NEUNZEHN

»Wie sieht’s aus, Kraus?«, schrien die Reporter, die sich vor dem Eingang des Polizeipräsidiums drängten, als er herauskam. Es war fast achtzehn Uhr, aber immer noch brannte die Sonne glühend heiß auf den Alex herunter. Die Glaskuppel auf dem Kaufhaus Tietz schimmerte wie eine Luftspiegelung. Kraus fiel auf, wie feucht die Gesichter der Reporter von Schweiß und Anspannung waren. Wie er sich nach dem Tag sehnte, an dem er hier heraustreten und ihnen endlich sagen konnte, was sie und die ganze Stadt so sehnlichst hören wollten!

»Heute gibt es nichts Neues, Leute«, erklärte er stattdessen. »Ihr wisst, dass ich euch sofort informiere, wenn ich etwas habe.«

»Wir dachten, die Waisenhäuser würden bewacht!«, schrie Wörner von der Abendzeitung, als Kraus sich gerade abwenden wollte. »Wie viele Kinder müssen denn noch sterben, Kraus?«

Der Kriminalsekretär ignorierte ihn und ging weiter. Aber die Frage traf ihn wie ein Geschoss. Als würde er sich das nicht selbst jede Stunde des Tages fragen! Jedes weitere entführte Kind war die reine Folter für ihn. Er konnte sich schon die Schlagzeilen auf den Zeitungen am Kiosk um die Ecke ausmalen: ZWEI WEITERE KINDER AUS WAISENHAUS TREPTOW VERSCHWUNDEN. Es war widerlich. Er mochte dem Mörder dichter auf der Spur sein, als Freksa ihm je gekommen war, und er wusste auch, nach wem er suchte. Doch in seinem Beruf war so etwas wie dicht auf der Spur einfach nur ein Haufen Mist.

»Tut mir leid.« Wörner lief an ihm vorbei und sprang auf die Plattform einer vorbeifahrenden Tram. »Ist nichts Persönliches, Willi, das wissen Sie. Sie sind der beste Mann, den die Mordkommission hat. Aber Beruf ist nun mal Beruf.«

»Ja, klar.« Kraus raffte sich zu einem Lächeln auf.

Es herrschte dichter Verkehr, und auch die Bürgersteige waren überfüllt von Menschen. Statt mit Werbung für Zahnpasta und Filme waren die Litfasssäulen jetzt mit Wahlkampfplakaten bepflastert, vor allem Hammer und Sichel der Kommunisten und Fotos von Hitler waren zu sehen. Dessen Konterfei erinnerte Kraus an jenen verrückten Mob im Sportpalast in der Nacht zuvor, und erneut überlief ihn ein Frösteln.

Erst vorhin noch hatte er mitgehört, wie Müller und Stoss den jungen Gunther im Flur aufgezogen hatten, weil er für einen Juden arbeitete.

»Schon mal in deine Brieftasche geschaut, bevor du nach Hause gehst, Junge? Vielleicht durchwühlt er ja deine Taschen.«

Gunther hatte zwar nicht mitgelacht, aber er hatte Kraus auch nicht verteidigt.

»Herr Kriminalsekretär!« Kai tauchte unvermittelt aus dem dunklen Türeingang des Pelzgeschäftes auf. Der Laden war leer, die Besitzer hatten aufgegeben.

»Sie müssen mitkommen, bitte.« Kraus bemerkte, dass das Gesicht des Jungen unter dem Lippenstift und dem Make-up kalkweiß war.

Der Junge führte ihn zur Ecke Leipziger und Charlottenstraße, im Herzen von Berlins Einkaufsviertel, und in ein teures Lederwarengeschäft. Kraus war einmal mit Vicki hier gewesen, als er nach einer Aktentasche gesucht hatte. Leder Schröder. Er sah sofort die anderen Jungs von Kais Bande, die sich um eine Vitrine drängten. Obwohl sie sich ruhig verhielten, hätten ihre bunten Federn und Ohrringe in der dezenten Einrichtung kaum stärker auffallen können.

