar Arme streifte Ketten über dessen Hinterbeine. Ein mechanischer Flaschenzug hob das Rind kopfüber an. Seine braunen Augen blickten immer noch benommen um sich, während es erneut durch die Luft flog, diesmal an einem Förderband aufgehängt.

Mit einem Blick begriff Kraus den Ablauf der Operation.

Die Rinder gingen im Dutzend in diese Verschläge, bekamen einen betäubenden Schlag auf den Schädel, wurden angehoben und leisteten dann ihren Leidensgenossen am Förderband Gesellschaft. Männer in hüfthohen Lederstiefeln warteten bereits auf sie und durchtrennten ihnen mit silbrigen Messern die Kehlen. Diese Männer standen in einer Gischt von rotem Blut und hatten kaum die Zeit, einen Schnitt sauber zu beenden, bevor auch schon die nächste Kehle vor ihnen auftauchte. Sie standen mit den Füßen knöcheltief im Blut. Es strömte durch Entwässerungsgitter, wurde gesammelt und zur Albumin-Fabrik geschafft. Endlich waren die Rinder von ihren Qualen befreit. Ihre Kadaver wurden zu Männern mit langen Gummihandschuhen weitertransportiert, die ihre Leiber aufschnitten und die Organe entnahmen. Anschließend ruckelten sie weiter zu den Häutern, die Haut und Fett abzogen. Ohne auch nur eine Sekunde Pause zu machen, wurden sie dann zu den Schneidemaschinen weitergefahren, den riesigen, gnadenlosen Schlünden des Todes, wo ihre Leiber in Hälften geschnitten wurden. Hier war es so laut, dass man nicht einmal hörte, was einen halben Meter neben einem passierte. Und alles ging so schnell, dass die Arbeiter kaum Zeit hatten, sich auf irgendetwas anderes als ihre Aufgabe zu konzentrieren.

Weshalb auch niemand bemerkte, dass Kraus überhaupt hier war.

»Schlachthaus, Bierhalle, Bordell, Bett«, hatte Gruber aufgezählt, daran konnte Kraus sich erinnern. »Mehr kennen diese Männer nicht, Kraus.«

Als jetzt das Rind, mit dem Kraus in den Verschlag getreten war, seinem Schicksal entgegenruckelte, öffnete sich das Tor und ließ nicht nur ein weiteres Rind ein, sondern auch Axel. Jetzt war es an Kraus, sich seinem Schicksal zu stellen. Es war sinnlos, nach Hilfe zu rufen. Er würde diesen Kerl zur Strecke bringen müssen, genauso wie diese Tiere erledigt wurden. Axels glühende Wut hatte nicht nachgelassen. Falls das überhaupt möglich war, schien er noch aufgebrachter zu sein und sprang um das Rind herum, als es den betäubenden Schlag mit dem Hammer erhielt.

Als das Tier krachend auf dem Boden landete, hatte er Kraus erreicht und hob sein Beil, ohne darauf zu achten, ob irgendjemand zusah. Kraus dachte unwillkürlich an Freksa, der in zwei Hälften gehackt worden war, während er die Schultern einzog und sich über den Boden rollte. Das Hackebeil grub sich, nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt, in die Schiefersteine. Seine Jacke und seine Hose waren von Blut getränkt, aber Gott sei Dank war es nicht sein eigenes.

Außerdem war er jetzt dort, wo er sein musste: hinter Axel.

Jetzt hatte er eine Chance.

Kraus wich zurück, sah seinem Widersacher ins Gesicht und lockte ihn mit einer Grimasse zum Angriff, während er sich suchend nach etwas umsah, mit dem er seinen Vorteil ausnutzen konnte. Als ein durchdringender Pfiff in seinen Ohren gellte, hätte er vor Freude schreien mögen. Endlich. Jemand musste bemerkt haben, was hier passierte, und hatte Alarm gegeben. Doch nein. Als er weiter zurückwich und seine blutdurchtränkten Schuhe vor Nässe quietschten, begriff er, dass die Maschinen allmählich zur Ruhe kamen und die Arbeiter hinausgingen.

Das war kein Alarm. Es war Mittagspause.

Feixend verzog Axel das Gesicht.

Er hob das Hackebeil und griff an.