»Sie sind also der Kriminalbeamte.« Eine Frau mit kurzen Haaren, einem langen schwarzen Kleid und einer Perlenkette senkte den Kopf, als wollte sie ihn auf die Hörner nehmen. »Schaffen Sie diese Kreaturen aus meinem Geschäft! Haben Sie eine Ahnung, wie viele Kunden bereits gegangen sind, weil sie ...?«

»Schon gut, gnädige Frau.« Kraus hob eine Hand. »Es dauert nur eine Minute. Also, Kai, welche ist es?«

Der Junge deutete auf eine Vitrine mit kleinen, hellbraunen Handtaschen, deren Verschluss aus Elfenbein gefertigt zu sein schien. Sie waren teuer, wie Kraus sah. Fünfundsiebzig Reichsmark. Wahrscheinlich würde nicht einmal Vickis Mutter so viel Geld dafür ausgeben. Jedes einzelne dieser Täschchen, in denen schwerlich mehr als drei oder vier Gegenstände Platz fanden, war offensichtlich handgefertigt, und auf jeder fand sich eine besondere Insignie im Leder. Auf einer prangte ein schwarzer Ritter, auf einer anderen ein springender Löwe. Und auf einer dritten ... Kraus stockte der Atem als er es sah.

Genau wie Kai beschrieben hatte – ein kleiner, roter Indianerkopf, wie derjenige auf der Tasche im Schaufenster, der überhaupt erst die Aufmerksamkeit der Jungen erregt hatte. Sie schoben ihre Ärmel hoch und zeigten Kraus ihre Schultern. Sie alle trugen dieselbe Tätowierung.

Wer ein Roter Apache sein wollte, musste so eine Tätowierung haben.

Jede Bande der Wilden Jungs hatte ihre eigene Tätowierung. Die Schwarzen Ritter. Den Springenden Löwen.

»Es i... i...st eind... d... eindeutig Manfreds T... T... Tätowierung«, stammelte ein Junge mit einem gebrochenen Zahn. »Das w... w... weiß ich, weil ich sie ihm selbst ge... ge... gemacht habe.« Er hickste und unterdrückte seine Tränen. »Ich b... b... bin bei der letzten Feder abg... g... gerutscht und habe eine w... w... winzige Linie gezogen. Sehen Sie hier, Herr K... K... Kriminalsekretär.«

Kraus beugte sich hinunter und konzentrierte sich auf die letzte Feder. Da war es ...

»Manfred ist letztes Jahr verschwunden.« Kais pinkfarben geschminkte Lippen zitterten. »Das ist er, Kriminalsekretär.«

»Das ist einfach lächerlich.« Das Gesicht der Frau, die sich als Frau Schröder persönlich herausstellte, leuchtete in einem dunkleren Rot als dieser Indianerkopf.

»Gnädige Frau!«, stieß Kraus schließlich heiser heraus, »ich muss Sie leider auffordern, Ihr Geschäft augenblicklich zu schließen.«

Innerhalb einer Stunde war Dr. Hoffnung mit dem mobilen kriminaltechnischen Labor vor Ort. Die Jungs von den Roten Apachen mussten draußen warten. Nachdem Kraus Gunther ebenfalls schleunigst herbestellt hatte, vernahm er Frau Schröder in ihrem Büro im hinteren Teil des Geschäftes.

»Ich habe die Ware von einem Ihrer eigenen Leute, Herr Kriminalsekretär.« Sie versuchte ihre Angst zu bewältigen, indem sie ihm einen Sündenbock präsentierte. »Natürlich weiß ich, von wem. Ich habe die Rechnung hier im Kontobuch. Ich führe ein ordentliches Geschäft, was glauben Sie denn?«

Sie öffnete einen Aktenschrank und fing an, ihn zu durchwühlen.

»›Eine seltene Gelegenheit. Nur ganz wenige Exemplare‹, hat er mir erzählt. ›Alle handgemacht. Und von bester Qualität.‹ Das habe ich natürlich selbst auf den ersten Blick gesehen. Zufällig habe ich ein ausgesprochen scharfes Auge. Und da er mir die Ware exklusiv anbot, habe ich den ganzen Posten genommen, fünfundzwanzig Stück. In den letzten zwei Monaten habe ich bereits vier davon verkauft, was unter dem Strich gesehen gar nicht so schlecht ist. Die Leute sind davon fasziniert. Hier in Berlin herrscht starke Konkurrenz, bei so vielen eleganten Geschäften und den großen jüdischen Kauf ... Ah, da ist es ja. ›Grenadierstraße 139. Schmuel Markoweitsch. Feine Lederwaren.‹«

Ein leises Klopfen unterbrach sie. Hoffnung stand an der Tür. Er sah elend aus.

Die Taschen waren tatsächlich aus Menschenhaut gemacht.

Und die Verschlüsse waren nicht aus Elfenbein gefertigt. Sondern aus menschlichen Knochen.

Nur einen Steinwurf nördlich vom Alexanderplatz lag das kleine, überfüllte Scheunenviertel, in dem Berlins Ostjuden lebten, Juden, die vor den Kämpfen und den Pogromen in Russland oder der Ukraine Zuflucht in Deutschland gesucht hatten, viele von ihnen illegal. Durch das Herz dieses unordentlichen, bunten, von wimmelndem Leben erfüllten Elendsviertels verlief die Grenadierstraße. Sobald man sie betrat, hatte man den Eindruck, nach Bialystok oder Minsk versetzt worden zu sein. Auf den Trottoirs drängten sich bärtige Männer mit langen schwarzen Mänteln, die Schilder an den Geschäften waren mit hebräischen Zeichen beschriftet, und der Duft nach süßen Zwiebeln wehte aus den Teeläden. Der große blonde Gunther klebte förmlich an Kraus’ Seite und machte ein Gesicht, als wäre er gerade auf einem anderen Planeten gestrandet.

Es dämmerte bereits, und die meisten Geschäfte waren geschlossen. Barfüßige Kinder spielten auf der Straße, Erwachsene hockten auf Treppenstufen, lehnten sich aus den Fenstern oder standen in kleinen Gruppen auf den Bürgersteigen zusammen. Kraus klingelte an der Tür der Hausnummer 139, bei Markoweitsch Feine Lederwaren, aber niemand öffnete. Schließlich steckte eine Frau ihren Kopf aus einem der Fenster im Obergeschoss. »Vas?«

Kraus verstand ein bisschen Jiddisch, die Sprache der Ostjuden, weil die Eltern seines Vaters sie gesprochen hatten. Aber er hatte nicht einmal die Chance, zu antworten, weil die Person mit dem Kopftuch intuitiv anzunehmen schien, dass er nicht jemand war, den Markoweitsch sehen wollte.

»Gevalt!« Sie schlug das Fenster zu.

»Warten Sie hier, Gunther. Und lassen Sie niemanden rein oder raus. Ich gehe auf die Rückseite.«

»Jawohl, Herr Kriminalsekretär! Aber, Herr Kriminal ...?«

»Was ist denn?«

»Wenn jetzt jemand versucht, mir irgendetwas zu verkaufen?«

Trotz des Ernstes der Lage musste Kraus unwillkürlich schallend lachen, als er die fast kindliche Furcht auf Gunthers Gesicht sah. »Wenn Sie nicht hundertprozentig davon überzeugt sind, dass Sie es um die Ecke nicht doch noch billiger bekommen können«, er drohte dem Jungen ironisch mit einem Finger, »dann kaufen Sie es ja nicht.«