Kraus packte zwei große Metallhaken, die an dem Förderband über seinem Kopf befestigt waren und sprang, zog die Beine an und rammte dann mit voller Wucht seine Füße gegen Axels Brust. Der Aufprall schleuderte den Mann zurück; er rutschte auf dem blutgetränkten Boden aus und stürzte. Als Kraus ihn angriff, um die Gelegenheit zu nutzen, rutschte er jedoch ebenfalls weg, so dass sie jetzt beide auf dem Boden lagen.

Axel erhob sich als Erster; er sah aus, als würde er von den Toten auferstehen, vollkommen mit Blut bedeckt, während er sich Kraus langsam mit seinem Beil näherte. Kraus blickte hoch, in das wütende Gesicht seines Widersachers, und überlegte, ob er sich nach links oder nach rechts rollen sollte. Doch Axel rutschte erneut weg, als er angriff, sein Beil flog durch die Luft, und er selbst brach wie eines der betäubten Rinder zusammen, direkt auf Kraus. Sekunden später versuchte er mit seinen vom Blut glitschigen Händen Kraus’ Kehle zu packen.

Kraus bemühte sich verzweifelt, dem Griff zu entgehen, und es gelang ihm, weiter zu atmen. Aber die Kraft dieses Ungetüms war unerbittlich. Kraus merkte, wie sich Axels Augen in seine bohrten. Sie waren beide in einem Kampf verschlungen, der nur einen Ausgang haben konnte.

Aus dem tiefsten Grund seiner Seele grub Kraus seine letzte Hoffnung aus.

»Nutzloses Monster«, krächzte er unter Axels Würgegriff. »Hast mir den Kopf abgeschnitten und ihn auf einen Baum gepflanzt, stimmt’s?«

Was war noch gleich das Einzige, das Axel jemals wirklich gefürchtet hatte?

»Dafür kommst du in den Keller. Und wenn du heulst, ziehe ich dir die Haut bei lebendigem Leib ab und fresse dich ...«

Axel erstarrte, wie betäubt, als er hörte, dass jemand seinen schon so lange toten Vater beschwor. In seiner Verwirrung lockerte er seinen Griff so weit, dass Kraus einen schnellen Schlag gegen seine Gurgel führen konnte. Die Bestie wich zurück und keuchte.

Kraus pumpte schwer atmend Luft in seine schmerzenden Lungen und sah sich hastig um. Etliche blutbefleckte Hämmer lehnten an der Wand. Er spannte sich an, glitt unter Axel hervor und griff mit aller Kraft zu. Es gelang ihm, einen Hammer zu erwischen und sich vom Boden hochzuziehen.

Dann standen er und Axel sich gegenüber, und beide keuchten heftig. Aber Kraus war im Vorteil, denn Axel hatte sein Beil verloren. Kraus wog den schweren Hammer vorsichtig und hielt ihn schräg, um einen strategischen Schlag zu führen. Axel taumelte müde zurück und stieß dabei aus Versehen mit dem Ellbogen an ein Steuerpult. Die Maschine sprang an. Axel ignorierte das mechanische Klappern, dessen Lautstärke anschwoll, während er sich darauf vorbereitete, den Schlag des Hammers abzufangen. Kraus wusste, dass er nur eine Chance hatte: Er musste einen tödlichen Schlag führen, sonst würde sein eigener Kopf zu Brei zermalmt werden. Axels gewaltige Hände waren halb erhoben und kampfbereit, seine Augen traten hervor, schwarz vor Hass. Er stemmte ein Bein nach hinten, um einen festeren Stand zu haben, aber dabei landete sein Fuß in einer der Kettenschlaufen, mit denen die Rinder angehoben wurden. Dadurch setzte er den Mechanismus automatisch in Gang. Er kreischte, als sein gewaltiger Körper an den Beinen hochgerissen wurde und er von dem Förderband ruckelnd weiter transportiert wurde.

Kraus’ Kehle brannte immer noch. Er war kaum in der Lage, sich auf den Beinen zu halten. Er taumelte zu dem Steuerpult, konnte sich jedoch nicht auf die winzigen Schalter und Lampen konzentrieren. Welchen hatte Axel wohl betätigt?

»Um Gottes willen!« Axel streckte seine riesigen Arme aus.

Er glitt geradewegs auf den Schlund des Todes zu.

Verzweifelt suchte Kraus nach dem Hauptschalter.

Axel weinte. »Nein, Vati! Nicht!«

Kraus fand den Schalter und riss mit aller Kraft daran.

Die gigantische Säge kam kreischend zum Stehen.

Aber erst nachdem ein grauenvoller Schrei ertönt war, gefolgt vom unüberhörbaren Knirschen brechender Rippen.