Beinahe jedes Gebäude in Berlin war um einen Hinterhof herum gebaut. Bei einigen gab es sogar Höfe hinter diesen Hinterhöfen. Und etliche davon hatten Hinterhöfe hinter Hinterhöfen hinter Hinterhöfen; die Grenadierstraße 139 war eine solche Mietskaserne. Kraus folgte seinem Instinkt, während er immer tiefer in das Gewirr von gepflasterten Gassen eindrang, die auf gepflasterte Höfe führten, bis er sich schließlich von seinem Gehör leiten ließ. Aus den Wohnungen drang eine Symphonie von klapperndem Geschirr und streitenden Familienmitgliedern. Schon bald jedoch hörte er Geräusche, die, da war er sich sicher, Gesang sein sollten. Und zwar nicht einfach nur Gesang, sondern eine Litanei. Ein Gottesdienst. Er erkannte sogar das Lied. »Adon Olam.« Herr des Universums. Es drang aus dem letzten Hof des Gebäudes, aus einer Tür, über die ein kleines Schild mit hebräischen Buchstaben befestigt war. Wie die meisten jüdischen Jungen hatte Kraus seine Bar Mitzwa mit dreizehn Jahren gefeiert und zermarterte sich jetzt den Kopf, um die Zeichen zu entziffern. M-A-R ...

Plötzlich endete das Lied mit einem lauten »A-men«, und die Tür flog auf. Ein blasses, bärtiges Gesicht unter einem weißen Gebetsschal tauchte auf und starrte Kraus an. Der Raum hinter dem Mann war mit weiteren blassen Gesichtern unter weißen Schals gefüllt. Ganz offenbar wussten sie bereits, dass Kraus kam.

»Wer ist Markoweitsch?« Kraus strapazierte sein Jiddisch und zückte seine Dienstmarke.

Er hätte auch ein Gespenst aus einer anderen Dimension sein können, ihren vollkommen fassungslosen Miene nach zu urteilen. Ein Polizist, der Jiddisch sprach? Ein Bär von einem Mann in den Vierzigern zog sich den Schal vom Kopf und trat vor, halb erstaunt und halb verängstigt.

»Ich habe Papiere, mein Herr.«

»Die interessieren mich nicht.« Kraus rettete sich wieder ins Deutsche. »Ich interessiere mich ausschließlich für Ihr Geschäft.«

Jetzt war Markoweitsch wirklich erstaunt. »Sie sind hier, weil Sie etwas kaufen wollen?«

Eine halbe Stunde später saßen sie in seiner Wohnung über dem Geschäft und Gunther akzeptierte eine zweite Portion Honigkuchen von der Ehefrau mit dem Kopftuch.

»Niemals«, behauptete Markoweitsch bei einem Glas heißen Tee. »Glauben Sie mir, ich hätte es gemerkt. Er hat mich direkt hier auf der Grenadierstraße neben seinem Lieferwagen angesprochen. Und mir diese Taschen gezeigt. Ich war sicher, dass sie gestohlen waren. Aber nein. Er schwor auf die Bibel, dass seine Schwester sie hergestellt hätte, hier in Berlin. Zwei Jahre hätte sie hart daran gearbeitet, so sagte er. Wie hätte ich widerstehen können? Die Ware war ausgezeichnet. Also ging ich ins Geschäft, holte Bargeld und zahlte ihn auf der Stelle aus, zweihundert Reichsmark für fünfundzwanzig Stück. Sobald er weg war, schleppte ich die Taschen direkt zu Schröder. Ich kenne meine Kunden. Sie hat sich auf die Taschen gestürzt wie ein Schwein auf gefilte Makrele. Denn sie sind wirklich einzigartig. Solche Taschen sehen Sie nicht überall, Herr Kriminalsekretär. Sie hat mir fünfhundert Reichsmark bezahlt. Und sie wird einen netten Profit machen, wenn das Geschäft erst mal anläuft.«

»Sie haben den Verkäufer wohl nicht gefragt, woraus die Taschen gemacht sind?«

»Woraus sie gemacht sind? Wie, es ist kein Kalbsleder?«

»Ich nehme an, Sie haben keine Quittung?«

»Quittung?«

»Oder eine Visitenkarte, irgendeine Möglichkeit, wie wir den Verkäufer ausfindig machen können?«

»Das war ein Bargeschäft auf der Straße, Herr Kriminalsekretär. So etwas kommt in diesem Viertel nicht gerade selten vor, wie Sie ja wohl wissen dürften.«

»Er war kahlköpfig, sagen Sie? Und ungewöhnlich groß?«

»Groß wie ein Golem. Ein wahrer Gigant. Sagen Sie mir, hat er etwas Schlimmes verbrochen?«

Nur, wenn man das Entführen und Vergasen von Kindern, den Verkauf ihres Fleisches und die Verwendung ihrer Haut und ihrer Knochen für die Herstellung von Handtaschen als schlimm bezeichnet, dachte Kraus, sagte jedoch lieber nichts. Immerhin rückte er dem Täter allmählich auf die Pelle. Ein Lieferwagen ohne Nummernschilder. Ein Mann so groß wie ein Gigant.

Mit Armen, die so kräftig waren, dass er einen Mann mit einem einzigen Schlag betäuben, ihn in wenigen Sekunden hochheben, ihn mit den Füßen an einen Fleischhaken hängen und mit einem Hackebeil in zwei Hälften zerteilen konnte.

Beim Anblick der roten Indianer-Tätowierung war Kraus sofort eingefallen, woher er sie kannte oder wo er zumindest etwas sehr Ähnliches gesehen hatte. Bei Helga. Er und Gunther gingen von Markoweitsch direkt dorthin. In der Villa an der Bleibtreustraße war zwar alles dunkel, aber er hörte merkwürdige Geräusche aus dem Inneren. Er musste mehrere Minuten lang an die Tür hämmern, bevor der Mann im roten Turban schließlich öffnete. Als Kraus seine Marke zeigte, lächelte Zoltan, als wären sie beste Freunde.

»Aber, Herr Kriminalsekretär, sie meditiert. Sie wollen doch nicht ihre Vereinigung mit ...«

»Und ob ich das will.« Kraus schob sich an dem Turban vorbei, und Gunther folgte ihm auf dem Fuß.

Drinnen war der Lärm deutlicher zu hören. Er kam aus dem Untergeschoss. Es hörte sich an wie erstickte Schreie.

»O nein, Herr Kriminalsekretär, Sie ...«

Kraus öffnete mit einem Ruck eine Tür und stand auf dem oberen Absatz einer langen, dunklen Treppe. Das Geschrei nahm sofort erheblich an Lautstärke zu. Und soweit er unterscheiden konnte, handelte es sich um mehrere Stimmen. Aber sie klangen merkwürdig gedämpft. Ein kleines Schild über seinem Kopf verkündete BESTRAFUNGSZIMMER. Er nahm zwei Stufen auf einmal, dicht gefolgt von Gunther. Das flackernde Licht brennender Fackeln fiel auf die Umrisse von ... Ketten. Von Käfigen. Und von Schandpfählen.

Der brave Gunther hatte heute eine ganze Menge zu sehen bekommen. Jungen mit Make-up. Juden im Kaftan. Er hatte alles mit bewundernswerter Gelassenheit aufgenommen. Aber diesmal stieß er ein hörbares »Mein Gott!« hervor.

Drei Frauen in Schulmädchen-Uniformen waren nebeneinander auf einem Bett gefesselt, reckten ihre nackten Hinterteile in die Luft und hatten ein Tuch im Mund, das ihre Schreie ein wenig dämpfte, während ein Lederpaddel ihnen klatschend die nackten Kehrseiten versohlte. Ihre Pobacken waren geschwollen und leuchteten rot. Die Schläge verabreichte ihnen eine »Rektorin« mit einer schwarzen, dicken Brille und Tweedkostüm. Brigitta.

»Sie!«, schrie sie, als sie Kraus sah. »Was zum Teufel fällt Ihnen ...!«

»Schnauze!« Helga erhob sich von einem Stapel Kissen, auf denen sie offenbar die Show genossen hatte, während sie Kirschen naschte. Sie wischte sich die Finger ab und stolzierte zu ihnen auf silberfarbenen Pumps und in einem hautengen, rückenfreien Gewand. Als sie an Brigitta vorbeikam, gab sie ihr eine schallende Ohrfeige. »Wie oft muss ich es dir noch sagen ... Autorität wird respektiert. Immer. Und jetzt raus. Alle.«

Enttäuscht murrend befreiten sich die Frauen von ihren Fesseln, nahmen sich die Knebel aus dem Mund und trollten sich. Brigitta warf ihre Rektorinnen-Brille aufs Bett und bedachte Kraus mit einem giftigen Blick, bevor sie den drei anderen Frauen folgte. Kraus sah in dem flackernden Licht der Fackeln, dass Helga sichtlich amüsiert war.

»Wir haben uns erst ein bisschen aufgewärmt, Herr Kriminalsekretär. Sie hätten in einer Stunde kommen sollen.« Sie zündete sich eine Zigarette an und betrachtete ihn mit erhobenen Brauen. »Sie sind jederzeit willkommen. Ja, warum eigentlich nicht? Bringen Sie Ihr kleines Dämchen ruhig mit.« Sie blies Gunther den Rauch ins Gesicht. »Was bist du denn für ein hübscher Bursche? Und wie groß er ist ...«

»Das ist unwichtig«, unterbrach Kraus sie, als er sah, wie Gunthers Gesicht noch leuchtender rot aufflammte als die malträtierten Gesäße der Damen. »Hinauf mit Ihnen und zwar sofort.«

Helga saß in dem ganz in Chrom und Leder eingerichteten Raum, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren, an ihrem Frisiertisch und verdrehte genervt die Augen. Sie machte das Beste aus der Situation, nahm ihren silbernen Kamm und frischte ihre Frisur in dem dreiflügeligen Spiegel ein wenig auf.

Gunther schwitzte und zückte Notizbuch samt Bleistift.

»Beschreiben Sie mir Ilses Aussehen«, forderte Kraus sie auf.

»Dürr und hässlich.« Helga seufzte, glättete ihre platinblonden Wellen und schien es sich dann anders zu überlegen. »Nein, eigentlich war sie nicht wirklich hässlich.« Sie kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Ihre Gesichtszüge waren ganz in Ordnung. Sie besaß sogar einen gewissen Charme. Aber diese Haut.« Sie ließ den Kamm sinken und drehte sich zu Kraus herum. »Ich habe vermutet, dass sie als Kind schreckliche Akne gehabt haben muss, aber man bekam aus Ilse ja nie irgendetwas heraus. Ich habe ihr schließlich gezeigt, wie sie die Narben mit einer guten Creme überdecken konnte. Und mit dem richtigen Lippenstift und etwas Mascara ... Mein Gott, was starren Sie da eigentlich die ganze Zeit an, Herr Kriminalsekretär?«

»Ihre Schreibtischlampe.«

Kraus sah, wie das Blut aus Helgas Wangen wich. »Warum?« Sie drückte ihre Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. »Was ist daran so faszinierend?«

Von seinen Rundgängen in den Salzereien wusste er, wie viele verschiedene Ledertypen man herstellen konnte. Eine einzelne Kuhhaut konnte hart und fest gemacht werden, damit man sie für Schuhsohlen verwenden konnte, oder weich und geschmeidig, für Jacken und Handschuhe. Man konnte sie in jedem beliebigen Farbton färben oder sie so dünn schneiden, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Den Unterschied machte nur, mit welchen Chemikalien man sie behandelte oder wie man sie färbte.

»Dieser kleine rote Indianerkopf ist wirklich sehr ungewöhnlich. Aus was besteht dieser Lampenschirm?«

»Woher soll ich das wissen?« Helga stieß den Rauch durch die Nase, als sie endlich die Lampe eines Blickes würdigte. »Sie spendet ein sehr schönes, diffuses Licht, das ist das Einzige, was mich kümmert. Sie verleiht meinem Teint eine gesunde ...«

»Es ist Menschenhaut, Helga.«

Die Zigarette fiel ihr aus dem Mund und auf den Boden. »Was?«

»Woher haben Sie die Lampe?«

»Von ihr!« Helga tastete blindlings mit der Hand nach ihrer Zigarette. »Vor vier oder fünf Jahren. Es war ein Weihnachtsgeschenk.«

Während Kraus zusah, wie sie nach der Zigarette suchte, und der Teppich allmählich zu schwelen begann, fielen erneut Puzzleteile in seinem Kopf zusammen.

Ochse und Hirtin steckten in dieser Sache unter einer Decke.